Die deutsch-polnische Geometrie

Die Parlaments- und Präsidentenwahlen in Polen waren Gelegenheit, nationale Ressentiments zu bedienen. Das belastet die deutsch-polnische Nachbarschaft. Doch das Verhältnis beider Staaten wird auch diese Bewährungsprobe überstehen

Vielleicht zum ersten Mal in jüngerer Zeit berichteten die deutschen Medien ausführlich über Ereignisse im Nachbarland Polen. Und das zu Recht, denn gewählt wurde gleich dreifach. Bei den Sejmwahlen Ende September setzte sich die nationalkonservative Rechtsstaatspartei PiS mit 27 Prozent der Stimmen durch, dicht gefolgt von der liberalen Bürgerplattform (PO), die etwas mehr als ein Viertel aller Wähler überzeugen konnte. Einen wahren Erdrutschsieg sicherte sich die politische Rechte im polnischen Oberhaus, dem Senat, wo nur noch fast jeder zehnte Abgeordnete aus dem gegnerischen, populistischen beziehungsweise postkommunistischen Lager stammt. Die polnische Politszene besitzt damit die wohl spannendste und mobilste Parteienlandschaft in Mitteleuropa, denn die bis dato regierende Linkspartei SLD, vor vier Jahren noch überlegener Wahlsieger mit beinahe absoluter Mehrheit, brachte es im Sejm nur noch auf bescheidene 11 Prozent der Sitze. Das einzige Manko des polnischen Parteienthrillers: eine durch Korruptionsaffären und leere Versprechungen ausgelöste Politikverdrossenheit, die zu einer Wahlbeteiligung von gerade einmal 40 Prozent führte.

Nicht viel anders endeten die Präsidentschaftswahlen im Oktober. Im ersten Wahlgang verwiesen PO-Kandidat Donald Tusk und PiS-Gründer Lech Kaczynski ihre Mitstreiter mit Ergebnissen um die 35 Prozent auf die Plätze und lieferten sich in den darauf folgenden Wochen einen erbitterten Zweikampf. Letztlich konnte der bisherige Warschauer Bürgermeister Kaczynski mit seinen Themen Staatsumbau und sozialer Zusammenhalt die leichtfüßigere Zukunftsrhetorik seines Gegners überbieten und das Präsidentenamt für die PiS sichern. Trotz einer gewissen politischen Nähe – beide Spitzenkandidaten entstammen der Solidarnosc-Bewegung und kritisierten vehement die scheidende Linksregierung – ging es im polnischen Wahlmarathon alles andere als schonend zu. Für die größten Kontroversen sorgte dabei die Aussage eines engen Mitarbeiters von Kaczynski, der in einem Zeitungsinterview behauptete, Tusks Großvater sei im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger in die Deutsche Wehrmacht eingerückt.

Geschichtsfälschung und Gaspipeline

Ob Ausrutscher oder gewiefte PR-Strategie: Geschichtsgewandte Aussagen mit Deutschlandbezug haben Fuß gefasst im polnischen Rekordwahljahr 2005. Anders als in Deutschland, wo den nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern nur eine marginale Rolle zukommt, gehören in Warschau Deutschlandfragen für Regierungs- und Präsidentschaftsanwärter zu den ständigen Referenzpunkten. Vor allem die Vertreter der PiS wählten einen konfrontativen Tonfall und kündigten offensive Gegenmaßnahmen an, sollten die politischen Spitzen in Berlin nicht auf einige ihrer „riskanten“ Vorhaben verzichten. So versprach Lech Kaczynski, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Bau der deutsch-russischen Gaspipeline in der Ostsee zu verhindern. Und die Einrichtung eines als Institution der „Geschichtsfälschung“ angeprangerten Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin werde sogar das Ende der strategischen Partnerschaft zwischen den Ländern bedeuten.


Als Antwort auf die Entschädigungsforderungen der Preußischen Treuhand will Kaczynski der deutschen Regierung sogar die Quittung für Polens Kriegsverluste aus dem Zweiten Weltkrieg ausstellen. Dass dabei nicht nur leere Worthülsen fallen, bestätigt ein erst kürzlich im Auftrag Lech Kaczynskis veröffentlichter Bericht des Warschauer Stadtmagistrats, welcher die Verluste aus dem deutschen Angriffskrieg und der anschließenden Besatzungszeit zu berechnen versucht. Hier und da schreckt auch die gemäßigtere PO nicht vor hitzigen Kommentaren zurück: Jacek Saryusz-Wolski, als liberal-konservativer Außenminister in der Rechtsregierung gehandelt, bezweifelte in der Tageszeitung Rzeczpospolita, dass an dem Gasprojekt im Baltikum beteiligte deutsche Unternehmen in Zukunft noch mit dem „Wohlwollen der polnischen Regierung“ rechnen können.


Einen beachtlichen Teil des polnischen Zorns haben sich deutsche Politiker selbst eingebrockt. Gerhard Schröders Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin und Angela Merkels Zusagen gegenüber dem Vertriebenenbund brachten die Nachbarschaftsthemen erst wieder ins Rampenlicht der polnischen Medien. Zwar hatten Horst Köhler und Angela Merkel mit ihren Warschaubesuchen im August die Gemüter etwas beschwichtigt, doch blieb die öffentliche Meinung im Land verunsichert. Die polnische Ausgabe der Wochenzeitschrift Newsweek kündigte sogar das Ende der gutnachbarschaftlichen Beziehungen und die Rückkehr des Revanchismus an.

Ein neues Kapitel der Beziehungen?

Auch das deutsche Wahlpatt lässt in Polen keine deutliche Verbesserung der Lage erwarten. Eine Koalition aus CDU und SPD sei „fatal“ für das Land, hieß es aus Warschau vom PO-Spitzenpolitiker Rokita, denn Polen brauche „eine starke Berliner Regierung“, die in der Lage sein müsse, die europäischen und transatlantischen Herausforderungen entschlossen anzugehen. In derartigen Aussagen klingt die Enttäuschung über Deutschlands Haltung in Sachen EU-Budget und Arbeitsmarktöffnung sowie das kühle Verhältnis Berlins zu Washington durch – weitere Indizien für eine greifbare Erosion der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft.

Beginnt hier ein neues Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte? Wohl kaum. Denn die Beziehungen verlaufen in Bahnen, die von der Politik nur bedingt beeinflusst werden können. Dies betrifft nicht nur das gemeinsame geschichtliche Erbe, sondern zahlreiche Schnittstellen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur.

Zusammenarbeit auf allen Ebenen

Dem Ende des Sozialismus in Europa und der endgültigen Anerkennung des Grenzverlaufes an Oder und Neiße folgte eine beispiellose Intensivierung und Institutionalisierung der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Schrittweise und mit deutscher Unterstützung fand Polen Aufnahme in die westlichen Bündnisse. Auch nachdem der kategorische Imperativ der gemeinsamen Außenpolitik – die „Rückkehr nach Europa“ – mit dem EU-Beitritt im Mai 2004 erfüllt wurde und eine pragmatische Interessendifferenzierung drohte, ist es gelungen, eine anhaltende Verschlechterung der politischen Kontakte zu verhindern. So zählten die Einsetzung der beiden Regierungsbeauftragten für deutsch-polnische Beziehungen, Schwan und Lipowicz, ebenso zu den gelungenen außenpolitischen Maßnahmen wie die Erarbeitung eines gemeinsamen Rechtsgutachtens zu den Kriegsentschädigungsforderungen. Hinzu kommen die wiederholt abgegebenen deutschen Distanzerklärungen gegenüber den Vertriebenenforderungen und der Versuch, den parlamentarischen Dialog anzuregen.

Diese Bemühungen überraschen angesichts der beachtlichen Wirtschaftsbeziehungen nicht. Mit nahezu 40 Millionen Einwohnern ist Polen unter den neuen EU-Mitgliedern der bei weitem wichtigste Absatzmarkt für Deutschland. Als viertgrößter ausländischer Investor hinter Frankreich, den Niederlanden und den Vereinigten Staaten redet die deutsche Wirtschaft in Polen ein gehöriges Wort mit. Umgekehrt entfällt auf Deutschland rund ein Viertel des polnischen Handelsvolumens – die Bundesrepublik ist der größte Abnehmer polnischer Produkte.

Auch in der Regionalpolitik herrscht ein wahrer Kooperationsboom. An die 400 Partnerschaftsabkommen zwischen deutschen und polnischen Städten und Gemeinden sind unterzeichnet, vier grenzüberschreitende Euroregionen wurden gegründet. Diese Regionen fördern ein breites Spektrum der Zusammenarbeit von Infrastruktur über Bildung bis hin zum zivilgesellschaftlichen Dialog und führen dabei vor allem die Menschen beider Länder zusammen. Das wohl interessanteste Projekt ist dabei die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, die in Zusammenarbeit mit dem Collegium Polonicum in Slubice und anderen Hochschuleinrichtungen in Polen junge Menschen für die Feinheiten der deutsch-polnischen Beziehungen sensibilisiert.

Kanonen, die niemand ernst nimmt

In Sachen Kultur wird verstärkt versucht, die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern auf die offizielle Schiene zu lenken – mit mäßigem Erfolg. Das im Mai 2005 von den Präsidenten Köhler und Kwasniewski ins Leben gerufene Deutsch-Polnische Jahr ist dem breiten Publikum eher unbekannt, obwohl dessen Veranstaltungsprogramm zahlreiche wertvolle Initiativen beinhaltet. Der eigentliche Kulturaustausch findet hinter den Kulissen der Regierungsprojekte statt. Besonders seit der EU-Osterweiterung hat sich vor allem Berlin aufgrund seiner Lage zu einer Anlaufstelle für Künstler aus Polen entwickelt. Sie kommen meist nur für einen Auftritt oder eine Ausstellung, knüpfen erste Kontakte und kommen bald mit dem nächsten Projekt wieder – diesmal nicht mehr in Eigenregie. Dabei kann auch staatliche Förderung helfen, und man darf gespannt sein auf die nächsten Jahre, „wenn die etwas steife institutionelle Kooperation durch die entstehenden Beziehungen zwischen den Künstlern in eine natürliche Austauschphase übergeht“, wie Adam Gusowski vom Club der polnischen Versager in Berlin-Mitte verspricht. Regierungswechsel in Berlin und Warschau werden hieran kaum etwas ändern können. Gusowski zufolge „schießen manche polnische Politiker mit so großen Kanonen, dass kein halbwegs vernünftiger Mensch so etwas ernst nehmen kann“.

Asymmetrien der Wahrnehmung

Wie können bei dieser Beziehungsdichte so erhebliche Verstimmungen auftreten, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten waren? Eine mögliche Antwort offenbart der Blick auf die Grundstruktur der deutsch-polnischen Beziehungen. Sie ist von Asymmetrien in der beiderseitigen Wahrnehmung und von unterschiedlichen Deutungsmustern geprägt. Eine im Mai 2004 durchgeführte Umfrage von TNS Emnid ergab, dass Polen ein weit größeres Interesse an Deutschland haben als umgekehrt. Den Deutschen wird von ihren östlichen Nachbarn auch eine größere Sympathie entgegengebracht. Auf einer Skala von +5 (sehr sympathisch) bis -5 (überhaupt nicht sympathisch) erreichen die Deutschen im Durchschnitt einen Wert von +1,7, wohingegen die Deutschen den Polen durchschnittlich die Note -0,1 erteilen – das niedrigste Ergebnis unter allen Nachbarländern.

Die gegenseitigen Erwartungen jedoch verhalten sich genau spiegelbildlich – und gehen damit an der Realität vorbei. So glauben rund 25 Prozent der Polen, dass die Deutschen ein gutes Bild von ihnen hätten, während die Deutschen nur zu 15 Prozent eine freundliche Haltung der Polen vermuten. Auch die unterschiedliche Bewertung historischer Ereignisse lässt aufhorchen. Beispielsweise geben die Polen als wichtigstes Datum des 20. Jahrhunderts den Beginn des Zweiten Weltkrieges an, die Deutschen hingegen dessen Ende. Für die Polen gibt es keinen historischen Bruch, die Kriegserfahrungen bleiben im kollektiven Gedächtnis lebendig. Kein Wunder also, dass eine politische Randfigur wie die Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach mit ihren Aussagen die gesamte polnische Medienlandschaft in Aufruhr versetzen kann und es in einer Fotomontage als naziuniformierte Revanchistin sogar auf das Titelblatt der Wochenzeitschrift Wprost schaffte.

Stützt sich das deutsch-polnische Verhältnis auf ein haltbares Fundament, so gleicht der Überbau eher einem kostbaren Porzellanladen, in dem elefantenartige Wahlkampfrhetorik leicht Unheil stiften kann. Vorsicht und politisches Einfühlungsvermögen sind somit auf beiden Seiten der Oder angezeigt. Die besondere Sensibilität der Polen in allen Vergangenheitsfragen mag vielleicht übertrieben sein, doch ist sie Faktum und darf von der deutschen Politik nicht ignoriert werden. Vertrauensbildende Maßnahmen sind notwendig, auch wenn dies aus deutscher Sicht nicht immer völlig nachvollziehbar sein mag.

In Polen hingegen macht sich ein Paradigmenwechsel bemerkbar, der weit über Saisonalpolitik hinauszureichen scheint. Die bereits 1990 von den Außenministern Genscher und Skubiszewski betonte deutsch-polnische Interessenkongruenz wird von nüchterner Realpolitik abgelöst. An einer solchen Emanzipierung ist im Grunde nichts Negatives. Die polnische Rechte, vor allem das national-konservative Lager um die PiS, läuft aber Gefahr, das Kooperationsprinzip zu einem Konfrontationsprinzip umzudeuten. Eine solche Dynamik würde unumgänglich zu einer Selbstisolierung Polens führen, woran keine der Seiten Interesse haben kann.

Die deutsch-polnische Zusammenarbeit, die vor über 15 Jahren ihren Anfang nahm, hat viele ihrer Ziele erreicht, allen voran Polens Integration in die Europäische Union. Politische Entscheidungen in Berlin und Warschau können nun gelegentlich zu – durchaus zulässigen – Interessenkonflikten führen. Damit diese nicht zu Krisen werden, sind viel Vertrauen und Verständnis für die jeweiligen Deutungsmuster gefragt. Aber Appelle und Symbolik allein reichen nicht. „Es ist Zeit für einen neuen Realismus“, schreibt Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik im deutsch-polnischen Magazin Dialog. Denn wo keine Interessengemeinschaft vorhanden ist, kann auf Dauer auch keine herbeigeredet werden.

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