Die Frage nach dem "guten Leben"
Jetzt ist von Strasser eine - wie stets - gut geschriebene Intervention erschienen, die auf die Grundlagen von Reformpolitik im Zeitalter der Globalisierung zielt. Er erhebt Einspruch gegen die "Zurichtung des Menschen zu einem Element des Marktes". Das Buch trägt seine Argumente und Anregungen auf drei Ebenen vor, die Strasser fast durchgängig überzeugend miteinander verknüpft. Es enthält Analysen "gefährdeter Menschlichkeit" im ersten Teil. Hier wird in einer Reihe thematischer Analysen gezeigt, dass die Selbstläufe ökonomistisch verkürzter Modernisierungspolitik bei genauerer Betrachtung fast nirgends liefern, was sie verheißen. Das gilt für die radikal flexibilisierte Arbeit nicht weniger als für die kommerziell geplante Glückssuche auf dem Erlebnismarkt sowie die Professionalisierung und Medialisierung von Politik, die sich von den Lebenswelten der Menschen, von ihren Einsichten, Bedürfnissen und Hoffnungen, weitgehend abkoppelt und von ihnen deshalb zunehmend als fremd erfahren wird.
Im zweiten Teil präsentiert Strasser Grundsätze und Umrisse von Reformprojekten für fast alle wichtigen Reformbereiche. Seine Vorschläge erheben den Anspruch, Auswege aus den Sackgassen des ökonomistischen Fortschrittsmodells zu bieten. Kluge, zumeist praxisnahe Analysen zur Zukunft der Arbeit, zum Zusammenhang von Sicherheit und Freiheit, zur Rolle der Bürgergesellschaft, zu einem zeitgerechten humanen Bildungskonzept und zur Zukunft Europas enthalten eine Fülle aufeinander abgestimmter Anregungen für eine Erneuerung sozialdemokratischer Reformpolitik. Sie verdienen es, in der neu in Gang kommenden sozialdemokratischen Programmdebatte eine Rolle zu spielen.
Welches Menschenbild haben wir eigentlich?
Das eigentliche Sinnzentrum des Essays, das dem Text sein besonderes Gewicht verleiht, ist aber der Versuch, Vorschläge zu einer politischen Anthropologie zu begründen, Korrekturen im Fundament einer zukunftsfähigen Reformpolitik anzuregen. Der Text kommt an vielen Stellen auf eine Frage zurück: Welches Menschenbild liegt eigentlich der vor unseren Augen ablaufenden Modernisierungspolitik zugrunde? Auf welches Menschenbild stützen sich Reformprojekte in der öffentlichen Diskussion? Strassers Grundthese lautet, das ökonomistische Menschenbild des Neoliberalismus und auch eines Teils sozialdemokratischer Reformpolitik in Europa - diese Kritik geht gegen Tony Blair und das Schröder-Blair-Papier - sei entgegen seinem Anspruch alles andere als realistisch. Zum "wirklichen Menschen" gehören Selbstlosigkeit und Muße, das Verlangen nach Überschaubarkeit, nach Geborgenheit und Dauer, die Bereitschaft zum uneigennützigen Engagement und zu sinnerfüllter Tätigkeit mindestens ebenso wie das Erwerbsstreben und der Wille zum ökonomischen Erfolg.
Das ökonomistisch reduzierte Menschenbild, das in den öffentlichen Diskursen der Gegenwart dominiert, soll die Verschärfung der Marktkonkurrenz rechtfertigen, die Kolonisierung der Lebenswelt durch die Ökonomie, die Flexibilisierungs- und Beschleunigungszwänge legitimieren, die von den globalisierten Märkten ausgehen. Denn, so unterstellen seine Verfechter, das alles sei letztlich doch genau das, wonach der moderne Mensch nun einmal strebe. Dabei führt die überbordende Marktlogik auf immer mehr Gebieten, wie Strasser in vielen Anläufen zeigt, die meisten Menschen in fortwährendes Unbehagen und die Gesellschaft im ganzen in die Sackgasse.
Das gute Leben muss ein politisches Projekt sein
Strasser will mit diesem Essay für einen wirklichen "anthropologischen Realismus" werben, der eine praxisfähige Bestimmung jener "humanen Zwecke" erlaubt, die dauerhafte Maßstäbe für einen wirklichen Fortschritt setzen können. Die Frage nach dem "guten Leben", der das Buch gewidmet ist, lässt erkennen, dass die Grundwerte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, als Maßstäbe für humanen Fortschritt heute nicht mehr ausreichen - so wichtig sie für eine linke Reformpolitik auch bleiben werden. Die Bedingungen intakter Lebenswelten, menschengerechter Bildungschancen und Arbeitsverhältnisse verlangen ein komplexeres Bild vom Menschen.
Erst aus ihm ergeben sich dann Maßstäbe für ein gutes Leben - das ist die Pointe von Strassers Intervention -, die nicht in der Beliebigkeit privatistischer Lebensstilwahlen versanden, sondern unmittelbare Anforderungen an die Politik enthalten. Das gute Leben ist auch eine Frage der Politik, weil die Rahmenbedingungen für Leben und Wohnen, für Arbeiten und gesellschaftlichen Verkehr, für die Sicherung der Umweltbedingungen und die Ansprüche an soziale Sicherheit eben nicht allein die Sache individueller Konsum- oder Lebensstilwahl sein können. Vielmehr sind gemeinsame politische Weichenstellungen für die Grundbedingungen in all diesen Bereichen notwendig. Das gute Leben muss heute auch ein politisches Projekt sein.
Unbehagen bis tief hinein in die Mitte
Aus dieser Perspektive ergibt sich Strassers Auseinandersetzung mit den Thesen von Peter Glotz, der die Kultur der zeitlichen Entschleunigung und des Schutzes der kleinräumigen Lebenswelten eher für eine kulturelle Widerstandshaltung einer ökonomisch erfolglosen Minderheit hält. Strasser setzt diesem Befund die Diagnose entgegen, dass bis hinein in die Kernschichten der ökonomisch Erfolgreichen und der gesellschaftlichen Mitte künftig "immer mehr" die Einsicht wachsen wird, dass das gute Leben und das Lebensglück nicht in einer hemmungslosen dynamisierten und flexibilisierten Gesellschaft zu Hause sind, die nur noch Befriedigung sucht, wo das "Glück" käuflich zu erwerben ist.
Dieser Diskussionsbeitrag außerhalb der Zwänge der Tagespolitik verdient es, aufgegriffen und gründlich erörtert zu werden, damit er auch jenseits der intellektuellen Debatte die Grundlagen linker Reformpolitik verändern kann. Eine der Fragen, die öffentliche Diskussion auslösen sollte, ist jene nach Rang und Rolle des ökonomischen Interesses in einer realistischen politischen Anthropolgie, die der modernen Politik eine humane Richtung zu geben vermag. Die einzelnen Reflexionen Strassers zur Überwindung des ökonomistisch verzerrten Menschenbildes weiter zu führen und für die politische Reformdebatte plausibel zu machen, ist nicht nur eine reizvolle Aufgabe. Es ist eine notwendige Bedingung linker Reformpolitik im Zeitalter der Globalisierung.