Die im Dunkeln sieht man nicht
Vor 50 Jahren unterzeichnete die Bundesrepublik Deutschland den ersten Anwerbevertrag für Arbeitskräfte aus Italien. Damit startete sie die gesteuerte und ursprünglich als befristet geplante Einwanderung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Mittlerweile leben mehr als 7,3 Millionen Ausländer hier, Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden. Aber noch immer ist Migration in der öffentlichen Diskussion vorwiegend negativ besetzt. Es wird vor Parallelgesellschaften und einer zunehmenden Ghettobildung in deutschen Großstädten gewarnt. Bei jedem schrottreifen und mit ungebetenen Passagieren beladenen Schiff, das vor einer Küste des Mittelmeeres aufgebracht wird, malen die Medien das Menetekel der untergehenden „Festung Europa“ an die Wand. Der alte Kontinent sei dem Ansturm der Flüchtlinge aus Asien und Afrika nicht gewachsen, suggerieren die Schlagzeilen. Ende 2004 erhob die Opposition im Deutschen Bundestag den Vorwurf, dass die rot-grüne Koalition durch eine liberale Visapolitik Tausenden von Ukrainern die Einreise in die Schengen-Staaten erleichtere. Die Union sprach gar von Hunderttausend vermeintlichen Touristen, die als Schwarzarbeiter oder Kriminelle einreisten, ganz zu schweigen von den vielen Frauen, die hierher gelockt und zur Prostitution gezwungen wurden. Beweise für diese Zahlen wurden nie erbracht.
Im heftigen Rauschen des medialen Blätterwalds fallen immer wieder Begriffe wie Visa-Missbrauch, Menschenhandel und Ausländerkriminalität. Selten wird indes über die illegal hier Lebenden berichtet. Zwischen 500.000 und einer Million Menschen leben ohne Aufenthaltsberechtigung in Deutschland, sagen die Fachleute. Doch weil sie in keiner Statistik vorkommen und sich möglichst unauffällig durch den Alltag bewegen, werden sie von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Während etwa Spanien den „Sin Papeles“ Legalisierungsangebote macht oder Italien die „Clandestini“ amnestiert, verdrängt Deutschland das Thema illegale Migration weiterhin.
Illegalität ist nicht gleich Kriminalität
Illegale Einwanderung ist selten spektakulär, und es führen viele Wege in die Illegalität. Am Anfang steht womöglich eine legale Einreise als Saisonkraft, als Tourist, als Flüchtling oder als Student. Für viele beginnt der illegale Status dann mit einem Job ohne Arbeitserlaubnis. Andere werden zu Illegalen, weil sie nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung im Land bleiben. Wieder andere, weil sie nach einem abgelehnten Asylgesuch untertauchen. Und dann gibt es diejenigen, die heimlich über die Grenze kommen oder mit gefälschten Papieren einreisen. Verlässliche Daten über Herkunft, Einreise, Aufenthaltsdauer und Lebensbedingungen von illegal lebenden Menschen in Deutschland gibt es kaum.
„Illegalität ist nicht gleich Kriminalität“, sagt Jörg Alt. Er beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Problemkomplex. In seinem Buch Leben in der Schattenwelt fasst er die Ergebnisse einer empirischen Feldstudie zur Lebenssituation illegaler Zuwanderer in München zusammen und vergleicht sie mit früheren Beobachtungen aus seiner Tätigkeit für den Jesuiten-Flüchtlingsdienst in Leipzig und Berlin. „Irreguläre Zuwanderung ist eine Dimension von Migration insgesamt. Sie umfasst Flucht-, Arbeits- und Familienmigration, aber auch Menschenhandel und Kriminalität“, resümiert Jörg Alt. Das kriminelle Segment schätzt er auf zwischen 10 und 20 Prozent, die verbleibenden 80 Prozent schlägt er den anderen Formen illegaler Migration zu. Da könne man mit Polizei und Grenzschutz allein nichts ausrichten.
Die Illegalen als stille Konjunkturreserve
Wanderungsbewegungen sind das Ergebnis eines individuellen Optimierungskalküls. Zuwanderer zieht es dorthin, wo sie für sich Chancen sehen und wo die Löhne besser sind als in ihrer Heimat. Die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland wächst – aber auch der Bedarf an gering qualifizierten, saisonalen und billigen Arbeitskräften. Eine „stille Konjunkturreserve“ nennt Alt das Heer illegaler ausländischer Arbeitskräfte. Sie arbeiten ohne Sozial- und Krankenversicherung für einen Dumpinglohn auf dem Bau, im Gaststättengewerbe, in Putzkolonnen oder im Haushalt. Allein im Baugewerbe sind nach Schätzungen der IG Bau rund 300.000 Ausländer tätig, davon wahrscheinlich zwei Drittel illegal. Oft nutzen Arbeitgeber die Situation der illegal Beschäftigten aus und bleiben ihnen den vereinbarten Lohn schuldig.
Gefährdet diese Billiglohn-Konkurrenz die Arbeitsplätze der Einheimischen? „Die Nachfrage nach unangemeldeten Arbeitskräften erklärt sich aus der Rigidität des Arbeitsmarktes und der Höhe der Lohnnebenkosten, mit der die Arbeitgeber in Europa zu kämpfen haben. Letztlich erhöht der illegale Einwanderer die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Er bremst die Abwanderungstendenz der Unternehmen, die durch ihn auf dem heimischen Markt finden, wonach sie sonst erst im Ausland suchen müssten“, schreibt Gérard Bramoullé, Professor für Wirtschaftstheorie an der Universität Aix-Marseille, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. Mai 2002.
Solche Thesen klingen zwar verführerisch, und sie mögen mehr als ein Körnchen Wahrheit enthalten. Sie blenden jedoch aus, dass ein Gemeinwesen dabei die Rechtlosigkeit Illegaler billigend in Kauf nimmt und eigene Gesetze umgeht. Überdies bergen die Thesen Konfliktstoff, schließlich stehen dem Streben der Unternehmen nach mehr Profit die sozialen Ansprüche der hier lebenden Arbeitnehmer entgegen. „Der Wettbewerb unter inländischen und ausländischen Arbeitskräften wird immer größer, wobei der Illegale als letztes Glied der Kette zu betrachten ist“, meint Alt. So habe er in Leipzig festgestellt, dass die illegalen Bauarbeiter die gefährlichsten und schwersten Arbeiten verrichteten – etwa bei Asbestsanierungen: „Nicht jeder Deutscher nimmt jede Arbeit an, auch nicht in den neuen Bundesländern.“ Indes findet auch unter den illegal Beschäftigten ein Verdrängungswettbewerb statt – ein Zeichen dafür, dass selbst auf diesem Sektor die Ressource Arbeit knapper wird und das Angebot an unangemeldeten Arbeitskräften wächst. In München beispielsweise unterboten Ukrainerinnen die Löhne polnischer und ungarischer Putzfrauen, die seit längerer Zeit dort schwarz arbeiteten. Denn ein Job als Haushaltshilfe oder Altenpflegerin ist bei illegalen Migrantinnen besonders begehrt: Die Löhne für die „schwarzen“ Perlen liegen immerhin zwischen fünf und zehn Euro. Zudem ist die Gefahr von Behördenkontrollen in privaten Haushalten gering.
Ukrainer auf dem Bau in Portugal
Alts Feldstudien in München und Leipzig belegen: Der illegale Einwanderer ist kein Sonderfall, den eine Gesellschaft bei Migrationsforschern, Menschenrechtsverbänden oder kirchlichen Organisationen abladen kann. Auch nützen Forderungen nach schärferen Kontrollen wenig, denn die Menschen ohne gültige Papiere sind ein lohnendes Geschäft. Sowohl Schleuserbanden als auch ganze Wirtschaftszweige verdienen an ihnen – am Staat vorbei.
Doch nicht nur die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften bedingt illegale Zuwanderung. Oft liegen die Gründe dafür in den Lebensbedingungen des Herkunftslandes selbst. So führen letztlich die Transformationsprozesse in den Staaten des ehemaligen Ostblocks dazu, dass sich Ukrainer als Bauarbeiter in Portugal verdingen, Albaner in Griechenland als Tagelöhner bei der Wein- und Olivenernte beschäftigt werden, aber auch, dass osteuropäische Frauen in die Hände von Menschenhändlern geraten und mit Gewalt zur Prostitution gezwungen werden.
Eine andere Gruppe von Zuwanderern sind die Flüchtlinge: Kriege, religiöse und ethnische Konflikte sowie Hunger und Umweltzerstörungen zwingen Millionen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Wer seiner Lebensgrundlagen beraubt wird und keine Perspektiven sieht, der fragt nicht, ob er die Definitionskriterien der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt. All diejenigen, die nicht unter diese Konvention fallen und dennoch ihre Regionen verlassen haben, gelten als Wirtschaftsflüchtlinge. Doch nur ein Bruchteil der Flüchtlinge, das heißt die Jüngeren und diejenigen, die über ausreichende Mittel verfügen, schlagen einen der verschlungenen Pfade nach Europa ein.
Kampf um den Wohlstandskuchen
Das Boot ist voll – so lautet der provokante Titel von Michael Schweliens Buch, das auf Reportagen des langjährigen Redakteurs der Zeit basiert. Schwelien erzählt darin von dem oft aussichtslosen Kampf der Einwanderer, sich ein Stück des Wohlstandskuchens zu ergattern. Der Reporter streift beispielsweise durch die marokkanische Flüchtlingsbörse Tanger und beschreibt, wie junge Männer in den Cafés und Straßen der Altstadt ihre Überfahrt über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien planen.
Europa lockt. Und wer ins gelobte Land will, der versucht auch ohne Einreisevisum und Arbeitserlaubnis hinein zu gelangen. Dazu müssen diese nicht willkommenen Fremden einen Fuß auf einen Schengen-Staat setzen. Dann haben sie es geschafft. Denn laut Schengener Abkommen dürfen die Bürger der EU-Mitgliedsstaaten die Binnengrenzen ohne Personenkontrolle überschreiten. Gleichzeitig schützt sich dieses Europa der Freizügigkeit mit hochgerüsteten Grenzen und rigiden Gesetzen. Dazu gehören Patrouillenboote und Infrarotgeräte zum Aufspüren geheimer Grenzgänger, aber auch das Erfassen biometrischer Daten für Neubürger aus Nicht-EU-Staaten – wie es das italienische Zuwanderungsgesetz vorschreibt. Mittlerweile sind die Negativschlagzeilen von den mit Hunderten von Flüchtlingen beladenen Frachtern seltener geworden. Das bedeutet jedoch nur, dass die Schlepper ihr einträgliches Geschäft diskreter und cleverer betreiben. „Nach wie vor kommen die meisten Einwanderer auf dem Landweg“, berichtet Schwelien.
Mit der EU-Erweiterung im vergangenen Jahr hat die Union ihre Außengrenzen um ein beträchtliches Stück nach Osten verlagert. Ab 2007 sollen auch die neuen Mitgliedsstaaten dem Schengener Verbund beitreten. Dabei werden sie von der neu gegründeten „Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“ unterstützt. Um die illegale Einwanderung einzudämmen, arbeiten die Innen- und Justizminister der EU an einem harmonisierten Asylverfahren. Danach sollen Asylbewerber, die über sichere Herkunfts- und Drittstaaten einreisen, abgeschoben werden. Rumänien, Bulgarien oder Botswana gelten beispielsweise als sichere Herkunftsstaaten. Letztlich verlagern die europäischen Staaten die oft langwierigen Asylverfahren nach außen. Die Grenze zum armen Süden soll nicht mehr an der Mittelmeerküste verlaufen, sondern möglichst schon in Nordafrika.
Europa zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz hat Schwelien als Untertitel für sein Buch gewählt. Er fragt darin: „Brauchen wir Zuwanderung?“ Angesichts sinkender Geburtenzahlen und einer Überalterung der Gesellschaft sagen Unternehmen, Demografen und die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer „Green Card“ für Computerfachleute zögerlich ja. CDU und CSU setzen hingegen auf Integration der hier lebenden Ausländer und beschwören das Schreckgespenst einer Parallel- und Schattengesellschaft, in der sich Kriminelle und Terroristen einnisten könnten.
Der Markt kalkuliert mit den Illegalen
Der Visa-Untersuchungsausschuss hat seine Arbeit beendet. Die in diesem Zusammenhang geführten Diskussionen haben ausgeblendet, dass der Markt die billigen Arbeitskräfte ohne Papiere einkalkuliert. Migrationsforscher wie Jörg Alt sind sich einig: Je restriktiver wohlhabende Länder ihre Grenzpolitik gestalten, umso größer ist die Nachfrage nach „professioneller Hilfe“. „Im Migrationsbusiness gibt es nichts, was sich mit Geld nicht kaufen ließe“, weiß Alt aus Erfahrung. Legalisierungskampagnen aber steht er eher skeptisch gegenüber. Für die meisten Arbeitgeber seien die Legalisierten uninteressant, weil sie höhere Löhne bekämen. So zieht jede legalisierte Arbeitskraft weitere Illegale nach sich. Der Pater plädiert daher für befristete Visa für Arbeitsmigranten. Die Arbeitskräfte müssten dafür Sicherheitsgarantien aufbringen, etwa bei ihrer Einreise einen bestimmten Geldbetrag hinterlegen.
Vor allem aber, sagt Jörg Alt, täte eine Debatte über die Lebensbedingungen der illegalen Einwanderer in Deutschland not. Die Zuwanderungskommission der Bundesregierung rang sich 2000 zu einer Kompromissempfehlung durch. Illegale sollten Anspruch auf medizinische Grundversorgung haben und ihre Kinder in die Schule schicken können. Diejenigen, die Illegale humanitär unterstützen, sollten strafrechtlich nicht mehr belangt werden. Diese Empfehlungen sind – wie so viele andere – beim Feilschen um das Zuwanderungsgesetz auf der Strecke geblieben.
Michael Schwelien, Das Boot ist voll: Europa zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz, Hamburg: Marebuchverlag 2004, 200 Seiten,
14,90 Euro.
Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt: Problemkomplex „illegale“ Migration, Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag 2003,
548 Seiten, 28 Euro.