Die lernunfähige Gesellschaft
Als im Mai 1945 das Grauen des Weltkrieges endete und Deutschland mit dem Wiederaufbau begann, waren wohl die meisten entschlossen, aus der historischen Katastrophe zu lernen. Sie wollten eine neue Gesellschaft, einen neuen Staat aufbauen. Sie wollten nie wieder Krieg führen und stattdessen für den Frieden und eine gerechte Ordnung der ganzen Welt arbeiten. Im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal versuchten die alliierten Siegermächte, die Schuldigen einer gerechten Strafe zu unterwerfen und das Völkerrecht weiterzuentwickeln.
Drei der vier Alliierten halfen uns, eine demokratische Ordnung zu errichten. Und vor allem die USA halfen Deutschland mit großzügigen Spenden bei der Überwindung der wirtschaftlichen Not. Schon bald aber begannen die Großmächte, sich von der Friedens- und Verständigungspolitik abzuwenden, und in der Bundesrepublik begann eine Abkehr von den grundsätzlichen Positionen der „Stunde Null“. In den Medien hat die Erinnerung an Krieg und Nachkriegsnot heute zwar Hochkonjunktur. Aber lernen wir wirklich aus diesen Rückblicken? Haben sie Einfluss auf die Bewusstseinsbildung der Menschen und auf die aktuelle Politik? Ich fürchte nein. Der Einsatz militärischer Mittel ist in der Welt von heute Normalität; wir haben uns daran gewöhnt, dass um uns herum (und seit längerem auch mit unserer Beteiligung) immer wieder Gewalt angewendet wird. Die deutsche Absage an den amerikanisch-britischen Krieg gegen den Irak bildet eine rühmenswerte Ausnahme von der vorherrschenden Neigung, Krieg als Notwendigkeit hinzunehmen. Anderswo herrscht sogar Kreuzzugsstimmung – die Gräuel und Verwüstungen der historischen Kreuzzüge und Religionskriege werden vergessen oder sind gar nicht zur Kenntnis genommen worden. Das Geschäft mit Rüstungsgütern blüht allenthalben, auch in Deutschland.
Wir vergessen, was wir längst wissen, und wir ziehen aus Erfahrungen keine Konsequenzen. Das zeigt sich nicht nur bei der Frage nach Krieg oder Frieden, sondern auch bei anderen existenziellen Themen. So ignorieren wir die Erkenntnisse über den Klimawandel, der, wie die Experten sagen, noch viel schlimmere Katastrophen verursachen wird als in den letzten Jahren schon geschehen. Ich spreche von uns, obwohl die Bundesrepublik zu den Staaten gehört, die noch am ehesten bereit sind, diese Entwicklung mit mancherlei Maßnahmen zu bremsen und ihre Folgen abzumildern. Denn eine wirklich konsequente Politik der Emissionsbegrenzung sähe ganz anders aus als das, was wir uns immer noch leisten. Die Flutkatastrophen der vergangenen Jahre haben zwar dazu geführt, dass wir die Naturgefahren etwas ernster nehmen, aber die Maßnahmen zum Hochwasserschutz sind immer noch zu zaghaft, und die Organisation des Katastrophenschutzes ist noch alles andere als perfekt.
Es muss möglich sein, aus Informationen zu lernen
Wir verfügen über unendlich viele Informationen, aber wir werten sie nicht hinreichend aus und überprüfen sie nicht genug. Joseph Weizenbaum, der berühmte amerikanische Computerwissenschaftler, hat schon vor Jahren gerügt, dass wir „Informationen mit Wissen oder gar Ideen verwechseln“. Wir verlassen uns auf die Informationsverarbeitung durch Computer und Medien und sehen damit nur die Oberfläche der Dinge. Das vorhandene Wissen müsste „mobilisiert“ werden, sagt Weizenbaum mit Recht, und das heißt: Es muss möglich sein, aus den Informationen zu lernen. „Sie können die besten Bibliotheken und Datenbanken haben – wenn die Organisationskultur Lernen nicht ermöglicht, nutzt das wenig.“
Die Lernunfähigkeit der Gesellschaft lässt sich an allen möglichen Themen belegen, wichtigen wie unwichtigen. Ein besonders trauriges Beispiel bildet der Umgang mit schwerer Kriminalität: Wird irgendwo ein Verbrechen begangen, das uns bewegt, so kommt reflexartig die Forderung nach härteren Strafen auf. Straftaten lösen Emotionen aus, gegen die offenbar kein Kraut der Erkenntnis gewachsen ist: Obwohl man weiß, dass die Höhe der gesetzlichen Strafandrohung bei den meisten Delikten keinen oder allenfalls ganz geringen Einfluss auf den Tatentschluss hat, glauben auch nachdenkliche Menschen, man könne die potenziellen Opfer durch solche Gesetzesänderungen schützen. Die traurige Erfahrung aus Jahrhunderten einer drakonischen Strafpraxis beweist jedoch seit langem, dass dies im Ansatz falsch ist. Als man Diebe und Räuber noch öffentlich hinrichtete, sollen sich zwischen den Zuschauern unter dem Galgen besonders viele Diebstähle ereignet haben. Aber auch in unserer aufgeklärten Zeit ist es kaum besser: Die Gefängnisse der USA sind überfüllt, aber dadurch ist die Kriminalität nicht gesunken, sondern gestiegen. Kriminologen und Kriminalpolitiker in aller Welt bemühen sich um Aufklärung über die wahren Wirkungen der Strafpraxis und um deren Humanisierung – was nicht Schwäche bedeutet, sondern die Ausrichtung der staatlichen Reaktion auf Resozialisierung und notfalls auf Sicherung der Gesellschaft vor nicht Besserungsfähigen. Mit dem Strafvollzugsgesetz von 1976 hat die Bundesrepublik eine moderne Rechtsgrundlage; hoffentlich wird diese nicht durch die beabsichtigte Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder beeinträchtigt. Aber auch sonst müssen wir auf der Hut davor sein, unsere rechtsstaatlichen Errungenschaften preiszugeben. Politiker wie der jüngst entlassene Hamburger Justizsenator Roger Kusch, der die Vorbilder seiner Strafvollzugspolitik in berüchtigten ausländischen Strafanstalten suchte, sterben nicht aus.
Nur wenige machen sich die finanzielle Lage von Staat und Gemeinden klar
Selbst zentrale Themen unseres Gemeinwesens sind für viele Bürger weiße Flecken auf der Landkarte ihres Wissens. In Talkshows und in den Schlagzeilen der Boulevardpresse wird überdeutlich, wie gering die Fähigkeit entwickelt ist, die Entscheidungsabläufe und Interessenlagen der politischen Institutionen zu verstehen. Am gefährlichsten für den sozialen Zusammenhalt ist es wahrscheinlich, dass nur wenige sich die finanzielle Lage von Staat und Gemeinden klar machen, während die meisten ihren eigenen Kontostand wohl ziemlich genau kennen. Wenn über die Höhe der Steuern gestritten wird, ist von „Abkassieren“ und „Abzocke“ die Rede – als ob die Abgeordneten und Minister die Einnahmen in die eigene Tasche stecken wollten. Welche enormen Leistungen und Transferzahlungen damit finanziert werden, interessiert kaum. Die Diäten der Parlamentarier, die einen winzigen Teil der Staatsausgaben ausmachen, werden in einer Form kritisiert, als hinge davon etwa die Sanierung des gesamten Gesundheitswesens ab. Tatsächlich ist der größte Ausgabenblock im Bundeshaushalt der Bereich der Sozialleistungen: rund 45 Prozent der gesamten Ausgaben des Bundes! Allein als Zuschüsse an die Rentenversicherung zahlt der Bund jedes Jahr fast 80 Milliarden Euro. Wohlgemerkt: Diese Summe und weitere Milliarden Euro fließen zusätzlich zu den Beitragszahlungen der Versicherten an die Sozialversicherungsträger. Und wenn die Beiträge gesenkt werden sollen – was ja alle wünschen –, müssen noch höhere Summen aus den Steuereinnahmen an die Renten- und Krankenkassen überwiesen werden. Die viel zu hohen Schulden des Staates müssen abgebaut werden – aber wie kann das gehen, wenn immer weniger Steuern erhoben und weniger Beiträge gezahlt werden sollen?
Die Kluft zwischen der traurigen Realität und den schönen Zukunftsideen bildet ab, was in vielen Reden beschworen, aber selten konkret ausgerechnet wird: dass wir, die deutschen Bürgerinnen und Bürger, mehr wollen als wir bezahlen können (und dass unsere Volksvertreter uns mehr versprechen als irgend jemand halten kann). Wie schlecht wir unser Wissen und unsere Erfahrungen verarbeiten, lässt sich gerade auch an weniger zentralen Themen unserer politischen Ordnung besonders deutlich demonstrieren. Ich wähle drei solcher Komplexe aus: Bürokratieabbau, Dienstrechtsreform und Datenverarbeitung.
Vom Abbau bürokratischer Regelungen erhofft sich die Bundesregierung – und nicht erst die jetzige – einen Durchbruch zu größerem Wirtschaftswachstum. Ökonomieprofessoren verkünden in den Medien, dass der Bürokratieabbau einfach und billig zu haben wäre, wenn man nur wollte. Interessenvertreter des Mittelstands behaupten seit Jahren, die Unternehmen würden durch Bürokratiekosten jedes Jahr mit 46 Milliarden Euro belastet. Diese Zahlen sind unseriös, und die ganze Rechnung kann nicht aufgehen. Es ist zwar möglich, den Aufwand zu senken, den die Unternehmen durch Statistiken und andere Informations- und Berichtspflichten haben, und die Verfahren bis zu einem gewissen Grade zu vereinfachen. Aber schon wenn die staatliche Kontrolle – beispielsweise über Lebensmittelhygiene und Arzneimittelsicherheit – gelockert werden soll oder wenn es darum geht, materielle Anforderungen zum Beispiel des Umweltschutzes oder der Sozialpolitik einzuschränken, wird es außerordentlich schwierig. Das kann nicht anders sein, weil eben die „bürokratischen“ Belastungen in der Regel auf vernünftigen ökologischen, sozialen, rechtlichen oder politischen Überlegungen begründet sind und auf bewussten Prioritätsentscheidungen beruhen. Was die Unternehmen entlastet, belastet in vielen Fällen die Masse der Kunden. Und wenn die Kontrolldichte zu sehr verringert wird, ereifert sich die Öffentlichkeit bei der nächsten Epidemie mit Recht über die Schwäche der Verwaltung. Es genügt, dazu die Stichworte Rinderwahn, Tierfutter, unter der Schneelast einstürzende Hallendächer und Vogelgrippe zu nennen.
Vorschriften, die niemand mehr kennt
Diese Zusammenhänge sind oft klargestellt worden, nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in anderen Medien. Trotzdem kommt es vor, dass dieselbe Zeitung, die gerade eine sachverständige Erläuterung des Themas gedruckt hat, wenig später wieder die alten Geschichten von der angeblich übermäßigen Belastung der Unternehmen durch überflüssige Regelungen aufwärmt – und die fantasievollen Angaben zum Einsparpotenzial wiederholt.
Gern bringen Journalisten auch Erfolgsmeldungen der Rechtsbereinigung: Wenn wieder einmal eine Landes-, die Bundesregierung oder eine von ihr eingesetzte Kommission eine Liste von veralteten Gesetzen und Verordnungen zusammengestellt und das Parlament die förmliche Aufhebung abgesegnet hat, wird dies als politische Großtat gefeiert. In rechtspolitischen Programmen finden sich Zielzahlen aufzuhebender Rechtsnormen – eine mehr als fragwürdige Herangehensweise. Denn in Wahrheit werden bei diesen Gelegenheiten fast ausschließlich solche Vorschriften aufgehoben, die keinerlei Bedeutung mehr haben. Man lese nur die neueste Produktion dieser Art im Bundesgesetzblatt vom 22. Februar 2006: Das „Erste Gesetz über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern“ hat zwar hundert Artikel, aber die meisten davon betreffen längst überholtes Beamtenbesoldungsrecht. Und die übrigen beziehen sich auf Gegenstände wie den „Ehrensold für Träger höchster Kriegsauszeichnungen des Ersten Weltkrieges“, die „Umsiedlung von Vertriebenen aus Flüchtlingslagern und Notwohnungen in Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein“, die Einführung von Beamtenrecht des Bundes im Saarland oder – als besonders „junge“ Vorschrift – das Gesetz zur Aussetzung der Vorschriften über die repräsentative Wahlstatistik für die Bundestagswahl 1998. (Nebenbei bemerkt: Dieses Gesetz ist auch noch schlampig redigiert; in zahllosen Artikelüberschriften ist von „Auflösung“ statt „Aufhebung“ bestimmter Paragraphen die Rede.)
Keine der aufgehobenen Vorschriften entlastet die Verwaltung oder die Bürger in relevanter Weise; nur die Gesetzessammlungen werden etwas dünner. Dieses Beispiel müsste eigentlich jedem klarmachen, dass Rechtsbereinigung keineswegs Wirtschaftswachstum garantiert. Und es müsste auch dem letzten Zahlenfetischisten beweisen, dass eine quantitative Beurteilung unseres Rechtssystems unsinnig ist. Aber es klingt eben interessant, dass „sich hundert Gesetze als überflüssig erwiesen haben“.
Gibt es tatsächlich zu viele Beamte?
Wenig Lernfähigkeit beweist auch unsere Dauerdiskussion um die Reform des öffentlichen Dienstes. Hier ist eine grundlegende Neuordnung nötig, darüber sind sich die meisten Experten einig. Die einen allerdings wollen an den „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“ und damit an der Zweiteilung des öffentlichen Dienstes in Beamte und Tarifbeschäftigte festhalten, während die anderen seit Jahrzehnten die Schaffung eines einheitlichen Dienstrechts fordern. Die Zahl der Beamten und öffentlichen Arbeitnehmer ist seit 1992 um fast zwei Millionen reduziert und deren Bezahlung gekürzt worden. Aber in der politischen und medialen Diskussion heißt es immer noch, es gebe „zu viele Beamte“. Diese seien schuld daran, dass dem Staat das Geld ausgeht. Die Flut der Vorschriften, die der moderne Staat benötigt, wird einer angeblichen „Regelungswut“ der Beamten angelastet – und so weiter. Selten denkt jemand darüber nach, wer denn die Arbeit der Lehrerinnen und Polizeibeamten tun soll. Die Politik muss den öffentlichen Dienst endlich aus der Bindung an die Tradition befreien, ein modernes einheitliches Dienstrecht schaffen und damit die Voraussetzung für bessere Leistungen begründen – diese Weichenstellung wäre nötig. Die jetzt bevorstehende Übertragung der Dienstrechtskompetenz auf die Länder führt nur zu einer weiteren Zersplitterung und zu unnötig vielen neuen Vorschriften, ohne dass die Qualität steigt.
Datenverarbeitung ist allgegenwärtig. Ohne Computer und Internet gäbe es heute keine erfolgreichen Unternehmen und keine funktionierende Verwaltung mehr. Das Tempo der technologischen Entwicklung war so atemberaubend hoch, dass wir uns bisher kein einheitliches Urteil über Segen und Fluch gebildet haben. Wir schwanken zwischen Fortschrittsseligkeit und Fortschrittsfeindlichkeit. Die einen erwarten von der Technik immer höhere Lebensqualität, andere bekämpfen die Technik, als sei sie Teufelszeug.
In diesem Spannungsfeld suchen wir nach dem richtigen Maß an rechtlicher Einbindung, nach angemessenen Nutzungsregeln und besonders nach dem richtigen Gleichgewicht zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit. Dass die Privatsphäre gegen Eingriffe Dritter und des Staates geschützt werden muss, ist inzwischen allen klar, und dass die Bürger freien Zugang zu amtlichen Informationsbeständen beanspruchen können, hat auch der Bundesgesetzgeber erkannt. Die Datenschutzdiskussion und besonders die Boykottbewegung gegen die Volkszählung 1983 haben bewirkt, dass fast jedem die Gefahren bewusst sind, die von übermäßiger und unkontrollierter Datenverarbeitung ausgehen können. Dass wir diese Gefahren indessen beherrschen können, dass sie durch Rechtsnormen eingegrenzt sind, die ihrerseits durch Aufsichtsinstanzen überwacht werden, ist weniger bekannt. Anders ausgedrückt: Viele wollen dies nicht wahrhaben, sondern bleiben bei ihrer einmal eingeübten Skepsis. Es käme aber gerade darauf an, zwischen riskanten und harmlosen Entwicklungen zu unterscheiden.
Hysterie und Verschwörungsdenken
„Ausgeforscht und abgespeichert“ werde das Individuum durch die Volkszählung, meinten1983 die Kritiker. Mit naivem Staunen bemerkten Medien und Bürger, wie viele Daten die verschiedenen Behörden schon – gesetzmäßig und zu vernünftigen Zwecken – gesammelt hatten. Da man sich nicht vorstellen konnte oder wollte, dass die Verwaltung ihre Aufgaben korrekt erfüllen würde, kamen die wildesten Vermutungen auf über schlimme Manipulation und drohende Unterdrückung. Die verbreitete Vorliebe für Verschwörungstheorien fand in den Statistikern, die den Zensus durchführen wollten, ein bestens geeignetes Opfer. Sie wurden von dem Misstrauen der Öffentlichkeit gegen ihre Tätigkeit, die sie jahrzehntelang erfolgreich ausgeübt hatten, vollkommen überrascht und konnten sich gegen die abenteuerlichen Unterstellungen kaum wehren. Die Kritiker spielten die verhältnismäßig geringfügigen Defizite an rechtlichen Sicherungen der Volkszählung zu gravierenden Skandalen hoch und sprachen von Missbrauch der Staatsgewalt.
Im Ausland wurde dies schlicht als Hysterie wahrgenommen. Im Kern aber tat sich in der Volkszählungsdiskussion derselbe Abgrund von Unkenntnis des Volkes über seine staatliche Organisation auf, der die Steuer- und Abgabendiskussion kennzeichnet. Im Jahre 1987 wurde die Volkszählung schließlich – in leicht veränderter Ausgestaltung – doch noch durchgeführt. Niemand hat seitdem behauptet, sie habe zu einer allgemeinen Volksüberwachung geführt. Das Unternehmen ist rechtmäßig und ohne nachteilige Folgen über die Bühne gegangen. An der Unfähigkeit, zwischen wirklichen und vermeintlichen Fehlentwicklungen zu unterscheiden, leidet unsere politische Diskussion jedoch nach wie vor. So werden reflexartig Bedenken geäußert, wenn eine neue Volkszählung auch nur angedacht wird, meist unspezifisch, ohne Hinweis auf die positiven Erfahrungen der letzten Zählung und ohne den Nutzen einer umfassenden Volkszählung zu erwähnen.
Im Zuge der Terrorismusbekämpfung sind die informationellen Befugnisse der Sicherheitsbehörden mehrfach erweitert worden. Daran haben Datenschutzbeauftragte und Bürgerrechtsvereinigungen mit guten Gründen Kritik geübt. Aber soweit die Kritik in der Öffentlichkeit ankommt, ist sie fast immer pauschal und folgt dem gleichen Muster: Wenn Behörden in großem Maßstab Informationen sammeln, spricht man von „Sammelwut“; wenn sie zur Fahndung nach Straftätern große Bestände miteinander abgleichen, werden die Betroffenen „durchgerastert“, „durchleuchtet“ oder „unter Generalverdacht gestellt“. Wie bei der Volkszählung macht sich kaum jemand die Mühe genau darzustellen, was bei einer „Rasterfahndung“ geschieht. Der Begriff ist negativ besetzt, und damit steht die Einschätzung der konkreten Aktion fest, auch wenn die „Gerasterten“ keinerlei Nachteile erleiden. Weil man nicht mehr genau hinsieht, werden auch auf diesem Gebiet die wirklichen und die bloß vermeintlichen Risiken für Bürgerrechte vermengt. Der berechtigten Kritik nimmt das viel von ihrer Wirkung. Wenn immerfort „Alarm“ gerufen wird, hört bald keiner mehr hin.
Manche Datenschutzinstanzen und Verbraucherschützer sorgen sich besonders um die extensive Verarbeitung von Kundendaten durch gewerbliche Unternehmen. Sie behaupten, der Handel mit Adressen und die elektronische Auswertung von Kundendaten schüfen große Gefahren für die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Millionen Menschen jedoch haben dagegen nichts einzuwenden, und es sind keine Fälle bekannt geworden, in denen aus der Weitergabe von Kundenanschriften oder ähnlichen Daten relevante Nachteile für die Betroffenen entstanden wären. So überrascht man auch sein mag, wenn unerbetene Sendungen individuell adressiert sind – dahinter steckt in aller Regel keine wirkliche Gefahr, sondern allenfalls eine Belästigung. Praktisch bedeutsam und risikoträchtig ist hingegen das „Scoring“: die Bewertung der Kreditfähigkeit von Kunden auf der Grundlage statistischer Auswertung der Lebensverhältnisse bestimmter Gruppen. Das Bundesdatenschutzgesetz verbietet es, nachteilige Entscheinungen allein auf die automatisierte Datenauswertung zu stützen. Hier liegt der Hebel zur Bekämpfung derartiger Praktiken – aber eben nur hier.
Wer alle Vorurteile „ernst nimmt“, wird irgendwann zum Zyniker
Warum ist unsere Gesellschaft so lernunfähig? Zum einen ist Lernen oft mühsam und schmerzhaft. Zum anderen stößt gerade die Aufklärung in sozialen Fragen – um die es hier immer geht – häufig auf entgegengesetzte Interessen. Gegen die Aufklärung steht das Interesse vieler Akteure, eingeübte Praktiken aufrecht zu erhalten. Wer Aufklärung sucht, irritiert andere, stört sie in ihrer Aktivität. Aus einem besonders schlimmen Versagen, dem Raubbau an der Natur, ziehen wir alle kurzfristig unseren Vorteil. Die künftigen Generationen, die darunter leiden werden, haben zu schwache Anwälte.
Eine typische Verhaltensweise von Politikern besteht darin, die in der Öffentlichkeit verbreiteten Meinungen „ernst zu nehmen“, auch wenn sie auf unaufgeklärten Vorurteilen beruhen. Man will sich nicht dem Vorwurf der Beschwichtigung und Verharmlosung aussetzen – und bestärkt damit Fehlurteile, anstatt mit genauen Informationen gegen sie anzugehen. Wer die Menschen so „ernst nimmt“, glaubt volksnah zu handeln. In Wahrheit aber spricht daraus Zynismus – überdies wird die eigene Handlungsfähigkeit eingeschränkt.
Es kommt auch vor, dass Menschen schlicht lernunwillig sind. In einer Diskussion über die geplante Volkszählung, in der die Dinge detailliert besprochen wurden, hielt mir jemand entgegen: „Ich habe nicht das Fachwissen wie Sie es haben, um zu überblicken, was mit den Daten geschieht, die innerhalb dieser Umfragen gesammelt werden, und deswegen sage ich ‚Nein’ zu Dingen, die ich nicht überblicke“ – ein Beispiel für tief sitzendes Misstrauen, das sich gegen Aufklärung sträubt, oder für die Angst, bei Vertrauen und Zustimmung für naiv gehalten zu werden. Ein solches „Nein“ ist nicht rational begründet, und wer auf Argumente und Beweise nur mit dem Satz reagiert: „Ich bleibe skeptisch“, verschreibt sich dem Aberglauben.
Dem einzelnen Bürger fällt das soziale Lernen freilich schwerer, weil Informationen und Meinungen vorgeprägt sind. Die öffentliche Meinung ist nicht das statistische Aggregat der individuellen Meinungen. Sie entsteht auf verwickelten Wegen, in vielfach vermittelter Form, in dieser und jener Weise gestaltet von Bildungseinrichtungen, Lobbys und besonders von Medien, die ihrerseits von Kräften und Ideen aus Teilen der Gesellschaft beherrscht werden. So manche Ideen sind bei Licht betrachtet Ideologien, die der Begründung oder Verfestigung von Macht dienen. Ohne die Vermittlung durch andere sind wir aber vollends hilflos. Denn die Informationsflut ist zu groß und zu widersprüchlich, die Gegenstände selbst sind zu komplex und veränderlich, als dass jeder und jede sich selbst ein fundiertes Urteil bilden könnte.
Wenn wir Aufklärung wirklich suchen, wenn wir aus Fehlern lernen und die Zukunft rational gestalten wollen, müssen wir die Auswertung des vorhandenen Wissens für jedermann erleichtern. Der Schlüssel dazu ist die Interessenanalyse. Wenn deutlich ist, dass eine Aussage einem bestimmten Interesse dient, lässt sich ihr Wahrheitsgehalt und damit ihr Wert eher überprüfen, als wenn sie wie eine Offenbarung daherkommt. Natürlich ist nicht jede Aussage und jede Erkenntnis interessegeleitet, und auch wenn sie einem bestimmten Interesse gerecht wird, muss sie nicht falsch sein. Doch die entsprechende Prüfung ist nötig, ehe man weitere Schlüsse darauf gründet. Die Politik kann viel dazu beitragen, solche Aufklärung zu fördern. Sie sollte vorhandenes Wissen verstärkt abfragen, aber auch Aufträge zu gezielter Forschung geben, zum Beispiel zur Gesetzesfolgenabschätzung. Dies ist inzwischen eine etablierte Forschungsrichtung, die aber viel zu wenig genutzt wird.
Aufklärung in normalen Zeiten
Die Geschichte lehrt, dass zentrale Inhalte des gesellschaftlichen Bewusstseins sich im Allgemeinen dann ändern, wenn sie sich in Katastrophen oder Revolutionen als unhaltbar erweisen. Viele große Irrtümer der Völker sind erst als Folge von Kriegen und ähnlicher Umwälzungen weggespült worden. Das nächstliegende Beispiel ist die Weltanschauung des Nationalsozialismus: An ihr halten heute (anders als an der eingangs erwähnten Einstellung zum Krieg als Mittel der Politik) nur noch einige Unbelehrbare fest. Ähnlich ist es dem „real existierenden Sozialismus“ ergangen: Zu sehr hatten sich die Machthaber diskreditiert; die friedliche Revolution in der DDR hat auch ihre Theorie hinweggefegt. Aber geistige Strömungen halten sich manchmal sehr lange: Noch Jahre nach dem Ende der Monarchie haben deutsche Beamte, Professoren und Richter die Demokratie und den Parlamentarismus lächerlich gemacht und damit zum Untergang der Weimarer Demokratie beigetragen.
Unter diesen Umständen sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass die notwendigen Veränderungen unserer geistigen Lage insgeheim, in untergründigen Prozessen vonstatten gehen. Erst recht nicht sollten wir auf soziale oder andere Katastrophen hoffen. Aufklärung muss gerade in normalen Zeiten eine Chance haben.
Von Hans Peter Bull ist im Herbst 2005 das Buch „Absage an den Staat? Warum Deutschland besser ist als sein Ruf“ erschienen.