Die Leute wollen kein Gequatsche
Politik ist in Neufünfland ein schwieriges Geschäft: das Interesse ist klein, die Enttäuschung groß. Anfang der neunziger Jahre verschwanden 2,3 Millionen Industriearbeitsplätze förmlich über Nacht, während die Politiker von "blühenden Landschaften" erzählten. Dieses Erlebnis hat das Vertrauen in die Politik ruiniert. Als Kohlsche Hypothek wiegt das im Osten viel schwerer als die "Spendengeschichte".
Heute funktioniert Politik im Osten vor allem nach zwei Gesichtspunkten. Zum einen steht die Person im Mittelpunkt, zum anderen der "output". Die Leute wollen Lösungen und kein Gequatsche. So ist Schröder im Osten Kanzler geworden, so ist Biedenkopf Ministerpräsident geblieben. Langfristige Parteibindungen sind im Westen auf dem Rückzug. Im Osten gibt es sie nicht. Hier sind die gefürchteten Wechselwähler zu Hause. Sie haben die sächsische SPD von 1998 auf 1999 von knapp 30 Prozent auf gut 10 Prozent zurecht gestutzt. Die Arbeiter in Sachsen wählten 1998 zu 27 Prozent CDU, 1999 zu 60 Prozent.
Reden halten hatte auch keiner gelernt
Ohne Mitglieder, ohne Ansehen, ohne Bindung: Haben die Parteien im Osten noch eine Zukunft? Ihr schlechtes Image hat zum einen etwas mit dem Wort selbst zu tun. Wenn in der DDR "die Partei" erwähnt wurde, wusste jeder, wer gemeint war. Vielen Leuten läuft es heute noch kalt den Rücken runter, wenn sie nur das Wort "Genosse" hören. So leben SED und DDR in den Köpfen weiter.
Die Parteien im Osten ticken anders. Die ostdeutsche SPD und CDU haben recht wenig mit ihren westdeutschen Pendants zu tun: viel weniger Mitglieder, weniger Ortsverbände, geringe Finanzkraft. In der Ost-SPD gibt es Ortsvereine, die mehr Kontoführungsgebühren zahlen als Mit-gliedsbeiträge in die Kasse kommen. Rein zahlenmäßig sind die ostdeutschen Landesverbände hoffnungslos in der Minderheit, ihr Einfluss auf die jeweilige Bundespartei ist gering. Die ostdeutschen Sozialdemokraten stellen drei Prozent aller SPD-Mitglieder. Obendrein fehlen den Ossis einfach Erfahrungen im Aushandeln von Kompromissen, die Netzwerke zwischen Politik, Verbänden und Vereinen und manchmal auch ein wenig Skrupellosigkeit beim Durchsetzen eigener Interessen. Es fehlt der routinierte Umgang mit den Medien. Reden halten hatte auch keiner gelernt. Und dann ist da dieses SED-Sprech, das man erst mal aus dem Kopf kriegen musste. CDU- und PDS-Mitglieder konnten immerhin auf Vorhan-denes aufbauen und auch schon ein bisschen üben. Die SPD-Genossen hingegen mussten nach 1990 eine komplett neue Partei aufbauen. Man brauchte funktionierende Vorstände und moderne Büros. Adressverzeichnisse von Mitgliedern, Unterstützern, Interessenten und Journalisten mussten zusammengetragen werden, Fraktionen mit Beratern und Arbeitsstrukturen aufgebaut.
Im Osten wurden Ingenieure, Pfarrer und Lehrer von heute auf morgen zu Bürgermeistern, Abgeordneten und Ministern. Da wurden Menschen zu Spitzenkandidaten bei Landtagswahlen, die fünf Jahre zuvor nicht das Geringste mit Politik zu tun hatten. Im Westen hatte man sich nach fünf Jahren in den Kreisvorstand gekämpft. Politik im Osten ist häufig spontaner, Ideen lassen sich schneller umsetzen. Widerstände sind häufig nicht besonders gut organisiert - mit allen Vor- und Nachteilen, die das hat. So läuft im Osten manches anders als in der geölten Politikmaschine des Westens.
Niemand diskutiert beim Kaffee über Politik
Das Interesse an Politik ist auf dem Nullpunkt. Die wenigen aktiven Parteimitglieder können Politik kaum unter die Leute bringen. Es sind zu wenige, um in die Vereine und Verbände auszuschwärmen, um beim Kaffee oder während der Mittagspause mal über Politik zu reden - doch genau diese Leute braucht eine Demokratie im Aufbau. So könnte sich politische Kultur entwickeln. Doch mit ihren paar Mitgliedern repräsentieren die Parteien die Bevölkerung ohnehin immer weniger.
Trotzdem: die Parteien werden auch in Zukunft die erste Geige spielen, wenn Personen für politische Ämter ausgewählt werden. Und diese Leute müssen richtig gut sein, denn Probleme gibt es im Osten noch genügend zu lösen. Das heißt, die Parteien müssen ihre Leute ausbilden. Politik ist Handwerk. Und Handwerk kann man lernen. Die zukünftigen Bürgermeisterinnen und Abgeordneten müssen lernen, wie man einen Haushalt saniert, wie man Fördergelder auftreibt, wie man die Medien bedient, wie man Krisen meistert, wie man Kampagnen auf den Weg bringt und verschiedene Interessen unter einen Hut bringt.
Und Bürgermeister will keiner werden
Das Reservoir für gutes Personal lässt sich in Zahlen ausrücken: In Sachsen etwa gibt es 60 Landtagswahlkreise. Für die SPD mit ihren 5.300 Mitgliedern heißt das: Pro Wahlkreis kommen weniger als 100 Parteimitglieder als potentielle Kandidaten in Frage - in Wirklichkeit ist die Zahl aufgrund von Alter, Engagement oder Familie noch kleiner. Und in der Diaspora liegt die Zahl eher bei 5 als bei 50. Bei der SPD in Nordrhein-Westfalen gibt es im Schnitt pro Landtagswahlkreis 1.400 potentielle Anwärter. Das verdeutlicht die Not der Parteien im Osten, denn bei PDS und CDU sieht es bald nicht anders aus. Mit einer derart dünnen Personaldecke muss man haushalten, will man Kommunen, Bund und Länder gut regieren. Droht uns in Zukunft im Osten vielleicht "schlechtes Regieren"?
So blieben in Brandenburg bei den letzten Kommunalwahlen viele Rathäuser leer, weil niemand Bürgermeister werden wollte. Was in diesem Frühjahr in Dresden passierte, ist symptomatisch. Da wurde die Landeshauptstadt von einem Oberbürgermeister regiert, der so blass war, dass ihn seine eigene Partei, die CDU, loswerden wollte. Doch mangels Alternativen wurde die Operation abgeblasen. Die SPD wiederum suchte monatelang bundesweit einen Kandidaten. Endlich gefunden, geht er von Bord, als er bei den anderen Oppositionsparteien auf Granit beißt. Auch die PDS hatte niemanden aufzubieten. Ergebnis: Die großen Parteien fanden in der Halbmillionen-Stadt keinen, der das Zeug zum OB hatte. Am Ende zauberte eine eigens dazu gegründete Bürgerinitiative einen Kandidaten aus dem Hut - einen dynamischen Ex-Dresdner. Der gewann dann die Wahl mit Unterstützung der versammelten Opposition.
Dramatisch ist die Lage bei den jungen Leuten. Die Folgen eines riesigen Geburtenknicks stehen bevor: Nach 1990 wurden in der ehemaligen DDR nur noch halb so viele Kinder geboren wie vor 1989. Die jungen Leute werden also knapp. Und wer dann doch zu den Parteien findet, geht meist nach Lehre oder Uni in den Westen. Einzelne junge Leute in den Spitzen täuschen nicht darüber hinweg, dass die Parteien im Osten noch rasanter vergreisen als im Westen.
Die Parteien müssen ihre eigenen Leute ausbilden, sie müssen aber auch durchlässiger werden für Quer- und Seiteneinsteiger. Die sächsische SPD hat es versucht: unter 14 Landtagsabgeordneten tummeln sich ein Professor, ein DGB-Chef und ein Industrieverbandschef. Wer etwas werden will und etwas kann - im Osten ist die "Ochsentour" kurz. Da wirken die Parteireformvorschläge von SPD-Generalsekretär Franz Müntefering wie kalter Kaffee. Parteiinterne Vorwahlen gibt es im deutschen Osten schon seit zehn Jahren.
Die PDS macht vor, wie es geht
Daneben werden Parteien in erster Linie als Dienstleistungsbetriebe für die Bürger überleben können. Die PDS zeigt, wie es geht. Einen Teil ihres Erfolgs verdankt sie ihrer "Kundenorientierung". Da sitzen die Genossen in kleinen Büros in den Stadtteilen und helfen beim Berechnen der Rente oder beraten im Mietrecht. Die Erfahrung, dass jemand da ist, mein Problem löst, schafft Vertrauen. Aber auch für die PDS wird die Luft dünner: Ihre Aktivisten, die Alten mit viel Zeit, sterben aus. Kleine, konkrete kommunale Projekte werden deshalb in Zukunft die Parteiarbeit dominieren, die monatliche Ortsvereinssitzung kaum.
Wenn auf der Straße oder beim Bier fast gar nicht mehr über Politik gesprochen wird, weil die aktiven Parteimitglieder fehlen, sind die Medien gefragt. Die Parteien müssen ihre Kommunikationswege modernisieren und konsequent auf die Medien ausrichten, wenn sie überhaupt gehört werden wollen. Bilder zählen, Inszenierung wird wichtiger, Images entscheiden Wahlen. Im Mittelpunkt stehen immer Personen. Und Events. Die Partei ist schmückendes Beiwerk. Da will eine Landtagsfraktion für die Idee werben, für Bahnhofsverschönerungen einen Wettbewerb auszuloben: Einige Zei-tungen bringen fünf Zeilen. Als die Abgeordneten mit dem Besen bewaffnet einen Bahnhof kehren, erscheint das Bild auf allen Titelseiten.
Professionelle politische Arbeit kostet Geld. Geld, um Briefe zu verschicken, Anzeigen zu schalten, Internetseiten aktuell zu halten. Faltblätter konkurrieren mit den Prospekten von BMW und Fitnessstudios - wer da Aufmerksamkeit erreichen will, muss verdammt gut sein. Wenn die Mitglieder als Geldquelle ausfallen, bleiben zwei andere Quellen: staatliche Alimentierung und - Spenden. Dabei ist fraglich, wo die Spenden im Osten herkommen sollen. Geld gibt es bei Unternehmen und Bürgern kaum. Allenfalls könnten die Parteien anfällig werden für Wünsche und Beträge von Großspendern. Bleibt das Geld vom Staat, aber da ist auch nicht mit viel zu rechnen. Das könnte das bedeuten, dass die Parteien langfristig kaum die nötigen Mittel haben, um den Menschen das zu liefern, was sie erwarten: Lösungen für ihre Probleme.
Basis? Welche Basis?
Medienkommunikation wird wichtiger, das Pro-gramm unwichtiger. In Zukunft wird es wohl nur noch um Wahlprogramme gehen. Und die werden in erster Linie von Spitzenkandidaten und Abgeordneten formuliert. Da wird Pragmatismus groß geschrieben - und Programmromantik ganz klein. Und die Basis muckt nicht auf. Basis? Welche Basis? Die klassische politische Debatte findet kaum noch statt. Streit in den Parteien gibt es im Osten fast nur noch um Posten. So können die Parteien im Windschatten zugkräftiger Spitzenleute in ungeahnte Höhen steigen - und ohne sie in den Abgrund stürzen. Wenn aber immer weniger Leute bereit sind, sich politisch zu betätigen, führt das ins Dilemma: Die Nachfrage nach Führungspersonen bleibt konstant, das Angebot nimmt ab. Im Ergebnis sinkt die Qualität. Im schlimmsten Fall wird das zu weiterer Desillusionierung beim Publikum füh-ren. Oder zu Begeisterung, wenn denn doch mal einer da ist, von dem die Leute glauben, er könne es. Seit der gummibestiefelte Umweltminister von Brandenburg den Oderdeich befestigte, ist er der Superstar der ostdeutschen Politik.
Was der Osten den Westen lehrt
Die neuen Ländern nehmen vorweg, wie es gesamtdeutsch in ein paar Jahren aussehen könnte. Zwischen Ostsee und Erzgebirge zerbröseln die Parteien, die ohnehin schon auf morschen Füßen stehen. Politische Inhalte und Prozesse müssen mit viel weniger Leuten unters Volk gebracht werden. Zugkräftige Personen ersetzen Programme, Mana-gementqualitäten werden wichtiger, Wählerkoali-tionen labiler, Medien als Transporteure unabdingbar. Wahlen werden unberechenbarer, Wahlkämpfe im Zweifel entscheidend. Politik im Osten ist "amerikanischer". Doch auch im Westen wird das Publikum ungeduldiger, die Parteien verlieren mehr aktive Mitglieder als sie gewinnen, Landesväter und Stadtmütter dominieren immer stärker die Politik.
Um zu überleben, müssen die Parteien ihre Arbeit und ihre Leute professionalisieren. Und sie müssen sich zugleich öffnen für kleine Initiativen und Projekte. Dabei können die westdeutschen Parteien von den ostdeutschen lernen. Aus verschiedenen Richtungen nähern sich beide Seiten einem gemeinsamen Zustand an. Und den Ostdeutschen kommt es vor, als würde Walter Ulbricht doch noch Recht bekommen: Der Osten wird den Westen überholen, ohne ihn einzuholen.