Die Menschen sind jetzt anders
Das bedeutet nicht, dass die Sozialdemokratie veraltet – sie kann in meinen Augen nicht veralten, weil sie schlicht eine politische Methode zur Aufrechterhaltung von gesellschaftlichem Frieden ist. Im Gegenteil haben sich sämtliche andere Parteien sozialdemokratische Ideen zu Eigen gemacht. Es gibt eigentlich gar keine nicht-sozialdemokratische Partei mehr. Den Satz „Die Armen sind selbst schuld“ dürfte auch ein eingefleischter Neoliberaler kaum mehr öffentlich äußern, ohne massakriert zu werden. Man könnte sagen: Die political correctness hat sich im Grunde mit sozialdemokratischen Ansätzen parallelisiert. Sozialdemokratie ist die Grenze des Erlaubten, und „rechts“ und „links“ bezeichnet jetzt Menschen, die das entweder schrecklich oder ganz in Ordnung finden. Für die SPD bedeutet das: Sie steht da mit einer aussterbenden Zielgruppe und einem politischen Programm, dass Allgemeingut geworden ist und sich nicht mehr zum kämpferischen Einfordern eignet.
2 Meines Erachtens gibt es nur eine Möglichkeit, um wieder auf die Beine zu kommen: Die SPD muss akzeptieren, dass sich das Menschenbild in unserer Gesellschaft wandelt, und dementsprechend ihre Politikangebote sowie die Rhetorik an die neue Bedürfnislage anpassen. Überspitzt formuliert: Was gestern der ausgebeutete Fließbandarbeiter bei Opel war, ist heute der sich selbst ausbeutende Freiberufler mit vier verschiedenen Jobs und ohne Krankenversicherung. Die Antwort der SPD auf diese Situation lautet: Die müssen alle in die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurückgeführt werden. Als ich einmal bei einem längeren Gespräch versuchte, Franz Müntefering zu erklären, dass der Freiberufler ein bestimmtes Lebenskonzept verkörpert, das nicht nur Ausdruck einer Notfallsituation ist, sondern für eine bestimmte Mentalität steht, die etwas mit freiem Zeitmanagement, mit Kommunikationstechnik, auch mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tun hat, antwortete er sinngemäß: Wer keinen festen Job will, dem können wir nicht helfen.
Es gäbe eine Menge zu tun, um das deutsche System an die veränderten Lebensbedingungen anzupassen. Das Steuersystem, die Kranken- und Sozialversicherungen, Gewerkschaften und so weiter sind für Menschen gedacht, die dem Ausbildungs- und Berufskonzept der fünfziger Jahre folgten: „Lern was Anständiges, dann kriegst du einen anständigen Job, und den hast du dann, bist du 65 Jahre alt bist und eine anständige Rente kassierst.“ Immer mehr Menschen werden von den Aussagen dieses Satzes nicht mehr erfasst – und viele wollen auch nicht erfasst werden. Sie finden in keiner Partei einen Ansprechpartner. Dieser Personenkreis ist die sozialdemokratische Zielgruppe der Zukunft.
3 Der Optimismus sagt: Die SPD wird irgendwann Politiker akquirieren, die dem Kreis ihrer neuen Zielgruppe entstammen, und dadurch wird wie automatisch eine Revitalisierung der Sozialdemokratie stattfinden. Leute wie Franz Müntefering und auch Gerhard Schröder kommen aus dem Milieu, für das die SPD immer gestanden hat – Arbeiterklasse und Kleinbürgertum. Man arbeitet sich hoch, geht irgendwann in die Politik. Vielleicht hat man studiert und wird dann zum freundlichen Intellektuellen, der für die Unterdrückten der Gesellschaft Politik macht und nie vergisst, wo er herkommt. Um sich (wenigstens teilweise) neu zu orientieren, braucht es Politiker, die die neuen Milieus, die neuen Denkweisen, Identitäten und Identifikationen von innen heraus verstehen. Vermitteln lässt sich das nämlich nicht. Nur wenn dieser Wandel gelingt – möglich ist er ohne weiteres – lässt sich die Sozialdemokratie wieder als zeitgemäßes Konzept begreifen. Allzu großer Pessimismus ist jedenfalls nicht angebracht, denn die anderen Parteien erleben ja ähnliche Probleme wie die SPD. Die Grünen sind momentan die einzige Partei, die auf ein beschreibbares, „neues“ Menschenbild zielt und jene Mischung aus politischem Programm und Lifestyle anbietet, mit der sich Wähler identifizieren können. «