Die Mitte ist weiblich

Die Parteien starren auf die wankelmütigen Mittelschichten. Doch stets sind es die Frauen, die in Deutschland darüber entscheiden, wer regieren darf. Eine kurze Geschichte weiblicher Wahlmacht

Wo ist sie denn nun, die Neue Mitte? Um die Zauberformel von 1998 ist es ein wenig still geworden. Die Sozialdemokraten beanspruchen die Mitte zwar weiterhin. Neu muss sie aber nicht mehr sein. Im historischen Rückblick mag ihr zweiter Dornröschenschlaf nicht ganz überraschen. Als Willy Brandt 1972/73 die Neue Mitte ausrief, löste er zunächst ähnlich lebhafte Diskussionen aus wie die SPD 1998. Zu Recht sprach Herbert Kemp, damaliger Chefredakteur der Welt, von "einer außergewöhnlich gefährlichen und deklassierenden Waffe gegen die Unionsparteien."

Die CDU protestierte im Bundestag gegen den Begriff und reklamierte das Urheberrecht zugleich für sich. Franz Josef Strauß machte sich sogar die Mühe, in zehn Geboten die Grundsätze jener Mitte zu definieren, "die wir sind und aus der wir uns nicht vertreiben lassen." Doch auch damals geriet das umkämpfte Schlagwort bereits zwei Jahre nach Brandts großem Wahlsieg in Vergessenheit. Was blieb, war die Mitte. Und die beanspruchte nun wieder zunehmend erfolgreich die Union.

War die neue-alte Mitte also tatsächlich nur ein rhetorischer Trick, bloß eine Wahlkampfstrategie, die nun zum zweiten Mal ihren Zweck erfüllte und in zwanzig Jahren vielleicht erneut hervorgezaubert werden kann? Natürlich war der semantische Kunstgriff vor allem ein emotionales Catchword. Beide Male sollte es die SPD neu positionieren und durch seine Vagheit alle integrieren, die sich nicht zu den ewig Gestrigen zählten. Und wer tut das schon? Besonders die umkämpften Wechselwähler sicher nicht.

Dennoch wäre es voreilig, die Diskussion über die neue Mitte allein bei den historischen Wahlslogans abzuheften. Leitworte würden keine Emotionen und Debatten auslösen, wenn sie nicht einen gesellschaftlichen Nerv träfen. Offensichtlich kam es sowohl 1972 als auch 1998 bei Parteien und Wählern zu Verschiebungen, die nur auf einen Namen warteten. Wer genau zur alten oder neuen Mitte gehörte, klärte natürlich keine der beiden Volksparteien genauer. Brandt sprach von einem neuen Bürgertypus, der Toleranz und geistige Freiheit beanspruchte. Und die Union bezog sich auf jene Menschen, deren Werte durch das christliche Menschenbild geprägt seien. Dabei wandten sich beide an jene wahlentscheidende Mittelschicht, zu der sich subjektiv fast alle Wähler zählten.

Bei der Suche nach der Mitte ist der Blick auf viele klassische Wählergruppen gefallen, die in bestimmten Phasen recht kollektiv ihre politischen Vorlieben ändern. Der alte und der neue Mittelstand, die Arbeiter, die Katholiken oder auch die jungen Wähler rechnete man regelmäßig zu jenen, die die Mitte bewegten. Recht selten dagegen wurde eine wesentlich größere Wählergruppe mit der ominösen Mitte assoziiert: die Frauen. Das verwundert. Denn zweifellos spricht viel dafür, dass die wahlentscheidende Mitte bislang im hohen Maße weiblich war. Schließlich waren es die Frauen, die die Erfolge der Union bis 1969 getragen hatten und später die Stabilisierung der CDU ermöglichten. Und es waren ebenfalls die Frauen, die durch ihr gewandeltes Wahlverhalten 1972 und 1998 für die neuen Mehrheiten mitverantwortlich waren.

Wie entstand die weibliche Mitte? Lange wurde das Wahlverhalten der Frauen durch ihre stärkere Frömmigkeit geprägt. Die Männer hatten sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert massenhaft in nationalen oder sozialistischen Vereinen, in Wirtschaftsverbänden oder Gewerkschaften gesammelt. Den sozialen und weltanschaulichen Bezugspunkt der Frauen dagegen bildete zunehmend die Kirche. Für die Entstehung der weiblichen Mitte hatte das Folgen. Zum einen förderte es die ideelle Anbindung der Frauen an das Ethos der Mitte. Gerade die Kirche war ja jene Institution, die seit jeher jene tugendhafte Mitte pries, die sich maßhaltend, harmonisch und vernünftig zwischen den Extremen bewährte. Zweitens stärkte die Kirche den sozialen Ausgleich. Während sich die Männer über nationale oder wirtschaftspolitische Fragen polarisierten, förderte das karitative Engagement der Kirchen zumindest symbolische Verbindungen zwischen den Schichten. Und drittens prägte die weibliche Kirchlichkeit nachhaltig die politischen Präferenzen der Frauen. Obwohl die Sozialdemokraten und die Kommunisten das Frauenwahlrecht ermöglicht hatten, sollten sie von den Wählerinnen weniger Zuspruch erhalten. Sie waren zu kirchenfeindlich, zu weit von der christlich geprägten Gesellschaft entfernt.

Anders sah es beim katholischen Zentrum aus, das in Weimar sicherlich die Partei der Mitte war. Bei der Zentrumspartei übertraf der weibliche Stimmenanteil den männlichen häufig um weit über die Hälfte. Während in einer katholischen Stadt wie Köln 1932 nur zwanzig Prozent der Männer das Zentrum wählten, waren es über 34 Prozent der Frauen. Bei den "Extremen" auf der Linken und Rechten überwogen dementsprechend gerade im katholischen Raum die Männer. Die evangelischen Frauen entschieden sich dagegen besonders für die konservative DNVP. Gerade das war aus heutiger Sicht zunächst sicher keine Partei der Mitte. Durch ihre kirchlichen Netzwerke ähnelte sie jedoch neben dem Zentrum noch am ehesten einer Volkspartei. Zumindest rhetorisch versprach auch sie einen Ausgleich zwischen dem zügellosen Kapitalismus und dem Sozialismus. Und angesichts des rasanten NSDAP-Aufstieges erschienen selbst die Deutschnationalen zunehmend als eine Partei, die sich verhältnismäßig stabil neben dem rechten Extrem bewährte.

Die Partei der weiblichen Mitte, das war die Christdemokratie

Nach 1945 trat die CDU/CSU nicht nur das Erbe des Zentrums an, sondern zunehmend auch jenes der protestantisch-konservativen Parteien. Damit knüpften die Christdemokraten genau an jene kirchennahen Parteiströmungen an, die sich vornehmlich auf die Stimmen der Frauen gestützt hatten. Dementsprechend verdankten auch Adenauer, Erhard und Kiesinger ihre Erfolge vor allem den Frauen. Die CDU wurde zur Partei der Mitte, war aber bei genauerer Betrachtung vor allem die Partei der weiblichen Mitte. Bis 1969 sollten ihre Ergebnisse bei den Wählerinnen immer rund zehn Prozentpunkte höher liegen. Und das lag nicht etwa an ihren Führungspersonen. Auch in den Bundesländern, in denen die Christdemokraten keine charismatischen Spitzenkandidaten besaßen, wählten die Frauen mit ähnlich starkem Überhang die Union. Dagegen fand die Linke bei Frauen ebenso geringeren Zuspruch wie die Kleinparteien, die sich immer wieder am rechten Rand des politischen Spektrums tummelten. Die Kriegsverluste verstärkten das Gewicht der weiblichen Mitte zusätzlich. Gerade die Frauen jüngeren und mittleren Alters waren in der frühen Bundesrepublik deutlich in der Überzahl. Für die Union waren sie ein ideales Zukunftspolster. Wäre es allein nach den Frauen gegangen, hätte die Union noch 1969 mit einer komfortablen absoluten Mehrheit regieren können. Bei einem reinen Männerwahlrecht hingegen hätten die Sozialdemokraten bereits im Laufe der sechziger Jahren die Nase vorn gehabt.

Dabei fühlten sich die Frauen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ enger mit der Union verbunden: Die "starken Anhänger" der CDU, die etwa 1957 eine Allensbach-Studie ausmachte, bestanden etwa zu zwei Dritteln aus Frauen. Auch zwischen den Bundestagswahlen sprachen sich Frauen deutlicher für die Union aus als die Männer, deren Parteipräferenz offenbar stärker schwankte. Die Wahlentscheidung der Frauen hing zudem viel weniger als bei den Männern von ihrer Berufsgruppe ab. Bei den Männern wählten die Arbeiter ganz überwiegend die SPD, die Angestellten, Selbstständigen und Beamten dagegen die Union. Dagegen blieb besonders bei den katholischen Frauen der berufsspezifische Unterschied wesentlich kleiner. Die frühe CDU war also weniger die Partei der katholischen Arbeiter als die Partei der katholischen Arbeiterinnen. Damit löste die Union ihren Anspruch, eine Volkspartei aller Berufsgruppen zu sein, vor allem bei den Wählerinnen ein.

Selbstverständlich beruhten die frühen Unionserfolge nicht darauf, dass die CDU die Frauen besonders förderte. Ganz im Gegenteil: In den Parteigremien und bei Mandaten berücksichtigte sie Frauen kaum. Deren Anteil betrug fast immer rund sieben Prozent. Führende Posten blieben für sie selbst per Proporz lange unerreichbar. Erst 1961 ernannte Adenauer, nach langem Zögern, die erste Bundesministerin. 1967 durfte die erste Frau in den Kreis der stellvertretenden Parteivorsitzenden treten. Kaum frauenfördernd war sicher auch die christdemokratische Regierungspolitik. Immerhin sollte es bis zum Wahljahr 1957 dauern, bis die Union nach heftigen Debatten ein Gleichberechtigungsgesetz verabschiedete, das die umfassende Entscheidungsmacht des Ehemannes einschränkte.

"Wir haben die richtigen Männer", versprach die SPD noch 1969

Entscheidend war aber, dass die Union weiterhin die enge Anbindung an das kirchliche Vorfeld pflegte. Die Christdemokraten definierten die Mitte als eine christliche Wertegemeinschaft und umschlossen so überwiegend die Frauen. Die Gottesdienste, das christliche Vereinsleben und die kirchlichen Alltagskontakte garantieren noch lange die emotionale Nähe zwischen der Union und der weiblichen Mehrheit. Dementsprechend standen nahezu alle führenden Christdemokratinnen auch kirchlichen Verbänden vor. Sie verfügten so über ein Vereinsnetz, das man neben den oft zitierten Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden nicht unterschätzen sollte. Die konfessionellen Milieus begannen zwar seit den fünfziger Jahren zu erodieren. Neben der Säkularisierung machte man vor allem die Gründung der Einheitsgewerkschaft für diesen Annäherungsprozess verantwortlich. Allerdings betraf das zunächst vornehmlich die Männer: 1961 gab etwa die Hälfte der Frauen an, regelmäßig in die Kirche zu gehen, aber weniger als ein Drittel der Männer. Bei den Frauen, die ohnehin seltener den Gewerkschaften beitraten, hielten sich die alten Milieubindungen eben noch wesentlich länger. Und gerade diese Bindungen garantierten, wie schon in der Weimarer Republik, dass die weibliche Mitte auch in der Krise nach Adenauers Rücktritt weiter stabil blieb.

Der sozialdemokratische Weg zur Mitte führte über verschlungene Pfade. Die SPD nahm die Frauen jedoch sicher nicht deswegen für sich ein, weil sie ihnen eine größere politische Mitsprache zugestand. Da unterschieden sich die Sozialdemokraten zunächst kaum von der Union. Noch 1969 warb die SPD mit dem Slogan "Wir haben die richtigen Männer". Dass auf dem dazugehörigen Plakat auch Käthe Strobel als die einzige angehende Bundesministerin posierte, fiel kaum auf. Und niemals in der Geschichte der Sozialdemokratie war der Frauenanteil der Bundestagsfraktion so gering wie zwischen 1969 und 1980. Ebensowenig ließen sich die Wählerinnen vom Kennedy-Image des jugendlichen Willy Brandt einnehmen, wie viele Männer vermuteten; das zeigt bereits der vergleichende Blick auf die Landtags- und Bundestagswahlergebnisse. Und schließlich wussten die Sozialdemokraten seit 1919, dass eine Verbesserung der Frauenrechte nicht unbedingt einen Zuwachs an weiblichen Stimmen einbringt.

Entscheidend für die Verschiebung der weiblichen Mitte war zunächst, dass die Sozialdemokraten sich seit den sechziger Jahren zunehmend mit den Kirchen aussöhnten. Nicht die oft zitierten "gewerkschaftlichen Multifunktionäre", sondern die kirchlich engagierten Sozialdemokraten in den Gemeinden dürften die neuen Wählerinnen erobert haben. Gleichzeitig lockerte der neuartige Säkularisierungsstoß die kirchlichen Bindungen zur Union. Der generationelle Umbruch verstärkte diese Entwicklung, die bisherige Werte verschob. Vor allem die geburtenstarken Jungwählerinnen der Nachkriegsjahrgänge, die im geringeren Maße durch das Kirchenumfeld sozialisiert worden waren, wandten sich seit 1969 zunehmend von der Union ab und der SPD zu. Zusammen mit Brandts außenpolitischen Erfolgen führte das dazu, dass die weibliche Wählerschaft sich 1972 erstmals verschob. Der zehnprozentige Unterschied, der bislang zwischen den weiblichen Stimmen bei den Volksparteien bestanden hatte, löste sich nun schlagartig in ein Gleichgewicht auf.

Geißlers "Neue Soziale Frage" brachte die CDU wieder nach vorn

Es ist heute nachrangig, ob man diesen dramatischen Umbruch auf den Begriff der "neuen" Mitte bringt oder nicht. Wichtig war der Umbruch selbst. Die internen Wahlanalysen der CDU hoben das mit bemerkenswerter Dramatik hervor und verlangten eine konsequentere Einbindung der Frauen. Die christdemokratischen Frauen erklärten die Verluste damit, dass die CDU ihr soziales Profil vernachlässigt habe und verlangten mit Nachdruck Korrekturen. Tatsächlich unternahmen die Christdemokraten in den siebziger Jahren einige Anstrengungen, um ihr weibliches Wählerpolster zurückzugewinnen. Frauenvereinigung, Junge Union und christliche Arbeitnehmerschaft gingen nun Bündnisse ein, um das innerparteiliche Gewicht in Richtung der verlagerten Mitte zu verschieben. Programmatisch trat unter Helmut Kohl die Außenpolitik in den Hintergrund, die Familien- und Bildungspolitik dagegen gezielt nach vorne, um junge und weibliche Wähler anzusprechen. Die von Heiner Geißler aufgeworfene "Neue Soziale Frage" arbeitete ausführlich die Probleme von allein erziehenden Müttern und Witwen heraus und forderte Abhilfe. Ähnlich wie heute verlangte die CDU auch in ihrer ersten Oppositionsphase hohe Erziehungsgelder, um sich familienpolitisch zu profilieren. Und selbst der christdemokratische Kampf gegen eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruches war nicht unbedingt kontraproduktiv. Denn schließlich kooperierte sie hier mit den Kirchen, die noch immer die politische Kultur vieler Wählerinnen prägten.

Bis 1976 konnte die Union so einen Teil der jüngeren Wählerinnen zurückgewinnen. Die Reideologisierung in der Sozialdemokratie erleichterte dies. Denn trotz des pragmatischen Kanzlers verlor die SPD als Partei häufig jene ausgleichende Mitte, die sie gerade erst gefunden hatte. Die Achtundsechziger, die nun in die Partei strömten, bescherten ihr vor allem männliche Wortführer. Frauen erhielten dagegen kaum führende Posten. Wie bei der Union mussten sie sich mit einem einzigen Ministerium zufrieden geben und durften nicht einem Bundestagsausschuß vorstehen. Die 1972 gegründete "Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen" konnte das kaum kompensieren. Hier dominierten nun eher die Konflikte zwischen feministischen Jungakademikerinnen und älteren Genossinnen. Wer die wahlentscheidende weibliche Wählerschaft in Zukunft übernehmen sollte, war damit wiederum offen.

Bei der Wahl von 1980 zeigte sich erneut, wie wirkungsmächtig die Frauen auf Verschiebungen in der Mitte reagierten. In diesem Jahr stellte die Union mit Franz Josef Strauß einen Kandidaten auf, der gerade nicht mehr für den maßvollen Ausgleich der politischen Mitte stand. Strauß mied die christdemokratischen Leitbegriffe Gerechtigkeit und Solidarität und wetterte statt dessen gegen die "Neue soziale Frage", die nur unnötige Kosten beschere. Zugleich rückte er wieder die Außen- und Sicherheitspolitik nach vorn und verstieg sich in wüste Bedrohungsszenarien. So bedrohten seine polarisierenden Reden das Gleichgewicht, das Kohl und Geißler unter den Parteiflügeln mühevoll austariert hatten. Die Frauen quittierten das mit außergewöhnlich starker Abkehr von der Union. Besonders jüngere Frauen waren nicht bereit, den von Strauß forcierten Rechtsruck mitzutragen. Damit wurde die Union zum ersten und einzigen Mal in ihrer Geschichte häufiger von Männern als von Frauen gewählt.

Freilich war nicht Strauß alleine für diesen erneuten Rückschlag verantwortlich. Um 1980 kam es wie in den späten sechziger Jahren zu gesellschaftlichen Verschiebungen, auf welche die Union zu zögerlich reagierte. Das Verhältnis zu den Kirchen war unter Kohls Vorsitz nicht spannungsfrei geblieben. Besonders in der Ost-, der Sicherheits- und der Entwicklungspolitik kam es zu Reibungen, vor allem mit der protestantischen Kirche. Die neue Friedens- und Anti-Atomkraftbewegung, in der sich auch Geistliche engagierten, verstärkte die Differenzen. Zugleich führten diese sozialen Bewegungen einen Teil der bisher bürgerlich geprägten weiblichen Mitte weiter von der Union fort.

Gleichberechtigte Partnerinnen waren Frauen für Helmut Kohl nicht

Die CDU der achtziger Jahre war damit erneut vorgewarnt. Ihr Kanzler Helmut Kohl gehörte sicher nicht zu denen, die Frauen als gleichberechtigte politische Partnerinnen ansahen. Mit Ausnahme seiner Sekretärin Juliane Weber gehörte in seiner langen Karriere keine Frau zu seinen informellen Entscheidungszirkeln. Und ähnlich wie die Sozialdemokraten beschränkte er sich zunächst auf eine einzige Proporzministerin, während leitende Posten in Partei und Fraktion fast ausschließlich an Männer gingen. Immerhin tolerierte es Kohl, wenn andere sich um Zielgruppen bemühten. Erneut war es sein Generalsekretär Heiner Geißler, der mit feinem Gespür die Frauenfrage aufgriff und sie zunächst wie niemand sonst in der Union vorantrieb. Geißler stärkte entsprechende Themen in der Familien- und Sozialpolitik, veranstaltete basisnahe Friedenstage und organisierte mit der Frauenvereinigung 1985 einen Bundesparteitag, auf dem die CDU das Thema Gleichberechtigung zu besetzen versuchte. Fünfhundert extern geladene Frauen debattierten in Essen mit den Delegierten über die verhältnismäßig progressiven "Leitsätze für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau". Sogar Alice Schwarzer trat auf und zollte den Leitsätzen eine gewisse Anerkennung. Zudem sollten nun laufende Berichte kontrollieren, ob die CDU Frauen ihrem Mitgliederanteil entsprechend in Führungsposten berücksichtigte. Viele konservative Christdemokraten äußerten sich noch lange abfällig über den "Essener Emanzenparteitag". Ebenso missmutig reagierten sie auf die selbstbewusste neue Familienministerin Rita Süssmuth, die Kohl an der CDU-Frauenvereinigung vorbei gefördert hatte. Aber Kohl und Geißler erreichten durch all diese Schritte immerhin, dass die Union zumindest einen Teil der abbröckelnden weiblichen Mitte weiter halten konnte. Angesichts der schwindenden Macht war der weibliche Stimmenüberhang von rund 1,3 Millionen 1987 noch eine wichtige Stütze. Die CSU zeigte in dieser Frage zwar wenig Engagement, konnte sich aber weiterhin stärker auf ihre katholischen Vorfeldbindungen verlassen.

Die einstige weibliche Mitte war nun jedoch zunehmend zersplittert. Vor allem die Jungwählerinnen kamen der Union dauerhaft abhanden. Sie entschieden sich zunehmend für die Grünen, bei denen die Frauen in bisher ungekannter Weise Ämter und Mandate erhielten. Die Grünen warfen zudem nicht nur frauenspezifische Fragen auf, sondern konnten auch an ein soziales Vorfeld anzuknüpfen, wie es einst die Union monopolisiert hatte. Entgegen landläufiger Meinung waren die Grünen in den achtziger Jahren jedoch noch keine Partei, die mehrheitlich von Frauen getragen wurde. Sowohl bei den Mitgliedern, den Amts- und Mandatsträgern als auch bei den Wählern überwogen insgesamt die Männer. Selbst bei den frauenfreundlichen Grünen hielten sich die Wählerinnen verhältnismäßig zurück, solange sie am Rand standen, fernab der Mitte.

Die akademische GEW-Frau als sozialdemokratisches Leitbild

Gleichzeitig erfuhr die Sozialdemokratie eine historische Transformation, die sie weiblicher machte. Ökologie- und Friedensfragen überlagerten die alte Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapital, um die vornehmlich Männer gestritten hatten. Nicht der Kohlekumpel und Metallarbeiter, sondern die akademische GEW-Frau war seit den achtziger Jahren das neue sozialdemokratische Leitbild. Zusammen mit der 1988 eingeführten 40-Prozent-Quote schuf dies schrittweise eine neue Sozialdemokratie, die wesentlich weiblicher war. Die Frauen quittierten dies und wählten sie nun in allen Altersgruppen ähnlich stark wie die Männer. Dagegen schien in der krisengeschüttelten CDU 1989 die Machtfrage zu Ungunsten der Frauen entschieden. Nachdem die Delegierten auf dem berühmten Bremer Parteitag Köpfe wie Geißler, Fink und Süssmuth abserviert hatten, schien der Rückgewinn der Wählerinnen so fern wie nie.

Auch beim Kampf um die weibliche Mitte war es die Wiedervereinigung, die die Karten neu mischte. Sie rettete Kohl aus einer tiefen Krise und bremste zugleich die wachsenden Verluste bei den Frauen. Denn mit der Ost-CDU fiel der Union eine von Frauen getragene Partei in den Schoß wie es sie bislang nicht gegeben hatte. Immerhin knapp die Hälfte ihrer Mitglieder waren weiblich. Und diese waren zugleich auch noch wesentlich jünger als die Christdemokratinnen im Westen. Die kirchliche Nähe, aber auch der insgesamt höhere weibliche Organisationsgrad hatte in der DDR zu diesem Frauenanteil geführt, der sich schon in der Nachkriegszeit angedeutet hatte. Junge Politikerinnen aus dem Osten wie Angela Merkel und Claudia Nolte sollten dieses neuartige Potential dann auch auf Bundesebene vertreten. Die Wiedervereinigung bescherte jedoch nicht nur weibliche Mitglieder, Wähler und Politikerinnen. Sie leitete zugleich eine frauenpolitische Kursrevision ein, die sonst kaum möglich gewesen wäre. Insbesondere in der Frage des Schwangerschaftsabbruches musste sich die Union nun zu einer mühsamen Reform durchringen. Gleichstellungs- und Familiengesetze folgten. Und schließlich gelang es Rita Süssmuth, mit Kohls Unterstützung unter Mühen eine Drittel-Quote für Frauen einzuführen.

Unbeweglich war die CDU also nicht. Aber im gewandelten politischen Feld der neunziger Jahre kamen diese Reformen zu zögerlich und anscheinend auch zu spät, um weiterhin eine weibliche Wählermehrheit zu binden. Mittlerweile gewährten mit der SPD, der FDP, der PDS und den Grünen vier Bundestagsparteien den Frauen mehr Rechte und deutlich mehr Ämter und Mandate. Damit geriet die Union in eine Randlage. Das Quorum brachte dagegen nur Unfrieden und wurde in den ersten Jahren zögerlich umgesetzt. Besonders in den neuen Bundesländern blieben die Christdemokratinnen im Verhältnis zu ihrem Mitgliederanteil einflusslos. Auf der Bundesebene sah Kohl dagegen weiterhin davon ab, gleichberechtigte, starke Politikerinnen zu fördern. Während Rita Süssmuths Stern sank, blieben die ostdeutschen Ministerinnen durchsetzungsschwach. Und eine "junge Wilde", die ambitioniert ein Bundesland übernehmen wollte, zeichnete sich nirgendwo ab. Dafür waren viele Wählerinnen von den Kürzungen in der Sozialpolitik verunsichert, während Zusicherungen wie der garantierte Kindergartenplatz nur schleppend umgesetzt wurden.

Heute fehlen der Union die treuen Wählerinnen der Ära Adenauer

So verlor die CDU 1998 bei den Wählerinnen über sieben Prozent. Verantwortlich dafür waren aber nicht nur Personalien und Gesetze. Nicht minder bedeutsam war der nun einsetzende demografische Umbruch, der sich seit einigen Jahrzehnten drohend angekündigt hatte. Die Union hatte stets von jenen Frauen profitiert, die vor 1930 geboren waren - eben jenen Jahrgängen mit millionenfachen Frauenüberschuss, deren männliche Generationsgenossen im Krieg gefallen waren. Sie waren noch im alten kirchlichen Milieu aufgewachsen, hatten den Wiederaufstieg unter Adenauer erlebt und gehörten zu den treuesten Unionsanhängern überhaupt. Wie die heutige Alterspyramide zeigt, wurde nun jedoch gerade diese bislang große Gruppe spürbar kleiner. Gleichzeitig entschieden sich aber Frauen aus den geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen trotz zunehmenden Alters nicht mehr für die Union. Vielmehr erlebte die CDU/CSU 1998 gerade in der Alterskohorte der 45- bis 60-jährigen einen besonders dramatischen Verlust von über zwölf Prozent. Offensichtlich waren diese Jahrgänge so sehr vom Geist der sechziger Jahre geprägt, dass sie im höheren Maße dauerhaft zur SPD fanden. Mit dieser Altersverschiebung hatte sich die weibliche Mitte erneut nachhaltig bewegt. Teils durch hausgemachte Versäumnisse der Union, teils durch gesellschaftliche Veränderungen, bei denen guter Rat teuer ist.
Die demografische Entwicklung beschert der Union sicherlich ihre schwerste Herausforderung. Ebenso nachdenklich sollte die Christdemokraten aber stimmen, dass kaum noch Frauen mit Abitur die bürgerliche, leistungs- und kulturbewusste Union wählen. Gerade 28 Prozent der ehemaligen Gymnasiastinnen entschieden sich 1998 für die Christdemokraten - bei den Frauen mit Hauptschulabschluss waren es 39 Prozent. Unter kommunikationsstarken Meinungsführerinnen wird die Union damit zunehmend schlechter vertreten sein.

Die Neue Mitte ist mehr als der männliche Mittelstand

Umgekehrt kann die rot-grüne Regierung mitnichten auf eine quasi automatisch anwachsende Frauenmehrheit vertrauen. Bei der Rückeroberung der Mitte hat die CDU bisher viele Fehler gemacht. Jedoch nirgendwo dürfte sie in den letzten beiden Jahren so unverkennbare Akzente gesetzt haben wie bei der Stärkung der Frauen. Zum einen setzt die Union - ähnlich wie nach 1972 - ihren Oppositionsakzent auf familienpolitische Maßnahmen, um soziale Kompetenz zu gewinnen. Die Forderung nach einem monatlichen Erziehungsgeld von 1.200 Mark richtet sich vor allem an die Wählerinnen. Zum anderen spielen Frauen in der CDU nach Kohl eine ganz neue Rolle. Das gilt natürlich in erster Linie für ihre Vorsitzende Angela Merkel. Als geschiedene, promovierte und weltanschaulich pragmatische Protestantin ist sie zweifelsohne ein Symbol für einen Frauentypus, bei dem die Union bisher große Defizite hat.

Als Kanzlerkandidatin oder erste Stellvertreterin eines Doppelgespannes wird Angela Merkel vermutlich gezielter Wechselwählerinnen ansprechen können als Gerhard Schröder. Gleichzeitig fördert Merkel nicht nur Frauen, sondern holt sie auch in ihre informellen Entscheidungszirkel. Gerhard Schröders Beraterkreis hingegen ist wie schon der von Helmut Kohl rein männlich. Langfristig dürfte das viele Genossinnen frustrieren. Zudem zeigen die christdemokratischen Vorstandslisten, dass die Frauen-Quote der CDU nunmehr in Bund-, Ländern und Kommunen greift. Der erste Vorsitz geht zwar selbst auf der Kreisebene weiterhin vornehmlich an Männer. Aber zumindest der Anteil der Kreisgeschäftsführerinnen (27 Prozent) lässt auch auf der kommunalen Ebene Veränderungen erwarten.

Falls die SPD nicht wie in den siebziger Jahren ihren Anspruch auf die Mitte verspielen will, sollte sie also nicht vergessen, dass die Mitte eben keineswegs allein im eher männlichen konnotierten Mittelstand ruht. Umgekehrt sollten sich Christdeokraten daran erinnern, dass die von ihnen besetzte Mitte vorwiegend aus Frauen bestand, deren Zahl die ihrer männlichen Mitbürger auch heute noch um zwei Millionen übersteigt. Und am Wahltag gilt schließlich jene Gleichheit, die viele Wählerinnen an der Union zuletzt so vermissten.


Am 9. Oktober dieses Jahres erscheint in der Deutschen Verlags Anstalt (München) das neue Buch von Frank Bösch: "Die Adenauer-CDU: Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei". Ca. 450 Seiten kosten 59,80 Mark.

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