Die zweite Chance der Angie M.

Angela Merkel gilt in der Union als Gewinnerin. Sie hat die Partei im Wahlkampf geschlossen gehalten. Doch in den kommenden Jahren steht die Öffnung der Partei zur Gesellschaft auf dem Programm. Das könnte sich als die schwerere Aufgabe erweisen

Innerhalb der Union gilt Angela Merkel als die eigentliche Siegerin der Wahl. Die als Übergangsvorsitzende belächelte Ostdeutsche scheint damit endgültig in die Fußstapfen Helmut Kohls zu treten. Auch der hatte in der schweren Krise von 1973 zunächst nur den Parteivorsitz übernommen. Aus der Fraktion hielt er sich ebenfalls zunächst heraus, da er hier weniger Rückhalt fand. Erst nach der gescheiterten Bundestagswahl übernahm Kohl dann jene Doppelspitze, die ihm langfristig den Weg zur Kanzlerschaft sicherte.


Hat Angela Merkel nun also tatsächlich eine ähnliche Machtfülle erreicht wie einst der junge Kohl? Der Blick in die erste Oppositionsphase der CDU unterstreicht eher Merkels Defizite. Im Unterschied zum jungen Helmut Kohl ist ihr bisher keine Parteireform gelungen. Trotz hoffnungsvoller Ansätze blieb die programmatische und organisatorische Erneuerung schnell stecken. Vergleichbar loyale Netzwerke wie seinerzeit Kohl hat sie ebenfalls nicht aufgebaut. Kohl hatte zudem als Ministerpräsident seine politischen Führungsqualitäten bewiesen. Derartige Erfahrungen brachten bisher alle Kanzler seit Kiesinger mit. Angela Merkel dagegen stützt nur der Parteivorsitz. Diese Stütze hat sich jedoch im vergangenen Jahr als recht brüchig erwiesen. Innerparteilichen Respekt hatte sich Kohl 1976 auch durch ein extrem gutes Wahlergebnis verschafft. Die dürftigen Unionsgewinne von 2002 beruhen dagegen vor allem auf dem hervorragenden Ergebnis der CSU. Obwohl Angela Merkel die neuen Bundesländer repräsentiert wie kein anderer Spitzenpolitiker, konnte sie das schlechte Ergebnis dort nicht verhindern. Selbst ihren neuen Posten an der Spitze der Fraktion verdankt sie letztlich sogar Edmund Stoibers Votum. Mit dem CSU-Vorsitzenden hat sie zur Zeit einen starken Rückhalt. Sollte der allerdings wegbrechen, wird sie einer stark angewachsenen und selbstbewussten CSU-Landesgruppe gegenüber stehen, die schwer zu bändigen ist.

Wird Merkel ein zweiter Kohl?

Natürlich darf man Angela Merkel nicht erneut unterschätzen. Helmut Kohl war ein machtbewusster und fleißiger Generalist, mit dem zunächst niemand allzu sehr rechnete - dasselbe gilt für Angela Merkel. Wie ihr großer Vorgänger wird sie zwar in mancher Haushaltsdebatte ins Schwimmen kommen. Aber letztlich kommt es - wie das Scheitern von Edmund Stoiber und Friederich Merz unterstreicht - eben weniger auf präzise Zahlenkenntnis an. Entscheidend für den Erfolg von Vorsitzenden ist weiterhin, ob sie im Stande sind, unterschiedliche Parteigruppen nicht allein fachlich, sondern auch emotional und inhaltlich zu integrieren. Hier liegt ihre Chance, vielleicht doch die richtige Frau am richtigen Platz zu sein.


Angela Merkels bisherige Arbeit deutet an, dass sie die christdemokratischen Koordinaten verschieben wird. Der klassische Antikommunismus der Union, der bisher alle Wahlkämpfe begleitet hat und - ganz entgegen seiner Absicht - das Leben der PDS verlängerte, ist bei dieser Wahl bereits deutlich zurückgetreten. Lediglich bei Helmut Kohls Parteitagsrede zum 17. Juni blitzte er noch einmal mit alter Schärfe auf. Sollte die rot-grüne Koalition ihre Mehrheit langfristig sichern können, muss die Union vermutlich sogar vom Lagerwahlkampf abrücken. Denn Herausforderer siegten bisher stets eher durch eine Anlehnung an die vorhandene Mehrheit. Davon profitierte auch Gerhard Schröder 1998. Für eine derartige Annäherung an die Regierung steht eher Angela Merkel - und nicht etwa Roland Koch oder Edmund Stoiber.


Angela Merkels Doppelspitze verspricht eine Liberalisierung der CDU. Als Fraktionsvorsitzende kann sie einige Reformen politisch vorantreiben, die sie als Parteivorsitzende programmatisch begonnen hat. Wie im Wahlkampf wird sie weiterhin auf die Arbeitsmarktpolitik und die Mittelstandsförderung setzen. Aber im Unterschied zu Merz oder zu Stoiber steht sie für eine breitere Themenpalette, die auch die so genannten weichen Politikfelder einschließt. Vor allem die Familienpolitik und der Umweltschutz dürften unter ihrem Fraktionsvorsitz an Bedeutung gewinnen. In ihrer ersten Erklärung zählten sogar die Menschenrechte zu den neuen Schwerpunkten.


Die Auswertung des Wahlergebnisses wird ihr für diesen Akzentwechsel allerlei Argumente liefern. Denn obwohl Edmund Stoiber mit einigem Erfolg die Fehler von Strauß′ Wahlkampf von 1980 vermieden hat, weist sein Resultat ähnliche Schwächen auf. Wieder waren es die Norddeutschen, die jüngeren Wähler und die Frauen, die den Kandidaten aus Bayern um den Wahlsieg brachten. Und abermals stimmten die christlich-sozial geprägten Nordrhein-Westfalen vergleichsweise zurückhaltend für den CSU-Mann. Trotz idealer Ausgangsbedingungen legte die CDU vielmehr in dem größten Bundesland nur einen einzigen Prozentpunkt zu. Die Verluste bei den Frauen, bei der jüngeren Generation und bei den Norddeutschen sind dabei nicht allein Edmund Stoiber zuzuschieben. Sie beruhen zugleich auf strukturellen Defiziten der Unionsparteien. Um sie für 2006 zu rüsten, wird sich Angela Merkel frühzeitig um diese abtrünnigen Wählergruppen kümmern müssen.


Der kontinuierliche Abfall der Wählerinnen ist für die Union besonders schmerzlich. In den vergangenen Jahrzehnten ist ihr weiblicher Stimmenüberhang nahezu kontinuierlich zusammengeschmolzen. Diesmal entschieden sich bei den Frauen nur noch 36 Prozent für die Union, dagegen 41 Prozent der Männer (Daten nach FGW). Die stärkere Kirchenbindung der Frauen, die bislang gute Ergebnisse sicherte, macht sich nur noch bei den westdeutschen Frauen von über 60 Jahren bemerkbar. Die Verluste bei den Wählerinnen sind für die CDU um so schmerzhafter, als sie bereits viele Verbesserungen eingeleitet hatte. Immerhin sind die Vorsitzenden von Bundespartei, Junger Union und RCDS weiblich. In den Vorständen hatte ihr Quorum den Frauenanteil erhöht. Und familienpolitisch hatte die CDU unter Angela Merkel bereits einige Vorschläge gemacht, um Erziehungsphasen zu erleichtern.

Ein "Netzwerk" hat die Union nicht

Angesichts des Wahlergebnisses kann Merkel nun mit guten Argumenten die Liberalisierung der Frauen- und Familienpolitik vorantreiben. In symbolischen und grundsätzlichen Fragen wie dem § 218 wird die Union ihre bisherige Position halten. Hier würde jede Reform die Partei zerreißen. Aber vor allem in den Fragen der Ganztagsbetreuung und der Förderung weiblicher Berufstätigkeit wird die Union womöglich umdenken. Mit Jürgen Rüttgers, Peter Müller und Christian Wulff hat Angela Merkel dabei wichtige Verbündete in der Partei. Ob sie sich in derartigen Fragen auch in der Fraktion durchsetzen kann, ist bisher nicht abzusehen. Der weiterhin geringe Frauenanteil in der CDU/CSU-Fraktion, der wieder nur ein gutes Fünftel beträgt, belegt den Handlungsbedarf.


Ebenso wird die Union neue Konzepte entwickeln müssen, um die jüngeren Wähler stärker anzusprechen. Die neuen Abgeordneten der CDU/ CSU-Fraktion sind zwar etwas jünger als die sozialdemokratischen. Aber in ihrem öffentlichen Erscheinungsbild ist die Union eine Partei der Alten geblieben. Ein "Netzwerk" oder ein offenes pubizistisches Diskussionsforum der jüngeren Generation wie die Berliner Republik besitzt sie nicht. Viele Christdemokraten sind zu misstrauisch, um jene Arten von Öffnung zu wagen, die doch bei ihnen früher recht selbstverständlich waren.

Die Jugend setzt auf Familie und Sicherheit

Mit den spärlichen dreißig Prozent, welche die Union von den 18 bis 24-Jährigen erhielt, blieb die Partei sicher deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück. Denn so schlecht sind ihre Ressourcen bei den Jungwählern nicht. Die Junge Union ist die mit Abstand stärkste Jugendorganisation. Durch ihre enge Zusammenarbeit mit der Mutterpartei ist sie eine gute Stütze. Die gesellschaftliche Entwicklung scheint ebenfalls für die Union zu sprechen. Wie zuletzt die Shell-Studie unterstrich, stehen bei den Jungwählern zunehmend bürgerliche Werte wie Leistung, Familie und Sicherheit im Vordergrund. Im Unterschied zu den vorherigen Landtagswahlen konnte die Union dennoch nicht davon profitieren. Die Ursachen liegen ebenfalls nicht allein im konservativen Image Edmund Stoibers. Es war vermutlich auch die politische Sprache der Union, die der jungen Generation fremd blieb. Die Unionsrhetorik kreiste fast ausschließlich um die "Förderung des Mittelstandes" und die "Entbürokratisierung", welche die Probleme der Republik lösen sollten. Auch wenn jede sprachliche Anbiederung an den Jugendslang nur peinlich sein kann, blieb die Sprache der Union zu technokratisch. An Angela Merkel mögen viele Christdemokraten kritisieren, dass sie nicht wie eine geborene Wirtschaftspolitikerin wirkt. Aber um politikferne Gruppen wie die jüngere Generation anzusprechen, dürfte gerade ihr Profil vielversprechender sein.


Schließlich muss die Union vor allem über die Nord-Süd-Spaltung ihrer Ergebnisse nachdenken. Der katholisch geprägten CDU war es in den fünfziger Jahren unter großen Anstrengungen gelungen, die norddeutschen Protestanten dauerhaft einzubinden. Dies erreichte sie durch zahlreiche programmatische und personelle Zugeständnisse. Auch unter Kohl erhielt etwa der Schleswig-Holsteiner Gerhard Stoltenberg sogleich eine herausgehobene Stellung. Genau iese symbolische Integrationspolitik jedoch hat die Union seit den neunziger Jahren vernachlässigt. Der Kern der Parteispitze blieb südwestdeutsch. Nur einzelne symbolträchtige Posten gingen an Ostdeutsche. Auch in Stoibers "Kompetenzteam" war der Schleswig-Holsteiner Carstensen nur ein einsamer Proporzmann zwischen den Baden-Württembergern Schäuble, Späth und Schavan. Zugleich verlieren die guten Wirtschaftsdaten von Bayern und Baden-Württemberg ihre Ausstrahlungskraft, wenn sie zur Entsolidarisierung der Bundesländer genutzt werden. Besonders die Klage gegen den Länderfinanzausgleich war da wenig hilfreich. Früher reüssierten die Christdemokraten gerade durch ihre Großzügigkeit - nun droht ihnen das Image der reichen, aber knauserigen Süddeutschen.

Stoibers Kruzifixe sind dem Norden fremd

Angela Merkel könnte hier ebenfalls eine Wende einleiten und die Union wieder auf den Norden und Osten ausrichten. Das "hohe C" wird weiter der einigende Band der Union bleiben. Angela Merkel verkörpert aber immerhin jene säkularisierte Form des Glaubens, die den protestantisch geprägten Ländern etwas vertrauter ist. Mit Kruzifixen in der Schule mag Edmund Stoibers CSU ihre eigenen Wähler mobilisieren. Im Norden bleibt derartiges selbst vielen bürgerlichen Wählern suspekt - vom Osten ganz zu schweigen.


Für die aktuellen Probleme der Union ist Angela Merkels somit die richtige Spitze. Ein Politiker wie Roland Koch hingegen dürfte jenseits der eigenen Partei ähnliche Abstoßungsreaktionen auslösen wie Edmund Stoiber. Fraglich scheint zur Zeit allerdings, ob Merkel tatsächlich das notwendige Machtreserven besitzt, um neue Akzente zu setzen. Im Wahlkampf hat sie geglänzt, indem sie die Union geschlossen hielt. Nun muss sie die Öffnung der Partei erreichen. Vielleicht ist das die schwierigere Aufgabe.

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