Die nächsten 140 Jahre

EDITORIAL

"Irgendwo bin ich auch stolz, dass das eine Partei ist, die es sich nicht einfach macht", sagt Gerhard Schröder über die deutsche Sozialdemokratie. Er hat völlig Recht. Es herrscht viel Unruhe in der SPD in diesen Monaten. Und wo sich diese Unruhe obendrein mit Orientierungs- oder Mutlosigkeit paart, da ist ihre Wirkung gewiss nicht immer besonders hilfreich bei der Erledigung der Regierungsgeschäfte. Dennoch sind die neuerdings ausgebrochenen Debatten um den künftigen Kurs der Sozialdemokratie - noch weitgehend unerkannt - eine enorme Chance für diese Partei. Ja, sie sind die vielleicht größte Chance der SPD seit etlicher Zeit. Dass die Sozialdemokratie im 140. Jahr ihres Bestehens auf einmal wieder über Ideen vom richtigen Weg in die Zukunft streitet, ist für sich genommen ein zutiefst ermutigendes Zeichen. Jetzt kommt es darauf an, was diese Partei daraus macht.

Natürlich ist die Kritik nur zu berechtigt, all die nun auf einmal und mit aller Radikalität gestellten Fragen hätte eine vorausschauende Partei auf der Höhe ihrer Zeit längst schon aufwerfen müssen. Die SPD hat zu lange zu wenig konzeptionell und strategisch vorausgedacht. Sie hat sich zu wenig damit beschäftigt, worin das erneuerte sozialdemokratische Versprechen im 21. Jahrhundert bestehen könnte. Kein Zweifel, diese Partei könnte es heute durchaus einfacher haben, hätte sie rechtzeitig neue Vorstellungen entwickelt, verarbeitet und vermittelt. Vorstellungen dazu etwa, welche Veränderungen nötig sind, damit Gerechtigkeit und Solidarität unter den Bedingungen von Globalisierung und Altersgesellschaft in Zukunft noch möglich sind. Dazu, in welchem Verhältnis Freiheit und Verantwortung künftig stehen sollten. Oder dazu, was getan werden kann, damit in diesem Land künftig wieder mehr Menschen größere Lebenschancen haben.

Doch all diese Fragen sind die Fragen der deutschen Gesellschaft insgesamt. Und die Versäumnisse der SPD sind zugleich die Versäumnisse einer ganzen (westdeutschen) Republik, sich Zukunft anders vorzustellen, denn als bruchlose Fortsetzung eines vergleichsweise geglückten "Modells Deutschland" der vergangenen Jahrzehnte. Die Zukunft wird aber anders sein, das ahnen inzwischen alle. Nur wie anders wird sie sein? Und wie anders sollte sie sein? Nur wenn sich die SPD jetzt entschlossen daran macht, die versäumten kollektiven Lernprozesse dieses Landes offensiv, gleichsam stellvertretend nachzuholen, wird sie die Zukunft dieser Republik so sehr prägen und bestimmen können wie ihre Vergangenheit. Nichts weniger erwartet die deutsche Gesellschaft im Grunde heute wieder von der Sozialdemokratie, und noch die skeptischsten Beiträge dieser "Jubiläumsausgabe" der Berliner Republik beweisen genau das. Auch diese nachdenklichen Einwände sind deshalb Hoffnungszeichen: Wer nicht mehr kritisiert wird, ist vermutlich tot. Für die SPD wäre das zweifellos die ungünstigere Alternative.

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