Die neue Komplexität der Globalisierung
Die Globalisierung hat die Welt verändert. Vorangetrieben wurde sie vom rasanten technologischen Wandel und den sinkenden Kosten für Kommunikation und Mobilität. Aber auch bewusste politische Entscheidungen wie Margaret Thatchers und Ronald Reagans frühe neoliberale Programme, der Washington Consensus von 1990, und die folgende Deregulierung, Privatisierung und Denationalisierung hatten ihren Anteil. Die Schleifung von Grenzen und Handelsbarrieren wurden zum weltweit dominierenden Paradigma. Die neue Durchlässigkeit brachte aber auch eine ungleiche Verteilung von Risiken und Chancen mit sich. Paradoxerweise manifestierte sich die global getriebene Umverteilung vor allem auf nationaler Ebene.
Wie alle Umverteilungen ist auch diese umstritten. Sie hat Befürworter und Gegner, Gewinner und Verlierer. Die ideologische Hauptachse verläuft zwischen kosmopolitischem Liberalismus und nationalem Protektionismus. Liberale setzen sich für eine weitere Öffnung der ökonomischen, kulturellen und politischen Grenzen ein; Protektionisten optieren für Abgrenzung und Schließung. Allerdings erfasst eine solche Etikettierung die neue Komplexität nur ungenügend. Wer die Öffnung von Grenzen befürwortet, ist nicht notwendigerweise ein hartgesottener Neoliberaler, sondern setzt sich häufig für die weltweite Durchsetzung von Menschenrechten, der Gleichberechtigung und des Minderheitenschutzes ein. Allerdings halten Kosmopoliten kulturelle Rechte und die Gleichberechtigung verschiedener Kulturen für wichtiger als die sozioökonomische Gleichberechtigung sozialer Klassen.
Dabei definieren drei Kernprinzipien den normativen Kern des Kosmopolitismus: Individualismus, Universalismus und Allgemeingültigkeit. Kosmopoliten wollen offene Grenzen, liberale Zuwanderung, erleichterte Einbürgerung, kulturelle Inklusion sowie eine globale Verantwortung für Menschenrechte und Umweltschutz. Sie betonen die Chancen der Globalisierung. Kommunitaristen hingegen kritisieren die Globalisierung. Für sie beruht das Wesen des Menschen auf Gemeinschaft. Gemeinschaft, Besonderheit und Kontext sind ihre Kernprinzipien. Kommunitaristen setzen sich für kontrollierte Grenzen ein, befürworten Zuwanderungsbeschränkung, optieren für kulturelle Abgrenzung und betonen den Wert von sozialem Zusammenhalt und sozialer Sicherung.
Nun sind philosophische Debatten nicht mit tatsächlichen politischen Konflikten zu verwechseln. Zu prüfen ist, ob diese widerstreitenden Werte, Normen und Interessen sich in soziale Spannungen oder politische Konflikte übersetzen. Politische Konfliktlinien strukturieren den politischen Wettbewerb, sie formen Parteiensysteme und Koalitionen. Sie vereinfachen komplexe politische Fragen und erleichtern die Aggregation von Interessen. Parteien richten ihre Programme an diesen Konfliktlinien aus und versuchen damit, Mitglieder und Wähler zu rekrutieren. In den europäischen Parteiensystemen gibt es vermehrt Anzeichen dafür, dass sich zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen eine neue soziale Konfliktlinie herausbildet. Auf der kosmopolitischen Seite mobilisieren vor allem grüne, postmaterialistische oder neue Linksparteien die Wähler; auf der kommunitaristischen Seite wirken insbesondere rechtspopulistische oder europafeindliche Parteien. Dies zwingt auch die Volksparteien, Stellung zu beziehen.
Die Trennlinie verläuft durch die Sozialdemokratie
Der Konflikt zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen lässt sich in eine ökonomische und kulturelle Dimension aufteilen. Die kulturelle Dimension betrifft Zuwanderung, Staatsbürgerschaft, Multikulturalismus und Umweltschutz. Die neuen Mittelschichten, die verstärkt seit den 1970er Jahren für die Sozialdemokratie gewonnen wurden, sind gerade gegenüber diesen Fragen besonders aufgeschlossen. Viele von ihnen sind Globalisierungsgewinner. Sie verfügen über das entsprechende Humankapital, um mit kulturellen Unterschieden und länderübergreifenden Mobilitätsansprüchen umgehen zu können. Die unteren Schichten hingegen sind weniger mobil und deshalb kritischer gegenüber offenen Grenzen, Zuwanderung, Mobilitätszumutung und Multikulturalismus. Solche Globalisierungsverlierer finden sich auch in der traditionellen Wählerschaft der sozialdemokratischen Parteien. Diese Klientel ist stärker gespalten als die neuen linken, grünen oder liberalen Parteien, die meist kosmopolitisch ausgerichtet sind. Rechtspopulistische Parteien sind mit ihrer „schmutzigen“ Version des Kommunitarismus – Exklusion, Xenophobie, Nationalismus – ihrerseits relativ homogen.
Die ökonomische Dimension der neuen Konfliktlinie spaltet die Anhänger sozialdemokratischer Parteien ebenso in potenzielle Gewinner und Verlierer: Wieder sind es die gut Ausgebildeten im privaten Sektor, aber auch Facharbeiter global operierender Firmen, die von der Globalisierung profitieren. Schlechter ausgebildete Beschäftigte im öffentlichen Sektor, in der einfachen Massenproduktion oder im unteren prekären Dienstleistungsbereich begreifen sich häufig als Verlierer offener Grenzen. Sie haben oft Angst vor der Konkurrenz durch Zuwanderer und fürchten, nicht zu Unrecht, Opfer von Privatisierung, öffentlichen Ausgabenkürzungen und sinkenden Löhnen zu werden. Denn Globalisierung und Europäisierung haben weltweit einen enormen Steuersenkungsdruck produziert, der zur neoliberalen Schrumpfung öffentlicher Güter und Dienstleistungen geführt hat.
Die kommunitaristisch-kosmopolitische Konfliktlinie stellt die sozialdemokratischen Parteiführungen vor ein Dilemma: Machen sie Zugeständnisse auf der einen Seite, haben sie mit Positionsverlusten auf der anderen Seite zu rechnen. Sozialdemokratische Politiker sind deshalb gezwungen, die Werte und Interessen beider Lager in Einklang zu bringen. Das ist ihnen in der kulturellen Dimension teilweise gelungen: Ein traditioneller Arbeiter lehnt heute Multikulturalismus oder Umweltschutz keineswegs ab. Bei ökonomischen Fragen ist die Situation deutlich schwieriger: Einheimische Arbeiter können zwar davon überzeugt werden, dass zugewanderte Arbeitskräfte nicht zwingend Konkurrenten für ihre Jobs sind; aber die Globalisierung hat auch sie gelehrt, dass es starke Argumente gegen die bedingungslose Öffnung wirtschaftlicher Grenzen gibt. Zumindest wenn sich diese Öffnung in Privatisierung, Deregulierung und dem obszönen Anstieg sozioökonomischer Ungleichheit ausdrückt.
Erforscht man die kulturelle Dimension empirisch, lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Volksparteien erkennen. Sozialdemokratische Wähler sehen sowohl die Zuwanderung als auch die europäische Integration deutlich positiver als konservative Wähler. Erstere sind bei kulturellen Themen grundsätzlich kosmopolitischer eingestellt als Konservative und Christdemokraten. Diese Erkenntnisse stehen in einem gewissen Widerspruch zu der traditionellen Ansicht, dass es gerade innerhalb der Arbeiterschaft autoritäre Einstellungen und Intoleranz gegenüber Multikulturalismus oder Supranationalismus gibt. In der sozioökonomischen Dimension aber sind sozialdemokratische Wähler eindeutig kommunitaristischer eingestellt als Christdemokraten. Allerdings fallen die Unterschiede hier geringer aus als in der kulturellen Dimension.
Klar ist: Verändern sich die gesellschaftlichen Konfliktlinien, dann sind politische Parteien zum Handeln gezwungen. Wir haben die fünf größten deutschen Parteien analysiert und untersucht, wie diese auf kosmopolitische und kommunitaristische Themen reagieren. Auf fünf Themenfeldern spiegeln sich die gegensätzlichen Positionen dabei in besonderer Weise wider: Umwelt, Handel, Migration, Menschenrechte und die europäische Integration. Wir gehen davon aus, dass Kosmopoliten in diesen Bereichen grundsätzlich eher globale und supranationale Lösungen sowie mehr Öffnung und Rechte für Minderheiten befürworten. Kommunitaristen hingegen plädieren für nationale Souveränität, Protektionismus, mehr Regulierung von Zuwanderung und traditionelle gesellschaftliche Werte.
Wie sieht die ideale Mischung aus?
Wie haben nun die deutschen Parteien auf die Streitfragen in den fünf Feldern programmatisch reagiert? Die Grünen zeigen sich programmatisch als die kosmopolitischste Partei, gefolgt von der Linken. Die Christdemokraten wiesen in ihren Parteiprogrammen den höchsten Anteil kommunitaristischer Aussagen auf. Überraschendere Ergebnisse kommen von den Liberalen und den Sozialdemokraten. Bei beiden Parteien lässt sich seit Mitte der 1970er Jahre ein Anstieg kosmopolitischer Aussagen in den Parteiprogrammen feststellen. Bei der FDP hielt dieser Trend bis in die 1980er Jahre an und wurde ab 2000 von einem leichten Rückgang des Kosmopolitismus abgelöst. Die SPD erreichte schon 1989 ihren Höhepunkt kosmopolitischer Aussagen, darauf folgte ein stetiger Rückgang, der vom Anstieg kommunitaristischer Aussagen begleitet wurde. Erst im Jahr 2009 zeigte die SPD wieder eine gewisse Bewegung in Richtung Kosmopolitismus. Ob dieser Trend auch während und nach der Bundestagswahl 2013 fortbestehen wird, bleibt ungewiss, weil sich zunehmend Fragen der sozioökonomischen Ungleichheit in den Vordergrund schieben. Und diese werden nicht allein mit supranationalen Regelungen zu bewältigen sein.
Ohne Zweifel hat der Prozess der Globalisierung die traditionellen Parteien enorm unter Druck gesetzt. Sozialdemokratische Parteien spüren diesen Druck stärker als ihre Konkurrenz. Wie sollten sie sich positionieren, um den Verlust traditioneller Wähler möglichst gering zu halten und gleichzeitig die Interessen ihrer heterogener gewordenen Wählerschaft zu repräsentieren? Die ideale Mischung für sozialdemokratische Programme und Politiken scheint in der ökonomischen Dimension aus der vorsichtigen Re-Regulierung der Märkte, dem Anheben von Steuereinnahmen und öffentlichen Bildungsinvestitionen zu bestehen. Die sozialdemokratischen Führungen müssen die ökonomischen Risiken wieder stärker kommunitaristisch adressieren. Allerdings müssen sie dies mit den kosmopolitischen Werten in der kulturellen Dimension versöhnen.
Es gibt deutliche empirische Hinweise darauf, dass die Kluft zwischen kosmopolitischen Sozialdemokraten und kommunitaristischen Konservativen in der Kultur viel größer ist als in Fragen der sozioökonomischen Ungleichheit. Der „dritte Weg“ dürfte in vielen sozialdemokratischen Parteien Europas diese soziokulturelle Wende verstärkt haben.
Wandlung und Öffnung
Natürlich dürfen die Sozialdemokraten ihr traditionelles Ziel der sozialen Gerechtigkeit nicht aufgeben. Dies gilt besonders nach drei Jahrzehnten wachsender Ungleichheit. Aber selbst wenn die Sozialdemokratie eine strategisch ideale Positionierung verfolgt, wird sie das nicht in die Hochphase der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückbringen.
Es gibt eindeutige Anzeichen dafür, dass das im 20. Jahrhundert dominante Muster politischer Mobilisierung durch große Kollektivorganisationen wie den Volksparteien in der postindustriellen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an Bedeutung verliert. Große Parteien werden kleiner und heterogener. Sie konkurrieren dabei mit zahlreichen noch kleineren Parteien, die allerdings programmatisch homogener sind. Nichtstaatliche Organisationen und direkte Demokratieformen werden das politische Repräsentationsmonopol in Zeiten sinkender Wahlbeteiligung und zunehmender Parteienverachtung verstärkt in Frage stellen. Parteien werden zwar nicht überflüssig, aber sie müssen sich wandeln und öffnen. Eine kosmopolitische Kultur und eine in kommunitaristischer Absicht regulierte Ökonomie stehen dem keineswegs im Wege.