Soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung
Nach fast zwei Jahrzehnten neoliberaler Diskussionsabschreckung ist der Begriff der sozialen Gerechtigkeit seit Mitte der neunziger Jahre wieder zu einem Topos des politischen Diskurses geworden und prominent auf den Agenden sozialdemokratischer Regierungen erschienen. Dies hat Gründe. Zum einen hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich in den beiden vergangenen Dekaden auch in den entwickelten Industriestaaten vertieft. Zum anderen steht der Sozialstaat des kontinentalen Europas in den nächsten Jahrzehnten unter dem Druck von Globalisierung, Individualisierung und Demographie vor bedeutenden Umstrukturierungen. Dieser Umbau verlangt geradezu nach regulativen Leitideen sozialer Gerechtigkeit, soll er nicht allein von dem Argument der ökonomischen Effizienz oder den traditionellen Sozialstaatskonzepten der Vergangenheit diktiert werden.
Die politische Philosophie liefert, seit 1971 John Rawls′ epochale Theorie der Gerechtigkeit erschienen ist, in zunehmender Dichte Gedanken, Prinzipien und Normen sozialer Gerechtigkeit. Der philosophische Diskurs hat allerdings bisher kaum die politische Debatte erreicht. Beide Diskussionskulturen laufen mehr nebeneinander her, als dass sie sich wechselseitig informieren. Die nicht selten begründungsfundamentalistische philosophische Diskussion der sozialen Gerechtigkeit muß deshalb eine Vermittlungsebene mit dem Abwägungspragmatismus gewünschter und realisierbarer gesellschaftlicher Zustände finden. Die Politik muß sich ihrerseits der Zumutung stellen, auch über das Tagesgeschäft hinauszudenken und sich der Prinzipien ihres eigenen Handelns vergewissern. Dies gilt insbesondere, wenn wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit in einem modernen Regierungsprogramm für das 21. Jahrhundert versöhnt werden sollen.
Banal erscheint, obwohl es in der Alltagssemantik oft vermischt wird, daß Gleichverteilungen keineswegs per se schon gerecht, und ungleiche Verteilungen ungerecht sind. Das Gegenteil kann der Fall - gleiche Verteilungen ungerecht und ungleiche Verteilungen gerecht sein. Die justitia distributiva hat also ein Kriterienproblem. Was soziale Gerechtigkeit ist, sein sollte und sein kann wird von libertären Denkern wie von Hayek, sozial-liberalen Philosophen wie Rawls, oder Kommunitaristen wie Michael Walzer zunächst unterschiedlich beantwortet.
Die libertäre Position: von Hayek
Bei Friedrich August von Hayek ist, wie bei allen liberalen und libertären Gerechtigkeitsphilosophien, die individuelle Autonomie der öffentlichen Arena politischer Entscheidungen normativ vor- und übergeordnet. Begrenzungen dieser Autonomie etwa durch sozialstaatliche Einmischungen sind deshalb besonderen Rechtfertigungsprüfungen zu unterziehen. So hält nach von Hayek das Motiv sozialstaatlich institutionalisierter Umverteilung aus mindestens drei Gründen nicht stand:
- Die sich in der Gesellschaft manifestierenden Tauschergebnisse des Marktes sind die nicht beabsichtigten Ergebnisse individuellen Handelns. Wenn aber Absicht und daher Folgenverantwortlichkeit nicht vorliegt, liegen sie außerhalb jeder gerechtigkeitstheoretischen Bewertung. Die Rede, dass der Markt "ungerecht" sei, ist deshalb unsinnig. Die populäre Forderung nach "mehr sozialer Gerechtigkeit" ist nichts als eine "semantische Luftspiegelung" (Kersting) von sozialistischen Scharlatanen oder populistischen Politikern.
- Der Markt führt zu einer "spontanen Ordnung in der Gesellschaft". Aus dieser freiwilligen Kooperation entstehen Traditionen und Institutionen, die ihre eigene "evolutionäre Moral" ausbilden. "Diese Moralregeln übersteigen die Fähigkeiten der Vernunft" (Hayek), sie sollten deshalb weder durch politische Mehrheiten, noch nach abstrakten Vernunftprinzipien korrigiert werden.
- Der Markt ist die Sphäre unerreichbarer Effizienz. Er ist kumulativ und nicht durch ein rationalistisches Design entstanden. Zudem verdanke der Mensch manche seiner größten Erfolge der Vergangenheit dem Umstand, dass er nicht imstande war, das gesellschaftliche Leben bewusst zu lenken.
Diese Argumente führen von Hayek zu einer klaren Ablehnung sozialstaatlicher Korrekturen von Eigentums-, Einkommens- und Wohlfahrtsverhältnissen in der Gesellschaft, wie sie der Markt hervorgebracht hat. Allerdings lehnt Hayek nicht alle staatlichen Sozialtransfers ab. Der Staat soll vielmehr ein einheitliches wirtschaftliches Minimum für all jene vorsehen, "die sich selbst nicht erhalten können" (Hayek). Deshalb empfiehlt er eine Gesellschaft der Rechtsgleichheit plus maximalen Vertragsfreiheit sekundiert von einer transfergestützten Minimalsicherung. Weitergehende Einschränkungen der Freiheit auf dem Markt haben freiheitsabträgliche Wirkung und können deshalb nicht mehr legitimiert werden.
Die sozialliberale Position: John Rawls
Mit Hayek verbindet John Rawls die kompromisslose Ausgangsposition, die Idee einer gerechten Gesellschaft stets vom Individuum aus zu denken. Rawls entwickelt jedoch eine andere Methode zur Begründung seiner Gerechtigkeitsprinzipien und gelangt zu diametral entgegengesetzten Verteilungsregeln. Der Markt tauge nicht als Schiedsrichter sozialer Gerechtigkeit. Er besitze zwar die Eigenschaften einer unübertroffenen Allokationseffizienz, aber die Herstellung gerechter gesellschaftlicher Zustände gehöre nicht zu seinen Stärken. Der Hauptgrund für diese ethische Blindheit liegt in den ungleichen und ungerechten Zugangsbedingungen zum Markt.
Es kommt deshalb Rawls darauf an, die Individuen mit einem gleichen Set an Grundgütern auszustatten, die die "skandalöse Lotterie der Natur" und die Ungleichheit der sozialen Startbedingungen korrigiert. Intelligent oder dumm, schön oder hässlich, behütete oder verwahrloste familiäre Verhältnisse, reiche oder arme Eltern dürfen in einer gerechten Gesellschaft nicht über die individuellen Lebensentwürfe und deren Realisierungschancen entscheiden. In die politische, wirtschaftliche und soziale Verfassung einer Gesellschaft müssen deshalb Institutionen eingelassen werden, die jene Grundgüter fair verteilen, die für gleiche Startchancen bedeutsam sind. Zu solchen fundamentalen Gütern zählt Rawls Rechte, Freiheiten und Chancen aber auch Einkommen und Vermögen oder die sozialen Bedingungen der Selbstachtung.
Die Verteilung der Grundgüter soll zwei entscheidenden Regeln folgen. Die erste, übergeordnete Verteilungsregel verlangt die absolut gleiche Verteilung von Grundfreiheiten und politischen Rechten. Dies ist nicht umstritten und in der rechtsstaatlich verfassten Demokratie längst gewährleistet. Umstritten ist die zweite Verteilungsregel. Sie entwirft einen Grundsatz der sozio-ökonomischen Gerechtigkeit. Nach ihr sind soziale und ökonomische Ungleichheiten nur dann zulässig, wenn diese den weniger Begünstigten auch zum Vorteil gereichen.
Rawls′ Ziel der radikalen Befreiung der individuellen Lebenschancen von den Zufälligkeiten der sozialen Herkunft und den natürlichen Begabungen droht in der Verteilungskonsequenz allerdings liberales Terrain zu verlassen. So könnte am Ende ein paternalistischer Wohlfahrtsstaat stehen, der die Umverteilungen des schwedischen Wohlfahrtsuniversalismus der siebziger Jahre noch deutlich übertreffen würde.
Die kommunitaristische Position: Michael Walzer
Rawls hatte versucht die komplexen, pluralistischen und fragmentierten Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts unter das Gerechtigkeitskuratell zweier universalistischer Prinzipien zu zwingen. Michael Walzer, der wohl wichtigste (gemäßigtste) Kommunitarist versucht dies zu vermeiden. Sein Credo lautet: Es gibt in jeder Gesellschaft eine große Anzahl von Verteilungsarenen und Verteilungskriterien. Dasselbe gilt für die Fülle der zu verteilenden Güter und Ressourcen. Es kann und darf keine übergreifende Verteilungslogik für so verschiedene Sphären, wie die (staats)bürgerliche "Zugehörigkeit", "soziale Sicherheit und Wohlfahrt", "Geld und Waren", "Erziehung" und "politische Macht" geben. Die Feststellung lautet: Jede Güter- und Lebenssphäre besitzt ihre eigenen Verteilungsregeln. Der Imperativ heißt: Keine Verteilungsregel darf in eine andere Sphäre "hineinregieren". Dies gilt insbesondere für die Sphäre des Geldes. Es muß aus Gründen der Gerechtigkeit Güter geben, deren Verteilung nicht vom Geld abhängt. Dazu zählen in erster Linie Bildung und Gesundheit. Deren Verteilung muß sich an dem Gleichheitsgrundsatz und der Bedürftigkeit orientieren.
Dies klingt zunächst wie eine wohlvertraute Forderung der traditionellen Sozialdemokratie. Allerdings soll nach Walzer dieses Postulat nicht in den normierten Standards eines sozialen Bürgerrechts nach dem Muster der europäischen Sozialstaaten verrechtlicht werden. Dies würde nur Bürokratie erzeugen und die Quellen der Zivilgesellschaft austrocknen. Walzers kommunitaristischer Vorschlag lautet deshalb, ein staatlich garantiertes Wohlfahrtsminimum an lokal zu bestimmende Ergänzungsleistungen zu koppeln. Damit wird die Gleichbehandlung durch eine standardisierte Leistungsverteilung aufgegeben. Verteilungsformen und Leistungen werden der jeweiligen Zustimmung wechselnder demokratischer Mehrheiten zur Disposition gestellt.
Zumindest ein Teil der Sozialleistungen erhält dadurch einen schwer zu kalkulierenden karitativen Charakter. Problematisch erscheint zudem, dass Walzer von einem möglichen lokalen Konsens in Verteilungsfragen ausgeht. Dies wäre zwar in Walzers eigener idyllischer Mittel- und Oberschichts-Kommune von Princeton denkbar, würde aber in den nur eine Stunde entfernten Quartieren der Bronx oder Harlems kaum funktionieren. Personalisierung, Klientelismus und wohl auch Gewalt würden dort die Verteilungskanäle verstopfen und zu bizarren Ungleichverteilungen führen. Wer Walzers Gerechtigkeitstheorie kennt, den muß verwundern, dass Teile der SPD gerade von ihr eine Modernisierung ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen am Ende der neunziger Jahre erwartet haben.
Gerechtigkeitsprinzipien und politische Prioritäten
Aus der philosophischen Prinzipiendiskussion lassen sich vier zentrale Bereiche distributiver Gerechtigkeit in entwickelten Gesellschaften herausfiltern:
- Bildung und Ausbildung: denn in diesem Bereich werden in hohem Maße die individuellen Lebenschancen beeinflußt.
- Einbindung in den Arbeitsmarkt: denn hier werden für die meisten Bürger Einkommen, Status und Prestige verteilt.
- Sozialstaatliche Sicherungsstandards: denn hier werden Nothilfen organisiert und Umverteilung angezielt.
- Einkommens- und Vermögensverteilung: hier schlagen sich schließlich die Verteilungsergebnisse von Markt und Staat nieder.
Lassen sich mit der Gerechtigkeitsphilosophie nun Hierarchien oder gar politische Handlungspräferenzen im Hinblick auf diese vier Bereiche sozialer Gerechtigkeit begründen? Dies wäre dann für politische Reformen interessant, wenn die vier Ziele Bildung, Integration in den Arbeitsmarkt, hohe soziale Sicherungsstandards und geringe Einkommensspreizung sich nicht immer gleichzeitig und in gleichem Maße verfolgen lassen. Denn diese vier Ziele scheinen sich bisweilen eher wie ein magisches Viereck zu verhalten, in dem stets Vorzugsbehandlungen und wechselseitige Verrechnungen notwendig werden. Der Umbau der Steuer- und sozialen Sicherungssysteme aber, die Reform des Bildungswesens oder die Dynamisierung der Arbeitsmärkte werden immer wieder Entscheidungssituationen provozieren, in denen ein Ziel auch auf Kosten des anderen vorrangig verfolgt werden muß. Es mag zunächst erstaunen, aber eine undogmatische Lesart der drei unterschiedlichen Gerechtigkeitsphilosophien lässt doch einen gemeinsamen Bestand erkennen, der sich in folgender Prioritätenliste festhalten lässt:
- Höchstmögliche Ausbildungsstandards nicht zuletzt durch Umschichtungen im Sozialstaat von sozialkonsumptiven (zum Beispiel: Alterssicherung) zugunsten von sozialinvestiven (Bildung und Ausbildung) Ausgaben. Danach:
- Breite Integration in den Arbeitsmarkt auch auf Kosten einer Absenkung dafür hinderlicher sozialer Sicherungsstandards. Danach:
- Garantie sozialer Sicherungsstandards verbunden mit einer Verschärfung der Pflichten zur Wiederaufnahme von Arbeit. Und erst danach:
- Verringerung der Vermögens- und Einkommensungleichheit.
Erste Priorität: Bildung und Ausbildung
Die intensive Investition in Bildung und Ausbildung ist sowohl in der philosophischen wie in der politischen Diskussion am wenigsten umstritten. Sie kann insbesondere mit Rawls Forderung nach Ausgleich unterschiedlicher sozialer Startchancen begründet werden. Daraus folgt auch zwangsläufig, dass es vor allen Dingen die öffentliche Hand sein muss und nicht primär der Markt sein darf, der die Bildungsgüter bereitzustellen hat. Dies bedeutet keineswegs den Verzicht auf Eliteschulen oder Eliteuniversitäten. Allerdings muss der Zugang zu ihnen alleine durch Leistung geregelt sein und durch ein ausgebautes System der Studiengebühren, Studienkredite und Stipendien ermöglicht werden.
Die wohlfeile Festschreibung des Verbotes von Studiengebühren verschließt den Universitäten nicht nur bitter notwendige Finanzquellen, sondern sie ist auch ungerecht. Sie ist es solange, wie die Hochschulen aus allgemeinen Steuern finanziert werden und ihre Absolventen später durchschnittlich wesentlich besser verdienen, als jene, die nicht in den Genuß einer steuerfinanzierten Hochschulausbildung kamen.
Ein übergreifendes, von Hayek bis Walzer geteiltes, Gerechtigkeitsargument für die politische Priorität der Bildung liegt in der überragenden Bedeutung von Wissen für die Wertschöpfung und den Wohlstand der zukünftigen Gesellschaften.
Einbindung in den Arbeitsmarkt
Eine Schwäche der Gerechtigkeitskonzeptionen von Rawls und Walzer ist eine gewisse Blindheit gegenüber arbeitsmarktpolitischen Fragen. Arbeitslosigkeit ist aber nicht nur ein ökonomisches Problem, das allein durch großzügige Transferzahlungen zu lösen wäre. Es ist vor allem eine ethische Herausforderung. Denn Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit zumal, beschädigt die Autonomie des Individuums. Sie führt zu einer Verletzung des Selbstwertgefühls und in der Regel auch zu nicht mehr auszugleichenden Nachteilen bei der Wahrnehmung zukünftiger Lebenschancen. Solange in den entwickelten Gesellschaften nicht nur Einkommen, sondern auch Status, Selbstwertgefühl und soziale Zugehörigkeit vor allem über die Erwerbsarbeit verteilt werden, muss der Einbindung in den Arbeitsmarkt die besondere politische Aufmerksamkeit gelten. Für die absehbare Zukunft wird deshalb für gerechte Gesellschaften gelten müssen: Arbeit ist nicht alles, aber ohne Arbeit ist alles nichts. Ein Sozialstaat, der über Grundeinkommen, großzügige Sozialhilfen, locker definierte Zumutbarkeitskriterien die Nichtaufnahme von Erwerbsarbeit ermöglicht oder dazu anreizt und durch vermeintlich soziale Regulierungen den Arbeitsmarkt gegenüber den outsidern, den Frauen oder der Jugend abriegelt, ist aus dieser Perspektive sozial ungerecht.
Aktivierung des Sozialstaats
Betrachtet man Bildung und Einbindung in den Arbeitsmarkt als vorrangige Gerechtigkeitsziele, muss man konsequent den Umbau des Sozialstaates verlangen. Die passiven Elemente der ex-post-Kompensation müssen soweit wie möglich zurückgedrängt und die aktivierenden Komponenten gestärkt werden. Der Sozialstaat muss so angelegt sein, daß er den sozialpolitischen Schadensfall a priori verhindert. Dies verlangt eine finanzielle Umschichtung zugunsten der Bildung, der steuerlichen Entlastung des Faktors Arbeit und schärfere Pflichten, die zur raschen Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit zwingen.
Der Sozialversicherungsstaat muss zu einem Sozialinvestitionsstaat umgebaut werden. Dabei kann der von Neoliberalen als Muster vorgeschlagene "marginale Wohlfahrtsstaat" der USA nicht als Modell dienen. Erstens besitzt er keine starken aktivierenden Elemente, zweitens bleibt er unsensibel gegenüber jenen, die ihre Unfähigkeit oder Schwäche auf dem Arbeitsmarkt nicht zu verantworten haben. Dänemark mit seiner Kombination von hohen Bildungsinvestitionen, einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, großzügigen Sozialleistungen bei gleichzeitiger Institutionalisierung der Pflichten und verschärften Vorkehrungen gegen sozial- und steuerstaatliches Trittbrettfahren, bietet für das Gerechtigkeitsziel der gesellschaftlichen Inklusion ein nachahmenswerteres Beispiel.
Das Gebot der Arbeitsmarktinklusion verlangt, das Steuersystem so beschäftigungsfreundlich wie möglich zu gestalten. Dies heißt nicht zuletzt die Sozialabgaben zu senken und die soziale Sicherung stärker über allgemeine Steuern zu finanzieren. Es gilt aber auch, die aus den Fugen geratene Symmetrie des Steuereinzugs (wieder) herzustellen. Der freiwillige "Selbst-Ausschluss" der Reichen aus der steuerlichen Bürgerpflicht am oberen Ende der Gesellschaft ist, aus der Gerechtigkeitsperspektive gesehen, ebenso skandalös wie der "unfreiwillige Ausschluss" der Armen und Arbeitslosen aus der Wohlfahrtsentwicklung am unteren Ende der Gesellschaft.
Verringerung der Einkommens- und Vermögensspreizung
Gegenüber den schon genannten Gerechtigkeitszielen hat die Verringerung der Einkommens- und Vermögensspreizung den geringsten Wichtigkeitsgrad. Denn wird über die Annäherung an eine Gleichheit der Startchancen durch Bildung und Ausbildung die erfolgreiche Einbindung in den Arbeitsmarkt und eine Vermeidung von Armut erreicht, verliert die Forderung nach Angleichung der Vermögen und Einkommen ihren gerechtigkeitstheoretischen Geltungsgrund. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Einkommensungleichheit zu höherer Produktivität und Wirtschaftsleistung führt und die am schlechtesten Gestellten in einer Gesellschaft ebenfalls davon profitieren. Hier deckt sich Rawls′ Erlaubnisregel für sozioökonomische Ungleichheit mit Erkenntnissen der neo-klassischen Wirtschaftstheorie. Problematisch wird die Ungleichheit jedoch dann, wenn das notwendige Maß an gesellschaftlicher Kohäsion nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Dies gilt nicht nur unter gerechtigkeitstheoretischen Prämissen, sondern auch für die notwendigen Funktionserfordernisse einer Demokratie von politisch Gleichen.
Inwiefern können diese vier Gerechtigkeitsziele auch in Zeiten der Globalisierung erreicht werden? Die Antwort fällt weit optimistischer aus, als die Pessimisten der Globalisierungsangst befürchten.
Globalisierung als Restriktion gerechten politischen Handelns
In der Globalisierungsdiskussion lassen sich zwei ideologisch-strategische Sichtweisen erkennen. So nutzen neoklassische Dogmatiker die Überbetonung des Globalisierungsdrucks zur Forderung nach einer radikalen Deregulierung der Arbeitsmärkte und nach dem Abbau des Standorthindernisses Sozialstaat. Neo- und Postmarxisten kommen aus derselben Überzeichnung der Globalisierung zu der Schlussfolgerung, dass nunmehr endgültig die sozialdemokratische Illusion zerbrochen sei, daß der Kapitalismus nationalstaatlich zu steuern und sozialpolitisch einzuhegen ist.
Halten wir zunächst folgende Klärung des schillernden Begriffs der Globalisierung fest: Von einer Globalisierung, verstanden als abrupte Vertiefung der Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte kann nicht gesprochen werden. Allerdings kam es zu einer raschen Internationalisierung der Kapitalmärkte. Die erhöhte Mobilität gilt dabei nicht nur für die Finanzmärkte, sondern führte seit Mitte der achtziger Jahre über die ansteigenden globalen Direktinvestitionen zu einer Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung. Im Verbund mit drastisch gesunkenen Preisen für Kommunikation und Transport hat sich "die Kette der Produktionsvorgänge" europäisiert und teilweise auch globalisiert. Dies führte in den Industriestaaten zu einem wachsenden Druck auf den weniger qualifizierten Arbeitsmärkten und zu einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber den Kostenbelastungen des Faktors Arbeit. Dadurch ist insbesondere in den kontinentalen Sozialstaaten ein verstärkter Reformdruck entstanden. Ihre Sicherungssysteme sind über Lohnnebenkosten viel stärker an die Erwerbsarbeit gebunden, als dies in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten oder im angelsächsischen Kapitalismus der Fall ist.
Die Bismarckschen Grundstrukturen des deutschen Sozialstaats, die in die nationalökonomische Logik eines aufsteigenden Industriestaates am Ende des 19. Jahrhunderts eingebettet waren, taugen nur noch bedingt für eine globale Volkswirtschaft. Die wackeren Verteidiger des sozialstaatlichen Status Quo verkennen, daß sie konservative Interessenpolitik auf Kosten der Zukunft betreiben. Die Bundesrepublik weist, Belgien nicht unähnlich, eine ausgesprochen ungünstige Relation von sozialkonsumptiven Ausgaben wie Renten, Arbeitslosengeld und Sozialhilfen gegenüber sozialinvestiven Ausgaben wie Bildung auf. Auch hier zeigen sich die skandinavischen und angelsächsischen Länder zukunftsfester als die meisten Gesellschaften des europäischen Kontinents.
Die Globalisierung verhindert keineswegs einen sozial gerechten Umbau unserer Bildungs- und Sicherungssysteme. Warum sollte denn die Globalisierung einen erheblichen Ausbau der Bildungs- und Ausbildungspolitik verhindern? Im Gegenteil: Die globalisierte und wissensbasierte New Economy erfordert dies geradezu. Es sind vielmehr kurzsichtige auf kurzfristige Wahlzyklen ausgerichtete Kalküle von Haushaltspolitikern in Bund und Ländern, die diesen Gestaltungsraum nicht zureichend nutzen lassen.
Auf den Arbeitsmärkten hat die Globalisierung zweifellos zunächst Handlungsräume eingeschränkt und alte politische Rezepte entwertet. Eine fiskalisch betriebene neo-keynesianische Beschäftigungspolitik gehört durch die Internationalisierung der Finanz- und die Europäisierung der Gütermärkte der Vergangenheit an. Der letzte historische Großversuch durch Mitterand ist schon 1982 aus diesem Grunde gescheitert. Die Integration in den Arbeitsmarkt muss deshalb verstärkt an der Mikroseite ansetzen: Investitionen in das Humankapital, aktive Arbeitsmarktpolitik, eine Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, wo sie outsider diskriminieren und Beschäftigungswachstum verhindern, Ermöglichung von Teilzeitarbeit, Lohn- und Steuersubventionen für Niedriglohn-Jobs sowie eine beschäftigungssensitive Steuerpolitik sind hier an erster Stelle zu nennen. Um Beschäftigung im wenig qualifizierten Dienstleistungsbereich zu schaffen, müssen solche Beschäftigungsverhältnisse von Sozialabgaben und Steuern weitgehend befreit werden. Hinsichtlich der Arbeitsmärkte können insbesondere Dänemark und die Niederlande als Vorbild dienen. Aber auch die Arbeitsmärkte der USA und Großbritanniens sind "inklusiver" und unter diesem Aspekt sozial gerechter organisiert, als dies die hochgradig verrechtlichten Arbeitsbeziehungen in Deutschland, Frankreich, Belgien oder Italien sind.
In dem Maße, wie die Realisierung der ersten beiden Gerechtigkeitsziele gelingt, verlieren bestimmte sozialstaatliche Sicherungsleistungen an Bedeutung. Dies gilt insbesondere für Arbeitslosengeldzahlungen, Sozialhilfen und staatliche Rentenzuschüsse. Diese Sicherungsleistungen sind in ihren Anspruchsrechten, Pflichten und Leistungsstandards so zu gestalten, dass sie zum einen dem moralphilosophischen Gebot der existenzsichernden Nothilfe genügen, andererseits aber nicht der Erfüllung der übergeordneten Gerechtigkeitspräferenz der Inklusion in den Arbeitsmarkt im Wege stehen.
Die Forderung des Kommunitaristen Walzer, nach einer Abkopplung der Gesundheitsversorgung von der eigenverantwortlichen Sphäre des Geldes, ist ethisch nachvollziehbar. Allerdings sind bisher alle institutionellen Lösungsversuche einer solchermaßen sozialisierten Medizin von Großbritannien über Italien bis Schweden gescheitert bzw. mit einer Verschlechterung der gesundheitlichen Versorgung oder grauen Gesundheitsmärkten erkauft worden. Hier steht zu befürchten, dass das ökonomische Standortargument, unter Hinweis auf den globalen Wettbewerb, zur politischen "Legitimation" einer weitergehenden Privatisierung des Gutes Gesundheit instrumentalisiert werden wird.
Die Wirkung der Globalisierung auf die Erfüllung der dritten Gerechtigkeitspräferenz ist also ambivalent. Zum einen drängt sie in einzelnen Bereichen auf die Aktivierung des Soziastaates mit positiven Folgen für die distributive Gerechtigkeit, während sie in der Frage der Gesundheitsversorgung die skizzierten negativen Folgen haben wird.
Je besser die Annäherung an die ersten drei Gerechtigkeitsziele gelingt, umso mehr verliert die vierte Gerechtigkeitsfrage der Einkommens- und Vermögensungleichheit ihre Brisanz. Hier bestehen auch die geringsten Interventionsmöglichkeiten der nationalstaatlichen Politik, um ein weiteres Auseinanderklaffen von Arm und Reich zu verhindern. Das liegt zum einen an der gestiegenen Mobilität hochausgebildeter Fachleute in der New Economy und von Managern, die zunehmend auch über Aktienoptionen bezahlt werden. Zum anderen wird die weitere Verschiebung der Einkommens- und Vermögensbildung zugunsten von Kapitaleinkünften gegenüber Arbeitseinkommen durch die Börsenkapitalisierung der Wirtschaft zunehmen. Eine größere Beteiligung auch breiterer Schichten im Sinne eines Börsen-Volkskapitalismus ist zwar zu begrüßen, wird aber nicht zur Verringerung der Einkommens- und Vermögensdiskrepanzen führen, wie das Beispiel der USA zeigt.
Die neoliberale Hoffnung oder spätmarxistische Befürchtung, die politische Wirklichkeit müsse oder könne nur noch der Ökonomie gehorchen, ist falsch. Sie ist von durchsichtig-strategischem wie undurchsichtig-ideologischem Denken gleichermaßen infiziert. Selbst in hoch sensiblen Bereichen, wie jenem der Verteilungsgerechtigkeit, bestehen gerade bei den wichtigsten Zielen auch in Zeiten der Globalisierung noch wesentliche Gestaltungsräume. Diese institutionell zu befestigen und zu nutzen, wird der Reformpolitik für das 21. Jahrhundert aufgegeben sein.