Die Neue Mitte wird konkret - aber noch ist sie sprachlos.
Die falsche Antwort auf Fragen, die niemand gestellt hat". So charakterisierte ein amerikanischer Publizist 1998 in der New York Times die Debatte innerhalb der europäischen Sozialdemokratie um die "Neue Mitte" (oder auch den "Dritten Weg"). Diese Einschätzung teilen zahlreiche deutsche Kritiker von links und rechts: Das Schröder-Blair-Papier vom Juni dieses Jahres das bislang herausragende Zeugnis der Neue-Mitte-Diskussion nannten sie inhalts- und konzeptionslos. Dass jedoch weder die Themen noch die politische Programmatik des Papiers nebensächlich sind, zeigt Hans Eichels Sparpaket, das jetzt eine so wichtige Rolle für den Ausgang der Regionalwahlen gespielt hat. Dem regierenden Teil der SPD scheint es also ernst mit dem Versuch zu sein, sich an grundsätzliche Umstrukturierungen heranzuwagen. Es war klar, dass dieser Umgestaltungsversuch auch in den eigenen Reihen Widerstand hervorrufen würde. Die Skeptiker erheben vor allem zwei Einwände: Zum einen werden die politischen Lösungsvorschläge für ungeeignet erklärt ("die falsche Antwort"), besonders wenn sich ihnen das politische Etikett "neoliberal" anheften lässt; zum anderen wird die Notwendigkeit der Strukturreformen an sich in Zweifel gezogen ("Fragen, die niemand gestellt hat").
Doch die Fragen stellen sich von selbst. Die Globalisierung wirft grundsätzlich das Problem der Kontrollierbarkeit weltweiter wirtschaftlicher Transaktionen durch nationale Regierungen auf. Aber auch die staatlichen Institutionen innerhalb ihres Einflussbereichs befinden sich in einer neuen Lage. Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht mehr einfach durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit zu beschreiben. Die heutigen Antagonismen verlaufen zwischen mobilem und immobilen Kapital, zwischen qualifizierter und weniger qualifizierter Arbeit. Die Märkte haben sich verändert. Manche sind überreguliert, so dass sie ihrer Funktion der Bedürfnisbefriedigung nicht mehr gerecht werden, andere unterreguliert, was sich in verantwortungsloser Ausbeutung der Produktionsfaktoren Arbeit und Umwelt ausdrückt.
Kann das alte Modell "Wohlfahrtsstaat" in dieser Situation einfach weiter betrieben werden wie bisher? Es gibt Argumente, die deutlich dagegen sprechen: Ende Juli zählten die Arbeitsämter in Deutschland 4.027.200 Arbeitslose. Und im Jahr 2030 kommt unter den Voraussetzungen des jetzigen Systems der Alterssicherung auf jeden Arbeitnehmer genau ein Rentner.
Sowohl die jahrelange strukturell bedingte Arbeitslosigkeit als auch die demografische Entwicklung zwingen diejenigen, die politisch verantwortlich handeln wollen, zu der Frage: Was heißt denn unter diesen Bedingungen soziale Gerechtigkeit? Geht es nur darum, die Besitzstände derjenigen abzusichern, die heute in Lohn und Brot sind? Oder muss man nicht auch, und mit aller Kraft, denjenigen zu helfen versuchen, die sich außerhalb unserer Arbeitsgesellschaft wiederfinden? Und ist zu diesem Zweck nicht vieles erlaubt?
Die Thesen von Schröder und Blair geben angesichts dieses Reformbedarfs eine Richtung vor; sie liefern die politische "Orientierung", die so eifrig gefordert wird. Wer jedoch konkrete Handlungsanweisungen in dem Papier sucht, geht ziemlich leer aus. Die Rede vom "fruchtbaren Miteinander von mikroökonomischer Flexibilität und makroökonomischer Stabilität" oder von der "wissensgestützten Dienstleistungsgesellschaft" bedeutet nicht viel und niemand könnte im Ernst etwas dagegen haben.
Vor dem Vorwurf der Inhaltslosigkeit ist jedoch abzugrenzen, was die "Neue Mitte" eigentlich zu leisten im stande ist. Robert Misik hat im Mai in den Frankfurter Heften beschrieben, wie sich die scheinbare ideologische Leere der "Neuen Mitte" erklären lässt. Die sozialdemokratischen Regierungen Europas haben sich bewusst einem pragmatischen Vorgehen verschrieben. Wird diese Herangehensweise aber zum Programm erhoben, befindet man sich schnell in einer Situation, in der das betont "Nicht-Ideologische" selbst zu einer Art Ideologie wird.
Das zweite Dilemma der "Neuen Mitte" besteht darin, dass sie sich zwischen zwei gefestigten Weltanschauungen positionieren muss. Dem Neoliberalismus, der Renaissance des klassischen Liberalismus angelsächsischer Prägung, liegt ein ausformuliertes Gedankengebäude zugrunde. Gleiches gilt für den sogenannten "sozialdemokratischen Etatismus", der auf marxistischer Grundlage ruht und aus der Auseinandersetzung mit den Irrwegen des real existierenden Sozialismus gestärkt hervorgegangen ist. Beide haben ein definitives Menschenbild. Die "Neue Mitte" läuft nun Gefahr, erdrückt zu werden bei dem Versuch, einen Ausgleich zwischen dem sozialistischen (Chancen-) Gleichheitsideal und dem liberalen (negativen) Freiheitsbegriff zu schaffen.
Andererseits hat die SPD in ihrer 136-jährigen Geschichte immer sowohl sozialistische als auch liberale Einflüsse aufgenommen und in politisches Handeln umgesetzt. Vielleicht stehen die Sozialdemokraten doch "nur" vor einem neuen Godesberg. Natürlich nennen manche die "Neue Mitte" auch aus taktischen Gründen substanzlos. Hier geht es vor allem um die Auseinandersetzung mit dem "Sozialkonservatismus" (Franz Walter), den Teile des Parteiapparates und der Gewerkschaft repräsentieren.
Die Linke reagierte auf die Schröder-Blair-Thesen also schizophren: helle Aufregung einerseits; andererseits die immer aufs neue wiederholte Einschätzung, dass in dem Papier eigentlich nichts Konkretes stehe.
Wie präzise Schröders Antworten auf die gesellschaftlichen Umwälzungen doch sind, offenbart der kurze Zeit später eingeleitete Spar- und Konsolidierungskurs der Bundesregierung. Bei genauerem Hinsehen jedoch war der Vorwurf der Substanzlosigkeit auch vorher schon wohlfeil: Stichworte wie "angebotsorientierte Agenda für die Linke", "die durch die Politik zu ergänzende und zu verbessernde, keinesfalls zu behindernde Steuerungsfunktion von Märkten", "Unternehmergeist", Abbau von "Bürokratie auf allen Ebenen" und ein "Sozialsystem, das Initiative und Kreativität fördert", "Liberalisierung von Weltmärkten", "Körperschaftssteuersenkung" sind deutlich genug. Zusammen mit der Entlastung von "Familien und Arbeitnehmern", "Verantwortung für die Umwelt", Investitionen in "Humankapital", einem "europäischen Beschäftigungspakt" und der Bekämpfung von "unlauterem Wettbewerb und Steuerflucht" ergibt sich eine ausgewogene Programmatik, in der sowohl vermeintlich neoliberale Reaktionen auf einen intensiver werdenden Wettbewerb als auch das Anliegen sozialer Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Detlef Larcher erklärte am Tag nach dem Bekanntwerden des Papieres für die empörte Parteilinke, dass derartige Positionen nicht mehr Teil einer sozialdemokratischen Partei seien, in der er seine Heimat sehe. Die unverhohlene Drohung hinter einer solchen Äußerung zeigt, dass der Regierungschef des größten europäischen Landes und Vorsitzende der größten europäischen Partei vermutlich gut daran tat, nicht noch mehr ins Detail zu gehen.
Das Eichelsche Sparprogramm, das die Koalition vor der Sommerpause beschlossen hat, ist ein Hinweis darauf, dass die Diskussion um die "Neue Mitte" nicht akademisch bleiben wird. Die Bundesregierung muss sich mit den drängenden Problemen befassen: der unverantwortlichen Umverteilung zu Lasten zukünftiger Generationen durch die Staatsverschuldung und das heutige Rentensystem - und mit der notwendigen Flexibilisierung der Sozialsysteme und des Arbeitsmarktes. Zusammen mit der Familienentlastung, der bereits im Winter verabschiedeten Steuerreform (mit Senkung des Eingangssteuersatzes und Erhöhung des Grundfreibetrages), sowie der Senkung des Rentenversicherungsbeitrages durch die Ökosteuereinnahmen stellen die Sparmaßnahmen der Bundesregierung eben keine harte kalte soziale Grausamkeit dar.
Das Alternativprogramm, das bezeichnenderweise nicht etwa von der CDU/CSU/FDP-Opposition im Bundestag, sondern von 37 SPD-Abgeordneten in einem Papier mit dem Titel "Soziale Gerechtigkeit bleibt unsere Aufgabe - Kurs halten statt Neoliberalismus" vorgelegt wurde, nimmt sich dagegen dürftig aus. Außer einer Nachfragebelebung (die sich aus der schon beschlossenen Steuerreform bereits ergibt) werden lediglich weitere Einnahmeerhöhungen des Staates durch die Vermögenssteuer und die weitere Kappung des Ehe-Splittingvorteils gefordert. Die Frage ist, ob derartige Politik die befürchtete soziale Spaltung nicht noch vertiefen würde. Die Vermögenssteuer jedenfalls wird keinen einzigen Unternehmer in der Bundesrepublik dazu bewegen, auch nur einen neuen Arbeitsplatz zu schaffen. Und bei aller nachfragepolitischen Rhetorik darf man nicht vergessen, dass auch unternehmerische Investitionen "Nachfrage" sind, die im Zweifel in einem wesentlich engeren funktionalen Zusammenhang zur Schaffung von Arbeitsplätzen stehen, als dies bei höheren Staatsausgaben der Fall ist.
Im Grunde geht es bei der sozialkonservativen Kritik an den politischen Vorschlägen der "Neuen Mitte" um eine verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung. Obwohl es nicht ganz fair ist, einen ganz neuen Juso-Bundesvorsitzenden in diesem Zusammenhang zu zitieren, wird dies in einem Aufsatz von Benjamin Mikfeld deutlich, der im April in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschienen ist. Dort ist zu lesen, dass den Protagonisten der Neuen Mitte die politische Entwicklungsrichtung "sozialer Kräfteverhältnisse unabänderbar" zu sein scheine: "Die Zunahme von Standortkonkurrenzen ist für sie ebenfalls wie vom Himmel gefallen. Auch die angebliche Finanzkrise des Sozialstaates wird an keiner Stelle ökonomisch schlüssig begründet, sondern als bloße Behauptung in den Raum gestellt." Erst wenn die (polit-)ökonomische Begründung gleich mitgeliefert würde, so muss man das wohl verstehen, finge Wirklichkeit an, Wirklichkeit zu sein. Gewiss wäre auch dieser Ansatz ein Weg, um mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden - jedenfalls in den von jeder politischen Verantwortung weit entfernten Räumen altkluger Juso-Zirkel.
Bleibt am Schluss die Frage: Wenn die mit dem Schröder-Blair-Papier und dem Eichelschen Sparpaket einhergehende Debatte sowohl gehaltvoll als auch an den wahren Problemen unserer Zeit ausgerichtet ist, warum findet das Konzept der "Neuen Mitte" dann keinen breiten gesellschaftlichen Zuspruch? Die regierende SPD befindet sich in der seltsamen Situation, dass ihre Politik entweder nicht wahrgenommen wird (Steuersenkung, Kindergeld, Rentenbeitragsenkung), oder dass Maßnahmen zwar generelle Zustimmung finden (Sparpaket, Reform der Sozialsysteme), dies aber nicht auf die Popularität der Regierenden durchschlägt. Passt die "Neue-Mitte"-Rhetorik einfach nicht zur SPD? Oder passt die Sprache, die innerparteiliche Debatte, die Vermittlung noch nicht zur neuen Politik? Manches spricht für die totale Überforderung vieler Funktionsträger. Die SPD selbst hat wohl nicht nur ein Umsetzungs-, sondern durchaus noch ein Erkenntnisproblem.