Die neue transnationale Normalität
Für Demokratien ist es ein zentrales Problem, wenn die Wohn- und Wahlbevölkerung auseinanderklaffen – wenn also diejenigen, die dauerhaft in einem Land leben, keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben, von denen sie betroffen sind. Da die Beteiligung an Wahlen in Deutschland allein deutschen Staatsangehörigen vorbehalten ist, wäre es eigentlich folgerichtig, wenn sich alle demokratisch gesinnten Parteien nach Kräften für die flächendeckende Einbürgerung der bislang nicht wahlberechtigten Wohnbevölkerung einsetzen würden.
Genauso logisch wäre es, im Zuge der Bemühungen für mehr Einbürgerung auch Studien zu der Frage zur Kenntnis zu nehmen, warum sich ein nicht zu vernachlässigender Teil der einbürgerungsfähigen Ausländer gegen den deutschen Pass entscheidet. Eine bedeutende Hürde stellt dabei der Zwang dar, die bisherige Staatsangehörigkeit aufgeben zu müssen, wie eine Umfrage zum Einbürgerungsverhalten des Zentrums für Türkeistudien belegt.
Die Mär von den Loyalitätskonflikten
Und wäre es schließlich nicht ebenfalls an der Zeit, die Vorbehalte gegen die doppelte Staatsangehörigkeit mit der Realität abzugleichen, besonders die unterstellten Loyalitätskonflikte? Dazu könnte man zum Beispiel auf die Erfahrungen derjenigen Staaten zurückgreifen, die sich schon länger als Einwanderungsländer begreifen und Mehrstaatigkeit zulassen, wie dies in Großbritannien oder Frankreich der Fall ist, ohne dass dies dort zu nennenswerten Konflikten führt. So sähe ein pragmatischer Zugang aus im Bemühen, mehr politische Teilhabe für alle zu erreichen.
Doch an der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft oder auch um die Abschaffung der so genannten Optionspflicht lässt sich ablesen, dass dabei weniger die Befindlichkeiten von Migranten verhandelt werden als vielmehr die Identitätsfragen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Besonders deutlich wurde dies etwa in einem Interview des damaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich, das er während der Koalitionsverhandlungen im November 2013 dem Münchner Merkur gab. Darin sprach sich Friedrich klar gegen Mehrstaatigkeit aus: „Wenn wir Millionen von Menschen die doppelte Staatsbürgerschaft geben, die sie weitervererben, werden wir eine dauerhafte türkische Minderheit in Deutschland haben. Das bedeutet eine langfristige Veränderung der Identität der deutschen Gesellschaft. Ich bin dagegen.“
Diese Aussage ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Sie offenbart zum einen ein paternalistisch anmutendes Verständnis von Staatsbürgerschaft, das ein hierarchisches Verhältnis zwischen Mehrheitsbevölkerung und Einwanderern festschreibt. Der deutsche Pass wird hier als etwas begriffen, das „wir“, die Alteingesessenen, „ihnen“, den Dazugekommenen geben, sofern „wir“ befinden, dass „sie“ zu „uns“ passen. Dabei ließe sich Staatsbürgerschaft aus demokratietheoretischer Sicht mit Hannah Arendt auch als das Recht verstehen, Rechte zu haben. Bemerkenswert ist zum anderen, dass Friedrich offensichtlich kein generelles Problem damit hat, wenn deutsche Staatsbürger auch noch einen weiteren Pass besitzen. Zumindest bleiben die eingebürgerten EU-Bürgerinnen und -bürger unerwähnt, bei denen dies gang und gäbe ist.
Hier zeigt sich, dass es in den Debatten um die doppelte Staatsangehörigkeit vor allem um eine spezifische Gruppe geht, die zur Bedrohung für die deutsche Identität stilisiert wird: die Türken (oder spätestens seit Sarrazin auch: die Muslime). Obwohl sie laut Statistischem Bundesamt eine durchschnittliche Aufenthaltsdauer von etwa 25 Jahren in Deutschland aufweisen, qualifiziert das die türkeistämmigen Migranten in den Augen des ehemaligen Bundesinnenministers (und er ist kaum der Einzige mit dieser Meinung) nicht in dem gleichen Maße für einen Doppelpass wie andere „Ausländer“.
Die Fiktion der homogenen Nation lebt
Das Konstrukt einer homogenen „Kulturnation“, das Friedrichs Argumentation implizit zugrunde liegt, ermöglicht den Ausschluss jener, die nicht erst infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 als „Andere“ und kulturell „Fremde“ stigmatisiert werden. Die Kategorien „Kultur“ und „Religion“ spielten in der Argumentationsfigur einer drohenden Überfremdung auch schon Anfang der achtziger Jahre eine entscheidende Rolle im Diskurs über „Gastarbeiter“ und Ausländer. So beklagte eine Reihe deutscher Professoren im „Heidelberger Manifest“ 1981 beispielsweise „die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“ – und forderte „die Erhaltung des deutschen Volkes und seiner geistigen Identität auf der Grundlage unseres christlich-abendländischen Erbes“.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die erste „Leitkulturdebatte“, die zeitgleich mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 1999 aufkam. Diese Reform hat das bis dahin geltende ius sanguinis durch das ius soli ergänzt, in Deutschland geborene Kinder von Migranten sind seitdem von Geburt an Deutsche. Das auf Abstammung basierende Nationsverständnis wurde dadurch zwar aufgeweicht, zugleich entwickelten sich aber neue Ausgrenzungsmechanismen, wie die diversen Leitkultur- und Integrationsdebatten veranschaulichen: Die kulturelle und religiöse Identität hat bei der Aushandlung von Zugehörigkeit mittlerweile stetig an Bedeutung gewonnen und erlaubt, auch in Zeiten einer brüchig werdenden „Abstammungsgemeinschaft“ die Fiktion einer homogenen Nation aufrechtzuerhalten.
Das völkische, auf gemeinsamer Abstammung basierende Verständnis von Deutschsein prägte nicht nur lange Zeit das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, sondern wirkt sich auch auf Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund aus. Diese erleben in ihrem Alltag häufig, dass ihnen trotz deutscher Staatsbürgerschaft nach wie vor die Zugehörigkeit verweigert wird und sie nicht als „echte“ oder „richtige“ Deutsche wahrgenommen werden.
Reformen des Staatsangehörigkeitsrechtes müssen daher von gesamtgesellschaftlichen Debatten flankiert werden, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie die nationalen, ethnischen und kulturellen kollektiven Identitätskonstruktionen geöffnet werden können. Lohnenswert wäre es, Erkenntnisse der aktuellen Migrationsforschung in diese Diskussionen mit einfließen zu lassen. Bedeutend ist hier etwa das Konzept des Transnationalismus.
Transnationalität als neue Normalität
Während sich die politische Integrationssteuerung in Deutschland auf die Eingliederung und Teilhabe in einer Gesellschaft konzentriert, zeigt der transnationale Ansatz die Möglichkeit der Verortung in zwei oder auch mehreren Gesellschaften auf. Dadurch entstehen neue transnationale soziale Räume, wie es der Soziologe Ludger Pries formuliert. Hierbei geht es auch um Prozesse der Dezentralisierung, da es für Menschen nicht mehr nur einen Bezugspunkt gibt. Territoriale Grenzen verlieren zwar nicht an Bedeutung, werden aber durch permanente (nicht nur physische) Grenzüberschreitungen herausgefordert und irritiert, nicht zuletzt durch neue Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation.
Homogene Sesshaftigkeit war gestern
Unsere vielfältiger werdenden Migrationsgesellschaften sollten es daher aushalten, wenn Angehörige von Minderheiten Kontakte und Verbindungen in ihre Herkunftsländer oder die ihrer Eltern und Großeltern pflegen; wenn sie sich emotional von politischen Vorgängen in diesen Ländern betroffen zeigen und dann beispielsweise in Deutschland auf die Straße gehen, um gegen Missstände in diesen Ländern zu demonstrieren. Wer dies als Ausdruck von Desintegration deutet, verkennt, dass Mehrfachidentitäten heute eher die Regel als die Ausnahme in Migrationsgesellschaften sind.
Transnationalisierungsprozesse aufgrund von Migration kennzeichnen moderne Einwanderungsgesellschaften. In unserer globalisierten Welt ist es überholt, an der Vorstellung eines sesshaften Lebens und der eindeutigen Zuordnung in homogen gedachte Nationen festzuhalten. Mehrfachzugehörigkeiten und hybride Identitäten sind in den Großstädten Europas jedenfalls längst Realität.
Deshalb sollte das Diktum von Deutschland als Einwanderungsland in ein gesamtgesellschaftlich getragenes neues Verständnis von Deutschsein münden, damit es nicht zu einer leeren Formel verkommt – ein Verständnis, das sich nicht mehr an Deutschen mit multiplen Staatsangehörigkeiten stößt.