Die neuen Antisemiten von links
Der klassische Antisemitismus von rechts – schmuddlig und rassistisch – spielte nach dem Krieg in Europa nur eine untergeordnete Rolle. Gewiss existierten da und dort noch Biotope des Judenhasses, aber bis auf einen unverbesserlichen Bodensatz waren europäische Gesellschaften weitgehend immun geworden gegen den klassischen Antisemitismus; zu tief saß und sitzt der Schock über den Holocaust, zumal in Deutschland. Doch dieser Zustand hat sich verschoben, zunächst kaum merklich, in der letzten Dekade allerdings immer deutlicher. Quer durch Europa greifen Stimmungen und Einstellungen um sich, die oft als „neuer“ Antisemitismus definiert werden, obwohl genaueres Hinschauen zeigt, dass es sich dabei wieder bloß um alten Wein in neuen Schläuchen handelt.
Sind Juden in Europa noch sicher?
Seit 1945 existiert in Europa eine beinahe paradoxe Situation: Durch Holocaust, Auswanderung und die Gründung des Staates Israel gibt es auf dem Kontinent im Grunde genommen keine „jüdische Welt“ mehr, sondern nur noch vereinzelte jüdische Gemeinden. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Europa gut 10 Millionen Juden; heute sind es kaum mehr als 1 Million. Die größten jüdischen Gemeinden sind in Frankreich (ca. 600 000 Angehörige) und Großbritannien (ca. 250 000) zu finden. Aber diese Gemeinden schrumpfen, vor allem in Frankreich. Dort entschließen sich immer mehr jüdische Familien, nach Israel auszuwandern, weil sie sich in ihrem Heimatland nicht mehr sicher fühlen. Ähnliches gilt auch für Großbritannien, die Niederlande und Belgien, wo es in diesem Jahr zu Mordattacken auf Juden kam. Generell gilt: Die Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen haben in den vergangenen zehn Jahren bedrohlich zugenommen.
„Neu“ an diesem Antisemitismus ist die Tätergruppe. In der großen Mehrheit sind es nicht rechtsextreme Skinheads oder ähnliche Elemente aus der Mottenkiste der Geschichte, sondern es handelt sich, wie der Historiker Michael Wolfssohn sagt, um „Neuinländer mit islamischem Migrationshintergrund“. Dieser Befund lässt sich nicht leugnen. Die Zahl muslimischer Einwanderer ist seit Anfang des Jahrhunderts erheblich gewachsen. Viele von ihnen sind wenig oder gar nicht in die europäischen Gesellschaften integriert, sie leben in Parallelwelten, in denen sich das antijüdische Gift oft ziemlich ungehindert ausbreiten kann. Wohin man in Europa auch schaut: Es gibt viel zu wenig muslimische Einrichtungen, die sich ernsthaft darum bemühen, dem Hass auf Juden und Israel entgegenzutreten.
Dieser Befund ist besorgniserregend genug, zumal angesichts der fundamentalistischen Welle, die sich über Jahrzehnte hinweg in den beiden großen islamischen Glaubensrichtungen aufgebaut und verbreitet hat und deren Wucht weiter zunimmt, wie die jüngste Entwicklung im Nahen Osten auf erschreckende Weise zeigt. Zum Kern der fundamentalistisch-islamistischen Botschaft gehören Hass und Vernichtungsentschlossenheit gegenüber den Juden. Mit dieser Problemlage sind alle Staaten des Westens konfrontiert, nicht nur die europäischen Länder, sondern auch die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien. Hinzu gesellt sich eine hausgemachte, ebenfalls bedenkliche Entwicklung: Gefühle der Abneigung gegen Israel, die dem „klassischen“ Antisemitismus manchmal gefährlich nahekommen, ihm jedenfalls neue Nahrung geben könnten, sprudeln aus anderen Quellen.
Die Einstellung des linken und linksliberalen Milieus, das Medien und Kulturinstitutionen dominiert, zu Israel und dem jüdischen Volk hat sich deutlich gewandelt. Um diesen Trend zu erfassen, greift man auf neue Begriffe zurück. In Großbritannien etwa wird seit geraumer Zeit von „Judäophobie“ gesprochen – ein unscharfes Wort, in dem die Verdammung der Palästinapolitik Israels und ein generelles Gefühl der Antipathie gegenüber Juden zusammenfließen. Auch von einem „neuen“ oder „linken Antisemitismus“ ist die Rede. Jeder militärische Konflikt zwischen Israel und Hamas gibt der jüdischen Antipathie neue Nahrung, wovon die Berichterstattung und Kommentare in den europäischen Medien während des jüngsten Gaza-Konflikts eindrucksvoll zeugen. Auf diesen Zusammenhang wies auch der Präsident des jüdischen Weltkongresses Ronald Lauder hin: „Die Berichte im Fernsehen waren sehr auf Israel und Gaza fokussiert, und interessierte Agitatoren haben dann den Zeigefinger auf Israel gerichtet. Was mich verwundert hat, war die Heftigkeit der Attacken, wie wir sie zum Beispiel in Frankreich gesehen haben. Das hatte eine neue Dimension, das hat uns aufgeschreckt.“
Das linke Milieu setzte auf die PLO
Vor wenigen Jahrzehnten noch wäre es kaum möglich gewesen, ausgerechnet dem linken Lager eine besondere Abneigung gegen Juden zu unterstellen. Die Judenfeindlichkeit grassierte, so wurde vermutet, da und dort in bürgerlich-konservativen Kreisen, nicht aber unter „progressiven“ Akademikern und Intellektuellen des „kulturellen Marxismus“. Schließlich war der Enthusiasmus für den Sozialismus der Kibbuzbewegung gerade bei jungen europäischen und amerikanischen Linken der Nachkriegszeit besonders ausgeprägt. Der neue Staat der Juden stieß auf Sympathie und wurde weithin unterstützt.
Dies begann sich in den späten sechziger Jahren zu ändern, als sich an den Universitäten aus der Bewegung der Achtundsechziger linksradikale Gruppierungen herausbildeten, von denen einige wenig später in den Terrorismus abglitten. Diese Gruppen entdeckten den Gleichklang ihres „revolutionären Kampfes“ mit Guerillaorganisationen der Dritten Welt, allen voran der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Das radikale Milieu identifizierte sich mit dem Kampf der Palästinenser, und ihre extremen Vertreter ließen sich in den Lagern der PLO im Guerillakampf ausbilden.
Wie kam es dazu? Jahrhundertelang waren die Juden ein Volk ohne Staat und Territorium gewesen. Zwangsläufig kamen sie dem Ideal des Weltbürgers nahe, das sozialistische Utopisten beflügelte und heute, in eigentümlich verdrehter Weise, fortlebt in der „Ideologie des Multikulturalismus“. Der jüdische Beitrag zu Ideen, die die Überwindung des Nationalstaates anstrebten, war erheblich, wie die Namen Marx und Trotzki belegen.
Israels Existenzrecht wird bestritten
Aus radikaler linker Perspektive war schon die Gründung Israels ein Sündenfall. Je klarer sich herauskristallisierte, dass der jüdische Staat seine Interessen ruppig, notfalls auch mit kriegerischen Mittel verfolgte, desto mehr wuchs die Abneigung. Die enge Verbindung Israels mit der „imperialistischen“, kapitalistischen Supermacht USA stellt für die Linke den zweiten Sündenfall dar. Das linksliberale Milieu aber, das nach dem Scheitern des Kommunismus seiner Utopie beraubt, aber deshalb nicht weniger „antiimperialistisch“ und „antikapitalistisch“ war, gab sich fortan noch stärker dem „Selbsthass“ auf das eigene System hin. Untrennbar damit verbunden ist ein vehementer Anti-Amerikanismus, der auch auf Israel projiziert wird, den Klientelstaat Amerikas. Weil in Deutschland das „Holocaust-Tabu“ wirkt, hielten sich hierzulande solche Gefühle in Grenzen – oder man vermied es, allzu deutlich zu werden. Das Gefühl kollektiver Schuld an der Vernichtung der Juden ist noch zu frisch.
Anderswo in Europa ist man weniger zurückhaltend, nicht zuletzt in Großbritannien. Während einer Londoner Dinnerparty äußerte kürzlich eine Verlegerin ganz unbefangen, die Juden seien zwar geschickt, aber irgendwie schwierig und unbequem. Sie sorgten stets für Ärger. Auch habe die „jüdische Lobby“ viel zu großen Einfluss auf die Regierungen des Westens. Die Frau vertrat die Auffassung, die Briten würden stets instinktiv die Partei des „underdogs“ ergreifen, eine Rolle, für die in ihren Augen natürlich nur die Palästinenser infrage kommen. Dieses Weltbild wird täglich vom meinungsbildenden „Today“-Programm auf Radio 4 der BBC sowie vom Guardian bekräftigt. Wie sie sich die Lösung des Konfliktes vorstelle? Nun, das „Unrecht“ schon bei der Gründung des Staates Israel geschehen. Diese Position läuft logisch darauf hinaus, Israel das Existenzrecht abzusprechen – eine Meinung, die immer häufiger zu hören ist.
Bereits 2004 verlor Jenny Tonge, eine Abgeordnete der britischen Liberaldemokraten, ihren Platz im Führungsteam der Partei, nachdem sie „Sympathie“ für palästinensische Selbstmordbomber geäußert hatte. Heute gehören solche oder ähnliche Äußerungen beinahe zum Alltag. In einem Beitrag des BBC-Fernsehens wurde der Versuch unternommen, den alltäglichen Antisemitismus in Ägyptens Presse wegzuerklären: „Hakennasige Juden“ in Karikaturen mögen Außenstehenden „anachronistisch erscheinen“, in Wahrheit drücke sich darin nur der „Wunsch nach Unterstützung für die Palästinenser“ aus. Auf den Meinungsseiten des Guardian tummeln sich regelmäßig antiisraelische Kommentatoren von links bis rechts – häufig mit so viel Schaum vor dem Mund, dass man zu zweifeln beginnt, ob sich da wirklich nur „antizionistische Gefühle“ austoben.
Schon vor zehn Jahren beklagte der schottische Labourveteran Tam Dayell den „übermächtigen Einfluss einer jüdischen Kabale“ auf die Regierung von Tony Blair. Als Beweis für seine These führte Dayell die Namen Peter Mandelson und Jack Straw, der damalige Außenminister, an. Beide waren bis dahin nicht als „jüdisch“ bekannt. Der Economist kommentierte lakonisch, diese genetischen Zuordnungen Tam Dayells träfen nur dann zu, wenn man sich die Kriterien von Hitlers Rassengesetzen zu Eigen mache.
Israel kritisiert man, Russland nicht
Chris Davies, der ehemalige Führer der Liberaldemokraten im Europaparlament, musste 2006 zurücktreten, nachdem er auf die Kritik einer israelischen Zeitungsleserin mit wütenden Ausfällen per E-Mail reagiert hatte. Die Leserin hatte gefragt, warum liberale Zeitgenossen Israel unaufhörlich mit den schärfsten Vorwürfen attackierten, aber extremistische Muslime unterstützten, die homophob, frauenfeindlich und gegenüber anderen Religionen ebenso intolerant wie mörderisch seien. Davies hatte Israel beschuldigt, als „Opfer zu posieren“, während es eine „rassistische Politik der Apartheid“ praktiziere.
Bei den Liberaldemokraten, die links von Labour stehen und programmatisch den deutschen Grünen ähneln, sind solche Auffassungen auch an der Basis weit verbreitet. Ein liberaldemokratischer Abgeordneter aus dem englischen Norden erklärte kürzlich auf Twitter: „Wenn ich in Gaza lebte, würde ich Raketen auf Israel abfeuern? Wahrscheinlich ja.“ Die existenzielle Bedrohung, der Israel ausgesetzt ist, wird in diesen Kreisen systematisch ignoriert. Die Propaganda von Hamas und Hisbollah wird zumeist unkritisch geschluckt, inklusive angeblicher Massaker wie in Jenin oder getürkter Todesopfer im Libanonkrieg von 2006. Dasselbe wiederholte sich während des letzten Gazakonfliktes. In der BBC gab es endlose Schlagzeilen und Kommentare über die „unverhältnismäßige Gewaltanwendung“ Israels, untermauert durch die geringe Zahl israelischer Todesopfer, aber kaum ein Wort wurde über die zynische Politik der Hamas verloren, die die Zivilbevölkerung in Gaza als „menschliche Schutzschilder“ missbrauchte und Tausende Raketen auf israelische Wohngebiete abfeuerte – von Rampen, die unter Schulen, Hospitälern und Wohnblocks installiert waren.
Auch spielen viele Liberale und Linke die vom totalitären Islamismus ausgehende Gefahr systematisch herunter. Mit dubiosen Regimen wie Saudi-Arabien oder Katar, die systematisch Menschenrechte verletzen, gehen sie äußerst sanft um. Israel dagegen, die einzige liberale Demokratie des Nahen Ostens, in der 1,8 Millionen Araber Freiheiten genießen wie sonst nirgendwo in der arabischen Welt, wird hyperkritisch unter die Lupe genommen. Und israelische Einrichtungen sind mit Boykottaufrufen konfrontiert.
So haben Architekten zum Ausschluss jüdischer Kollegen aus internationalen Verbänden aufgerufen, nicht aber den Ausschluss von Chinesen, Sudanesen oder Russen gefordert – obwohl Russland in Tschetschenien sehr viel mehr Menschen getötet hat als Israel in Palästina. Akademische Verbände in Großbritannien fordern und beschließen immer wieder den Boykott israelischer Universitäten oder Akademiker – wegen des Verstoßes gegen Menschenrechte. Oder es geht um den Boykott israelischer Waren. Der Zorn konzentriert sich allein auf Israel. Nicht auf Russland, China oder den Iran. Warum nicht sie? Warum nur Israel, das in dem Konflikt mit der Hamas mit einer Hand hinter dem Rücken kämpft und generell enorme Zurückhaltung übt gegen einen Gegner, der es vernichten will?
Weithin üblich geworden ist es, vom „Unrechtsstaat“ Israel zu sprechen; die Verwendung historisch besonders negativ besetzter Begriffe wirkt absichtsvoll. Wer den Israelis Methoden wie in „Nazideutschland“ unterstellt, vom „Apartheidstaat“ spricht oder gar Parallelen zum Holocaust zieht, will offenkundig eines klarmachen: Israel und die Juden haben inzwischen jeglichen moralischen Anspruch verwirkt. Sie besitzen kein Anrecht mehr auf Unterstützung.
Um nicht missverstanden zu werden: Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern ist legitim und notwendig, nicht zuletzt auch an der Siedlungspolitik in der Westbank, die es den Freunden des israelischen Staates schwer macht. Aber es ist ebenso nötig, sich daran zu erinnern, warum es im Jahr 2000 nicht zu einem Friedensschluss unter Vermittlung der USA kam. Dabei war dieser zum Greifen nahe, bevor Arafat die Unterschrift unter den Friedensvertrag verweigerte. Dabei war Israel zur Rückgabe von 97 Prozent aller eroberten Gebiete bereit gewesen. Stattdessen rief Arafat die zweite Intifada aus. Die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung rückt seither in immer weitere Ferne.
Die Kultur des westlichen Selbsthasses
Gewiss ist es ebenso legitim, die Neigung mancher jüdischer Kreise zu thematisieren, die den Holocaust instrumentalisieren, um unliebsame Kritik abzuwehren. Oder auf die „Holocaust-Industrie“ zu verweisen, wie es selbstkritische jüdische Intellektuelle oft genug getan haben. Man wünschte sich gelegentlich, es gäbe in der islamischen Welt mit ihren rund 1,2 Milliarden Menschen nur einen Bruchteil der zahlreichen scharfen Kritiker, die die im Vergleich winzige jüdische Weltgemeinde hervorgebracht hat.
Bei all dem sollte man eines nicht vergessen: Kritik an der Politik Israels dient oftmals als Vorwand für eine generelle Abrechnung mit dem angeblich überbordenden Einfluss der Juden. Der Hinweis auf die „jüdische Lobby“ in Washington und ihre „Kontrolle“ über die amerikanische Außenpolitik und die jüdische Atombombe zählen zu den unverzichtbaren Elementen im Arsenal linker Israelkritik, wobei die Aufwallung der Israelkritik Hand in Hand geht mit dem, was sich als „Kultur des westlichen Selbsthasses“ manifestiert: Eine völlig überzogene kritische Einstellung zum eigenen System, das gewiss alles andere als perfekt ist, aber dennoch einen Hort der Freiheit und Menschenrechte darstellt.
Es ist denn auch folgerichtig, dass sich harte Linke und extreme Islamisten längst in einer Allianz zusammengefunden haben. Beispielsweise hat der frühere Labourlinke George Galloway, der heute für die „Respect“-Partei im Unterhaus sitzt, seine (zur Hälfte muslimische) nordenglische Stadt Bradford kürzlich zur „israelfreien Zone“ erklärt. Dort seien weder „israelische Produkte, Akademiker, noch Touristen“ erwünscht. Ähnliche antisemitische Ausfälle lassen sich auch anderswo in Europa beobachten. So werben in Frankreich Rechtsextremisten seit vielen Jahren in den Banlieus erfolgreich um die Stimmen arabischer Wählergruppen.
Es wäre an der Zeit, dass das linksliberale Milieu seinen Anti-Amerikanismus bremst und begreift: Nach Faschismus, Nationalsozialismus und verschiedenen Spielarten des Kommunismus manifestiert sich der neue Totalitarismus im Islamismus, der in seinen diversen Mutationen von Afrika bis Asien grassiert. Die Feinde von Freiheit und Menschenrechten sind bei Boko Haram, Al Shebab, den Muslimbrüdern, der Hamas, al-Kaida, ISIS oder den schiitischen Varianten wie der Hisbollah zu finden. Ohne Amerika werden sie nicht zu besiegen sein – wie zuvor nicht die Totalitarismen von Links und Rechts.