Die neuen Ostdeutschen

Im Osten sind die Jungen moderner als im Westen

Es hätte so schön sein können: nach dem Abitur einen der begehrten Studienplätze in Potsdam, im 7. und 8. Semester in die Sowjetunion, nach fünf Jahren Studium ein garantierter Job, ein überdurchschnittliches Gehalt und eine gute Rente. So ähnlich hätte die Zukunft von Anna ausgesehen. Sie entschied sich 1987, gerade 15 geworden, für die Spezialschule zur Vorbereitung auf das Russischlehrer-Studium. Ihr Staat, die DDR, hatte alles für sie geplant. Aber es kam anders. Denn nicht geplant war die Wende von 1989. Mit der Wende änderten sich Schul- und Hochschulsystem, Annas Studienwunsch und ihre gesamte Zukunft. Russischlehrer wurden nicht mehr gebraucht.

Wenn es um Jugend geht, kennen Kategorien keine Grenzen. Beliebt ist das Denken in Generationen. Und was es da alles gab: die 68er wurden von der Generation X abgelöst, die Generation @ wurde ausgerufen ...

Seit neustem werden die 25 bis 35-jährigen als Generation Golf bezeichnet. Es stellt sich allerdings die Frage: Wo ist der Osten? Der Teil dieses Landes, der im Westen kaum vorkommt. Oder allenfalls vorkommt in Verbindung mit Horden von schlagenden Zu-kurz-gekommenen und Zu-kurz-geschorenen.

Aber ist das alles? Gibt es da nicht - jenseits der Schlägertypen - eine "Generation", die sich in der neuen Welt bewegt, wie Fische im Wasser. Junge Leute, die eine einmalige Erfahrung gemacht haben: Sie haben ein System - die DDR - gerade noch bewusst erlebt, haben noch den Wehrkundeunterricht mitgemacht, an der Messe der Meister von Morgen oder am Agitatorenwettstreit teilgenommen. Sie haben den Umbruch miterlebt, erlebten die Demonstrationen und sahen zum ersten (und letzten) Mal die Live-Übertragungen aus der Volkskammer. Und dann wachten sie in der Welt von McDonalds, MTV und Milchschnitte auf. Und das alles in ein und demselben Land. Menschen, die heute um die 25, 30 Jahre alt sind - allerdings etwas mehr erlebt haben, als die Qual der Wahl "zwischen einer grünen und einen blauen Barbour-Jacke" (so Florian Illies in der Generation Golf). Eine "Generation", die vielleicht mit dem jahrelangen Warten auf den Trabbi, aber ohne Golf und seine Werbung aufgewachsen ist.

Meine These ist: Es gibt im Osten junge Leute, die weit entfernt leben von der Arroganz und immer währenden Ironie der sich selbst feiernden (West-)Generation Golf und ihren neuen literarischen Vorkämpfern. An denen die Salonsicht der jungen Schnösel aus dem Feuilleton der FAZ vorbeigeht. Diese jungen Leute haben in den Umbrüchen der 90er Jahre - beim Sprung vom Telefonieren aus der ein Kilometer entfernten Zelle ins ISDN-Zeitalter - ein feines Gespür für gesellschaftliche Spannungen und Veränderungen bekommen.

Die Soziologen sprechen von Generation im Zusammenhang mit einem prägenden Ereignis. 1968 war ohne Zweifel ein solches Ereignis. Es hat vielen Menschen und vielleicht auch einer ganzen Gesellschaft seinen Stempel aufgedrückt hat. Der nächste große Sprung fand 1989 statt. Der Fall der Berliner Mauer hat einem ganzen Volk die Grundlage seiner Existenz genommen, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit eröffnet, sich neu einzurichten. Diese Erfahrung - Zerstörung und Neuanfang - hat die Menschen im Osten weitaus mehr geprägt als die fernsehschauenden Brüder und Schwestern im Westen. Für die jungen Ostdeutschen gilt das in besonderem Maße.

Mit einem Schlag war 1989/90 die DDR verschwunden und mit ihr Volkskammer und SED-Zentralkomitee, die Kinderkombinationen und Polytechnischen Oberschulen, die Dienstleistungskombinate und LPGs, die Wartburgs und Roburs, das Schlangestehen nach ein paar vertrockneten Kuba-Orangen. Von einem Tag auf den anderen gab es zwanzig Waschmittel statt zwei, gab es komplizierte Fahrkartenautomaten im Stadtbus, dessen Türen nicht mehr klingelten, gab es neue Personalausweise und privates Fernsehen, tauchten Kiwis und Avocados auf, ICEs und Computer, CDs und Videos. Nicht zu vergessen natürlich freie Wahlen und - das Arbeitsamt.

Und die Ossis? Sie haben in einer enormen Geschwindigkeit das beste aus der Situation gemacht. Viele sind auch an den rasanten Umstürzen gescheitert. Die Arbeitslosenzahlen, die mehr als doppelt so hoch sind wie im Westen der Republik, erzählen davon. Für die jungen Ossis, die 1990 die letzten Schuljahre drehten, ergab sich mit der Wende die Chance, ihr Leben doch noch selbst in die Hand zu nehmen. Und zwar kurz bevor die DDR mit ihrer verplanten zentralen Studien- und Arbeitsplatzvergabe ihre Biographien unwiderruflich bestimmt hätte.

Die Neuen wollen es wissen

Es gibt heute im Osten Deutschlands kaum Diskussionen ohne die DDR, ob nun unter Freunden, auf der Straße oder im Café. Die Verblichene ist nach wie vor präsent. Es geht immer wieder um die selben Fragen: War es nun besser in der DDR oder nicht? Was war anders als heute? Und wie haben wir die Wende erlebt oder erlitten? Dabei schaffen es die meisten, zu schimpfen und zu zeigen, dass heute auch nicht alles Gold ist was glänzt - gleichzeitig aber auch unter Beweis zu stellen, dass sie es ja doch auch irgendwie geschafft haben. Viele, gerade die heute 50-60jährigen, haben an gesellschaftlichem Status verloren und verbinden den Verlust der DDR häufig mit einer persönlichen Niederlage, obwohl es den meisten von ihnen zumindestens materiell nicht schlechter geht. Den Sinn jedoch - und manchmal auch die Macht - die ihnen der Staat gab, haben sie verloren.

Und dann sind da die heute fourty-somethings. Auch unter ihnen haben sich viele eine neue Existenz aufgebaut, haben Läden eröffnet, sind aus der Platte auf die grüne Wiese gezogen oder haben sich in ihrem alten Job neu orientiert. Mit mehr oder mit weniger Enthusiasmus. Die meisten waren letztendlich irgendwie erfolgreich. Aber sie hadern mit ihrem Schicksal. Die DDR steckt in ihnen. Und mit der DDR häufig auch deren Denken und deren Geisteshaltungen. Es ist viel schwerer, Neuanfangen zu denken - wenn einem die Vergangenheit selbst im Weg steht. Das beste (und manchmal auch das abschreckendste) Beispiel sind die Lehrerinnen und Lehrer: Sie haben keine eigene Meinung mehr. Ein Grund, warum es um das Demokratieverständnis an den ostdeutschen Schulen so schlecht bestellt ist. Von wem sollen die Kinder es denn lernen?


Die Um-die-25jährigen haben hingegen einen Startvorteil: Ihr Leben in der DDR war lang genug, um den Staat kennen zulernen, aber auch kurz genug, um sich im neuen Staat schnell zurecht zu finden. Mittlerweile attestiert die Shell-Jugendstudie der jungen Generation im Osten größere Zukunftszuversicht als im Westen. Die "neue Jugend im Osten" ist mobiler und leistungsbereiter, sie lernt und studiert schneller als die Wessis. Vor allem machen die Frauen auf sich aufmerksam: Sie sind zielstrebiger und erfolgsorientierter, mit dem ausgeprägten Willen, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Laut Shell-Studie würden 63 Prozent der jungen Ost-Frauen für einen Job innerhalb Deutschlands umziehen (Frauen West: 45 Prozent). Im Osten sind die jungen Leute zum Sprung in die Selbständigkeit eher bereit (53 Prozent, Westen: 46 Prozent). Insgesamt ist die junge Generation zuversichtlicher und verfolgt eigene Ziele selbstbewusster als noch vor ein paar Jahren.

Modernisierungsvorsprung Ost

Gleichzeitig stehen die jungen Ostdeutschen ihrem Land und der "neuen Gesellschaft" skeptisch gegenüber. Ihr Vertrauen in Staat und Parteien, Verbände und Kammern ist deutlich geringer als im Westen. Das politische Interesse ist in den letzten Jahren rabiat zurückgegangen. Hier wirkt die zusammengebrochene DDR nach. Instinktiv spüren die Ostdeutschen nach dem Zusammenbruch vieler DDR-Betriebe die Ohnmacht der Politik gegenüber allem Wirtschaftlichen. Warum sich dann also übermäßig für Politik interessieren? Politik spielt eben in der globalisierten Welt kaum noch eine Rolle. Hier ist eine Generation schon viel moderner, als es manchen lieb ist. Moderner insofern, weil sie die Anforderungen der new economy annehmen und nicht auf Vater Staat vertrauen, der schon irgendwie für Ordnung sorgen wird.

Doch es ist nicht der globalisierte Liberalismus ausgebrochen in Ostdeutschland. Denn gepaart mit der Skepsis gegenüber dem Staat und seiner nachlassenden Kraft, in die Ökonomie einzugreifen, ist auch ein starkes Vertrauen in alles Soziale. Die Ostdeutschen, gerade auch die jungen, vertrauen stärker noch als ihre westdeutschen Altersgenossen in Freundinnen, Freunde und Familie. Auch an den Staat werden für den Notfall nach wie vor hohe soziale Ansprüche gestellt. Es sieht so aus, als würden sich hier (wirtschafts-)liberale und soziale Erwartungen miteinander verbinden. Dann wären die jungen Ostdeutschen genau diejenigen, die sich Ökonomen und Politiker in allen Interviews immer wieder wünschen: leistungsbereite, selbständige und mobile Menschen, am liebsten mit sozialem Gewissen. Offenbar sind die jungen Ostdeutschen die moderneren Deutschen. Die Ossis haben Moderne und Post-Moderne hinter sich gelassen und zeigen unbewusst das Bild von der (ostdeutschen) Internet-Moderne. Um hier nicht in Euphorie zu verfallen: Natürlich gibt es auch "Verlierer der Einheit". Und sie fallen noch weiter zurück als die Verlierer im Westen. Aber das ist die Minderheit.

Aus drei Zutaten kommt die "neue Moderne": das soziale Gewissen aus der DDR-Zeit, die Fähigkeit, neu zu denken und sich zurechtzufinden, aus der Wende-Zeit und der unbedingte Wille zum Erfolg aus der Kapitalismuserfahrung. Die "Pragmatiker der Einheit" haben erfahren, wie es ist, wenn vieles von dem, was man einmal gelernt hat, unbrauchbar wurde. Wovor also Angst haben? Wenn ein Umbruch einmal klappt, funktioniert es auch ein zweites Mal.

In Zukunft vom Osten lernen?

In den neuen Ländern gibt in weiten Teilen die modernste Infrastruktur Europas - im Osten ist vieles noch keine zehn Jahre alt. Nirgendwo in Europa gibt es ein so moderneres Telekommunikationsnetz, in Chemnitz fahren High-Tech-Straßenbahnen, das Ilmenauer Institut für Medientechnik ist das beste seiner Art, unter dem Leipziger Augustusplatz findet sich die freundlichste Tiefgarage, die man sich im Westen nur erträumen kann. Und das mit der Demokratie funktioniert eigentlich auch. Sicherlich nicht perfekt, aber wie am Schnürchen lief es 1959 in der alten Bundesrepublik auch noch nicht.

Viele Ostdeutsche stellen eine berechtigte Frage: Wäre die sich manchmal selbstblockierende (West-) Gesellschaft überhaupt zu einer solchen Anpassungsleistung in der Lage? Selbstbewusstsein dem Westen gegenüber ist angesagt: "Was wir hinter uns haben, steht Euch noch bevor. Mal sehen, ob Ihr das ähnlich schnell und flexibel hinkriegt."

Natürlich braucht es weiterhin die Solidarität der Westdeutschen. Die sozialen und ökonomischen Probleme in den fünf neuen Ländern sind nach wie vor groß. Neben den West-Ost-Transfer kann jedoch ein Transfer vom Ost nach West treten: über die Kunst, sich im Leben mit Flexibilität, Pragmatismus und Kreativität einzurichten.

Allerdings, bisher ist das neue Selbstbewusstsein vor allem eins der jungen, der neuen Ostdeutschen. Und von denen wird es bald kaum noch welche geben. Die Abwanderung in den Westen ist in letzter Zeit wieder gestiegen. Die Jungen und gut Ausgebildeten verlassen ganze Landstriche. In manchen Dörfern der Lausitz oder Prignitz "herrschen" heute schon die Alten. Die nach 1989 eingebrochene Geburtenrate tut ihr übriges. Wenn es so weiter geht, wird die demographische Falle im Osten bald zuschnappen.

Politik und Wirtschaft sollten ihre Fühler mehr in den Osten der Republik ausstrecken. Hier ist - von den (west-zentrierten) Medien nahezu unbeobachtet - ein Stück Aufbruch und Zukunftsfähigkeit entstanden. Abseits der Draufsicht auf den "maroden Osten" gibt es viele Beispiele, wo von der oft beklagten Apathie keine Spur ist. In Dresden haben junge Leute einen Verein gegründet, der sich um Kinderheime in Osteuropa kümmert. Lange bevor es "Mode" wurde, ist der sächsische Juso-Vorsitzende zusammen mit seinen Kollegen vom DGB in die Schulen gegangen, um den Urteilen der Schüler über Ausländer und alles Fremde mit Argumenten zu begegnen. Das "Courage-Projekt" ist so erfolgreich, dass die Mannschaft um Martin Dulig den Anfragen der Schulen nicht mehr nachkommt. Leider hat erst der deutsche Sommer 2000 dem Projekt eine finanzielle Grundlage verschafft. Es gibt Orte wie Ostritz: mangels Arbeitsplätzen und Alternativen haben die Ostritzer ihre Stadt komplett umgekrempelt, mittlerweile funktioniert sie ausschließlich mit regenerativen Energien. Hier waren keine "grünen Spinner" am Werk, sondern Leute, die aus Scheiße Konfekt machen mussten. Ein S-Bahn-Tunnel für Leipzigs City? In fünf Jahren von der Idee zur Baureife, das dürfte deutscher Rekord sein.

Neues lässt sich in den neuen Ländern besser und schneller durchsetzen. Spontaneität und Ausprobieren stehen (immer noch) auf der Tagesordnung. Wenn Gerhard Schröder von der geheilten German disease spricht, meint er eigentlich das westdeutsche magische Dreieck von Gewerkschaften, Parteien und Verbänden, das in alle Ecken gekrochen ist. Der ostdeutsche Pragmatismus ist da längst weiter. Und vielleicht beginnt ja der Westen zehn Jahre nach der Vereinigung von den jungen ostdeutschen Pragmatikern zu lernen.

Nach der Wende machte Anna ihr Abitur an der Russisch-Schule zu Ende. Nur Russisch-Lehrerin wollte sie nicht mehr werden: "Wer braucht denn heute noch Russisch-Lehrer?" Statt dessen wurde die selbstbewusste Leipzigerin Dolmetscherin. Nach mehreren kurzen Auslandsaufenthalten folgte ein Aufbaustudium zur Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. Heute arbeitet die Mutter eines kleinen Sohnes mit ihrem Mann an der deutschen evangelischen Oberschule in Kairo. In ein paar Jahren möchte sie wieder zurück nach Deutschland. "Am liebsten nach Leipzig. Es gibt keine Stadt in Deutschland, die aufregender und moderner ist. Hoffentlich wohnen unsere Freunde dann noch dort. Ansonsten müssten wir neu überlegen." Vermisst sie die DDR und ihre damalige berufliche Sicherheit manchmal? "Nein, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, hätte ich mit der DDR nie haben können."

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