Die Normalität des Bösen

Mügeln war gestern. Die Welle der Empörung über neue Nazis und fremdenfeindliche Gewalt ist wieder verebbt. Unterdessen verbrüdern sich in manchen Regionen in aller Stille Nazis, Rassisten und normale Bürger: Der Konsens gegen Rechts löst sich auf

Der Rechtsextremismus erobert in Deutschland – von vielen unbemerkt – Macht im Alltag. Dieses Wahrnehmungsproblem hat auch damit zu tun, dass rechte Gewalt nur in konjunkturellen Zyklen von den Medien aufgegriffen wird. Von der Erregungsspitze rollt die Medienlawine los, die einen Dominoeffekt deutscher Rituale auslöst. Bürgermeister treten auf und sorgen sich um den guten Ruf ihrer Städte. Gleichzeitig setzt ein Abwehrreflex ein: Die diffamierende Berichterstattung wird beklagt und rechte Gewalt kleingeredet. Sensationslust trifft auf Bunkermentalität. Als Konsequenz streiten Politiker wenige Tage lang über ein neues NPD-Verbotsverfahren, ohne detailliert zu analysieren, welche gesellschaftliche und politische Rolle die NPD überhaupt spielt. Dann verebbt die Medienwelle. Zurück bleibt der Rekord von über 1.000 rechten Gewalt- und mehr als 17.000 rechten Straftaten im Jahr 2006 und die dann wieder ignorierte Realität, dass rechte Gewalt und Einschüchterung täglich darüber entscheiden, wer sich frei bewegen kann und wer nicht.

Die Gewaltnacht von Mügeln hat Ratlosigkeit hinterlassen. Die Staatsanwaltschaft befragte mehr als 100 Zeugen zum Ablauf der Nacht. Vor dem Festzelt waren alle acht Inder, aber auch vier Deutsche in einer Auseinandersetzung zum Teil schwer verletzt worden. Über den Ausbruch der Gewalt gibt es verschiedene Darstellungen. Auch gegen vier Inder leiteten die Ermittler Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung ein. Dieser erste Teil des Geschehens ist ein schwieriges Puzzle. Der zweite Teil ist eine Ungeheuerlichkeit. Die Inder flüchteten sich nach dem Gewaltausbruch in eine nahe gelegene Pizzeria. Vor der Pizzeria riefen Verfolger laut Zeugenaussagen: „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus“ und „Hier regiert der nationale Widerstand“. Die Justiz hat diesen ideologischen Aspekt der Nacht von Mügeln mit Geldstrafen wegen Volksverhetzung geahndet – und damit auch den Beschwichtigern widersprochen, die ein politisches Motiv rigoros verneinten.

Die Gewalt der „normalen“ Mitbürger

Politische Tatmotive werden nach rechten Gewalttaten immer wieder mit den Hinweisen bestritten, dass die Taten erstens spontan erfolgen und die Täter zweitens oftmals keiner rechten Organisation oder Gruppierung angehören. Beides ist jedoch für die Einschätzung einer Tat unerheblich. Nach rechter Gewalt gibt es regelmäßig eine Inflation der Kategorien: War die Attacke nun rechtsextrem, ausländerfeindlich, fremdenfeindlich? Die Kakophonie suggeriert, es gäbe keine genauen Kriterien für die Erfassung solcher Vorfälle. Dabei haben die Innenminister der Länder im Jahr 2001 aus gutem Grund eine neue Zählweise für rechtsextreme Straftaten eingeführt. Zuvor galten nur Angriffe auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung als rechtsextrem. Nach der neuen Zählweise soll eine Gewalttat als „politisch motivierte Kriminalität rechts“ bewertet werden, wenn die Täter im Namen eines Kollektivs wie Volk, Nation und Rasse handeln und ihre Opfer nicht aus persönlichen Gründen attackieren, sondern aus rassistischen oder ausländerfeindlichen. Wer also „Deutschland den Deutschen“ fordert, wer behauptet „hier regiert der nationale Widerstand“ und diese Einstellungen spontan in die Tat umsetzt, der handelt nicht aus persönlichen Motiven, sondern aus politischen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele rechte Gewalttäter nicht über ein geschlossen rechtsextremes Weltbild verfügen. Aber kann man denn diffuse Einstellungen radikaler ausleben als mit Gewalt? Rassismus und Ausländerfeindlichkeit sind nur ein Teil des Rechtsextremismus, aber die Ideologie der Ungleichheit ist der rechtsextreme Kern. „Ausländer raus“ ist die wichtigste politische Forderung. Es ist eine beunruhigende Entwicklung, dass neben der organisierten rechten Gewalt – etwa von Kameradschaften – rechte Gewalt auch von scheinbar „normalen“ Mitbürgern verübt wird. Obwohl also die Vorgaben des Bundesinnenministeriums eindeutig sind, eiern Behörden und Politiker nach rechten Straftaten regelmäßig herum.

Mügeln stand kurz vor dem Pogrom

Im Fall Mügeln wurde ein bemerkenswertes Urteil gesprochen. Das Amtsgericht Oschatz verurteilte einen 23-jährigen Mügelner wegen Volksverhetzung und Sachbeschädigung zu acht Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Der Richter ging damit über das geforderte Strafmaß der Staatsanwaltschaft hinaus, die zehn Monate auf Bewährung beantragt hatte. Der Angeklagte ging in Berufung. Der in erster Instanz verurteilte Baumaschinenführer hatte sich in jener Nacht an die Spitze der Menge gestellt und ein Gitter in die Tür der Pizzeria geworfen, die rechten Parolen im Rücken. Daraufhin war die aggressive Stimmung offenbar explosiv geworden. Unbekannte versuchten, auf der Rückseite in das Gebäude einzudringen, wo die Inder nach Aussage eines Zeugen „Todesangst“ hatten. Ein Polizist stellte sich der Menge in den Weg. Nach dessen Einschätzung hätten die Verfolger die letzte Zuflucht der Inder, die ja schon schwer verletzt waren, wohl gestürmt, hätte er nicht eingegriffen. Der Richter begründete sein hartes Urteil mit einem Wort, das aufhorchen lassen sollte. Es habe in jener Nacht von Mügeln die Gefahr eines Pogroms bestanden. Beschwichtigende Politikerworte wie die von Sachsens Ministerpräsident Milbradt lassen erahnen, dass viele nicht zur Kenntnis nehmen, wie dicht Mügeln in jener Nacht vor einer Katastrophe stand.

Permanente Einschüchterung und Gewalt

Der rechtsextreme deutsche Alltag besteht nicht aus wenigen spektakulären Einzelfällen, die es in die Tagesschau schaffen, sondern aus permanenter Einschüchterung und Gewalt, die dazu führt, dass sich Ausländer und Andersdenkende aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Statistisch werden täglich mehr als zwei Menschen Opfer rechter Gewalt. Betroffene meiden Volksfeste, öffentliche Verkehrsmittel, ganze Regionen. No go areas sind keine abgezirkelten Gebiete, die man auf Landkarten eintragen kann, sondern wechselnde Angsträume, von denen sich Opfer und potenzielle Opfer erzählen. Es sind Orte konkreter Gewalttaten, die gemieden werden. In Berlin sind das etwa U- und S-Bahnen im Ostteil der Stadt.

Deutschland hat sich an eine Normalität des Bösen gewöhnt. Rechtsextreme Alltagsmacht führt zu keinem Aufschrei der Anständigen. Jeden Monat lässt sich eine lange und banale Chronik der Schande fortschreiben. Am 26. August 2007 wird in Chemnitz eine 40-jährige Mutter aus Afghanistan, die mit ihren Kindern in einem Kaufhaus spazieren geht, von einer Gruppe deutscher Männer angepöbelt. Einer von ihnen stürzt die Frau von einer Treppenstufe. Sie erleidet Schürfwunden. In Fürstenwalde, Brandenburg, wird am 4. August eine kenianische Mutter in Begleitung ihrer Kinder von einem Nachbarn rassistisch beleidigt und angegriffen. In Pritzwalk, ebenfalls Brandenburg, werden am 24. August zwei tunesische Gastronomen von zwei Männern aufgefordert, zu verschwinden. Später werfen Angreifer mit Steinen. Ein Mann wird verletzt. Am 4. August greifen vermummte Rechtsextremisten in Finsterwalde linke Jugendliche auf dem Marktplatz an. Fünf Jugendliche werden geschlagen und getreten, einer wird mit Prellungen ins Krankenhaus eingeliefert. Das sind die harmloseren Fälle. Andere enden mal mit einem gebrochenen Nasenbein, mal mit einem Schädelhirntrauma.

Dass der Rechtsextremismus in Deutschland mancherorts bestimmend wird, ist ebenso erschreckend wie der Mangel an Scham über die Taten. Immer wieder berichten Opfer, dass sie nach einem Angriff selbst Hilfe rufen müssen, dass Zeugen passiv bleiben. Ist das mangelnde Zivilcourage? Gleichgültigkeit? Klammheimliche Zustimmung? Egal was es ist, es ist beunruhigend.

Ist Deutschland „gefährlich überfremdet“?

Klar ist, dass rechtsextreme Einstellungen kein gesellschaftliches Randphänomen sind. „Wir sollten wieder einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ – das denken 17,5 Prozent im Osten und 14,6 Prozent im Westen. „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ – diese auf dem Ideal der ethnischen Reinheit basierende Meinung vertreten 40,5 Prozent in Ostdeutschland und 38,8 Prozent der Westdeutschen. Die Zahlen haben die Leipziger Elmar Brähler und Oliver Decker in einer repräsentativen Untersuchung für die Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 ermittelt. Nicht jeder, der diese Einstellungen vertritt, verfügt über ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Der Ausländerfeind sehnt sich nicht zwangsläufig nach einer Diktatur. Doch rechte Gewalt ist eingebettet in diese Stimmungen, die gar nicht notwendigerweise immer zu Wählerstimmen für die NPD werden. Auch unter den Wählern der CDU, der SPD und der PDS/ Linkspartei sind rechtsextreme Einstellungen verbreitet. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass die mangelnde Sensibilität für rechte Grenzverletzungen bei vielen Bürgern auf klammheimlicher Sympathie beruht. In einigen Regionen fühlen sich rechte Schläger als ausführende Organe des vermuteten Mehrheitswillens.

Die öffentliche Diskussion reduziert die rechte Gefahr gerne auf ein Effizienzproblem der Demokratie. Arbeitslosigkeit schaffe Rechtsextremismus – so lautet die simple Gleichung. Die soziale Frage ist aber nur eines der Probleme, die gelöst werden müssen. Vor einiger Zeit erschütterte eine Untersuchung über Rechtsextremismus unter Gewerkschaftern das Selbstverständnis der Arbeitnehmerorganisationen. Das beunruhigende Ergebnis lautet, dass unter Gewerkschaftsmitgliedern rechtsextreme Einstellungen ebenso existent sind wie unter Nichtmitgliedern. Die stolze Tradition einer solidarischen Arbeiterschaft macht also nicht immun gegen Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit. Besonders peinlich: Auch die Mittelschicht, aus der viele Gewerkschaftsfunktionäre kommen, ist anfällig für rechtes Denken. Die Angst vor sozialem Abstieg kann genauso bedrohlich wirken wie der Abstieg selbst. Wer um sein Haus, sein Auto, seinen Job fürchtet, sieht in einer Gesellschaft, der die Sicherheiten verloren gehen, schon einmal Ausländer als Konkurrenten und Nationalismus als Schutzschild vor globalen Zumutungen.

Gebührenfinanzierte Niedertracht

Nach Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen in den neunziger Jahren organisierten die Bürger in Deutschland Lichterketten. Nach dem Rekord rechter Gewalttaten im Jahr 2006 glimmen nur noch die kleinen Lichter von Einzelkämpfern. Das hat auch mit dem Strategiewechsel der organisierten Neonazis zu tun. Sie haben ihre Springerstiefel und Bomberjacken ausgezogen, biedern sich in Feuerwehren und Fußballvereinen an – und schlagen im Verborgenen zu. So hat es der Normalbürger viel schwerer, Neonazis als Gefahr zu erkennen.

Über Jahre hat sich der Kampf gegen eine bevormundende political correctness zum intellektuellen Volkssport entwickelt. Protagonisten einer neuen Leichtigkeit wie Harald Schmidt kokettieren mit dem Tabubruch. In seiner Show hat er jüngst zusammen mit seinem Kollegen Oliver Pocher ein „Nazometer“ ersonnen, um „Nazi-Sprüche“ aus scheinbar harmlosen Aussagen herauszufiltern. Das Publikum klopft sich auch dann noch auf die Schenkel, wenn mit dem Wort „Gasherd“ der Holocaust bekalauert wird. Das ist gebührenfinanzierte Niedertracht. Doch die üblichen Verdächtigen in den Kulturredaktionen beeilten sich nach dem Eklat, Gelassenheit zu verbreiten. Nichts wäre schlimmer denn als moralinsaurer Spaßverderber dazustehen. In Wirklichkeit mehren die kleinen und großen Tabubrüche im Namen irgendeiner Freiheit, eines billigen Lachers oder eines kalkulierten Skandals zur Steigerung der eigenen Prominenz nicht die Freiheit, sondern die Verwirrung. In öffentlichen Debatten ist gern von Denkverboten und Gesinnungspolizisten die Rede. Aber eine freiheitliche Gesellschaft tut gut daran, ihren Kern gegen falsche Freiheitskämpfer zu verteidigen.

Das jüngste Beispiel sind die Aussagen, die Eva Herman ihren Job beim NDR kosteten. Natürlich sah auch sie sich verfolgt von dunklen Hütern der Moral. Doch Hermans öffentliche Plaudereien weckten den Anschein, als könne sie dem Nationalsozialismus positive Aspekte abgewinnen: die Wertschätzung der Mutter und – so primitiv wird im Jahr 2007 immer noch argumentiert – die Autobahnen. Dass die Mutter im Nationalsozialismus arischen Soldaten-Nachwuchs zu gebären hatte, der in Armeen über die schönen Autobahnen marschieren sollte, müsste eigentlich kollektives deutsches Grundwissen sein. Aber jeder vierte Deutsche ist der Meinung, dass der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten hatte. Die Gedanken sind frei, aber die Verherrlichung des Nationalsozialismus ist es aus gutem Grund nicht. Wo sie keinen kleinsten gemeinsamen Nenner grundlegender Werte und, ja, auch Tabus besitzt, wird die Mitte schwach und anfällig. Eine Normalität, in der gedankenverlorene Spaßvögel widerspruchslos den Holocaust als billigen Steinbruch für Pointen missbrauchen können, wird Deutschland hoffentlich nie erleben. Denn Beliebigkeit ist Gift für die Demokratie und Doping für Neonazis.

Der Hitlergruß als Kavaliersdelikt

Die Mehrheit muss Grenzen ziehen. Allerdings unterlässt sie das in gefährlichem Maße. Wie Grenzen gesetzt werden können, machen Gastronomen aus Sachsen-Anhalt vor, die künftig keine Tagungsräume und Zimmer mehr an NPD-Politiker vermieten wollen. Aber wenn an den Wochenenden etwa Fans von Lok Leipzig Juden in Schmähgesängen brandmarken und vor dem Bahnhof sogar den Hitlergruß zeigen, kommt es vor, dass die Polizei daneben steht und beobachtet, statt einzugreifen. Wahrscheinlich wollen die Polizisten deeskalieren und sind froh, wenn der Auf- und Abmarsch der Fußballfans gewaltfrei abläuft. Andererseits ist der Hitlergruß nun einmal eine Straftat, nicht nur auf Demonstrationen. Wer ihn ignoriert, setzt das fatale Signal, es handele sich um eine Art jugendliches Kavaliersdelikt.

Um in Schulen, Feuerwehren und Vereinen eine Grenze ziehen zu können, bedarf es einer demokratischen Haltung. Wenn etwa die NPD an Schulen aggressiv mit ausländerfeindlicher Musik und neuerdings auch mit Schülerzeitungen Nachwuchs rekrutiert, muss umgekehrt in der Schule offensiv für die Demokratie und deren Werte geworben werden. Demokratie ist kein Selbstläufer, der sich automatisch reproduziert. Die Werte einer freien Gesellschaft und der Demokratie müssen im Politikunterricht und in anderen Fächern erst gelernt werden. Dennoch fühlen sich viele Lehrer dafür nicht zuständig, sondern nur für gute Noten und Wissenszuwachs.

In regelmäßigen Abständen wird über ein NPD-Verbot diskutiert. Auffallend ist, dass überwiegend taktische Argumente zur Debatte stehen: Was geschieht mit den V-Leuten? Hätte ein Verbotsantrag diesmal Erfolg? Und was, wenn nicht? Dabei verhält sich die NPD inhaltlich und strategisch derart rabiat, dass es an der Zeit ist, ernsthaft zu überlegen, ob eine solche Partei, die außerhalb des demokratischen Spektrums steht, für eine Demokratie tolerabel ist. Sicher sind die taktischen Fragen wichtig, aber im Kern muss es darum gehen, wer die NPD ist und wofür sie steht. Toleriert die Demokratie die Ablehnung fundamentaler Menschenrechte und unverhohlene Drohungen gegen Minderheiten?

Verwandte der Nationalsozialisten

Führende NPD-Funktionäre wie Parteichef Udo Voigt huldigen wahlweise Adolf Hitler oder Rudolf Heß. Internes NPD-Material belegt ein rassistisches, völkisches Weltbild, auf dessen Grundlage die Gesellschaft deformiert werden soll. Die parlamentarische Demokratie sei abzuschaffen, Ausländer würden unter NPD-Regentschaft zu Staatsfeinden erklärt. Politikwissenschaftler glauben, dass eine Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus und die Verfassungsfeindschaft ohne größere Anstrengungen nachgewiesen werden können – auch ohne V-Leute.

Zudem hat die NPD in den vergangenen Jahren die Zusammenarbeit mit den so genannten Freien Kameradschaften ausgebaut und – etwa über ihre Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) – ehemals „freie Kameraden“ mit Posten versorgt, darunter verurteilte Straftäter. Die „Freien Aktivisten Hoyerswerda“ flüchteten sich sogar geschlossen unter das legale Dach der JN. Kameradschaften agieren im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Aussteiger aus der Szene berichten, wie brutal sich freie Kameraden gegenüber Ausländern und Andersdenkenden verhalten. Die Strukturen hinter den Gewalttaten bleiben oft unsichtbar. Die Freien Kameradschaften wurden als lockere Verbindungen gegründet, um der staatlichen Verfolgung zu entgehen. 160 von ihnen zählt der Verfassungsschutz in ganz Deutschland, dazu kommen gewaltbereite Neonazis, die autonom agieren. „Kameradschaften als Organisation dienen dazu, Straftaten so zu verschleiern, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht herankommen“, sagt der Dresdner Oberstaatsanwalt Jürgen Schär. Die Dresdner Ermittler konnten bei den „Skinheads Sächsische Schweiz“ und der Kameradschaft „Sturm 34“ zeigen, dass hinter vermeintlich vereinzelten rechten Gewalttaten häufig sehr wohl eine Struktur steht. Um diese zu entlarven, braucht es den politischen Willen – und Geld. Denn Telefonüberwachungen und Observationen sind aufwendig und teuer. Ohne Staatsanwälte wird nicht ermittelt. Ohne Richter gibt es kein Urteil. Oft kommen rechte Schläger allein deshalb zu einem milden Urteil, weil sie auf ihren Prozess lange warten dürfen. Bewährungsstrafen werden von den Verurteilten häufig als Freispruch missverstanden. Längst nicht immer wird in der Verhandlung die rechtsextreme Gesinnung der Täter angemessen berücksichtigt.

Gilt das staatliche Gewaltmonopol überall?

Die mangelhafte Ausstattung mit Polizisten, Staatsanwälten und Richtern ist kein Naturgesetz. Der Staat kann sich eine Dunkelziffer dort am wenigsten leisten, wo es um Leib und Leben geht. Die Garantie körperlicher Unversehrtheit ist eine Minimalforderung an den Staat. Doch zu oft überlässt er Bunthaarige und Dunkelhäutige ihrem Schicksal. Der Kampf gegen Rechts muss mit der konsequenten Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols beginnen, auch in der Provinz. Die Entschlossenheit, mit der alle denkbaren Szenarien des internationalen Terrorismus zu politischem Handeln führen, fehlt in Bezug auf die sehr konkrete rechte Bedrohung. Dabei benennen Praktiker konkrete Maßnahmen, mit denen rechte Dominanz gebrochen werden kann. Mobile Einsatz-Teams der Polizei können an Schwerpunkten rechter Gewalt Verfolgungsdruck aufbauen. Doch müssen dazu Sonderkommissionen mit ausreichend Personal ausgestattet werden. Das ist längst nicht überall der Fall, wo sie benötigt werden. Das sind ganz praktische politische Versäumnisse.

Der Kulturkampf der neuen Nazis

Kameradschaften stoßen in Nischen, in denen der Staat schwach ist. Dort sind die Neonazis dann stark – sie erobern die Macht über Dörfer und kleine Städte, schrecken in Städten mit Schlägen und Tritten davon ab, S-Bahnen zu benutzen oder Ausflüge zu unternehmen. Der jahrelange Kampf gegen die „Skinheads Sächsische Schweiz“ zeigt, dass der Staat sein gesamtes Arsenal aufbieten muss, um rechtsextreme Alltagsmacht zu brechen, wo sie erst einmal erobert ist. Die Truppe, die vor Jahren in schwarzen Uniformen durch Pirna marschierte, wurde im Jahr 2001 verboten. Noch heute kämpfen Staatsanwälte gegen Kameraden, die versuchen, ihre verbotene Organisation im Untergrund fortzuführen. Überzeugte Neonazis lassen sich von ihrem braunen Weg also nicht durch diese Verbote abbringen. Dennoch muss der Staat bereit und in der Lage sein, Verbote immer wieder durchzusetzen. Die Gesellschaft kann sich erst beruhigen, wenn Schwarze in Deutschland keine U-Bahnen mehr meiden müssen und Volksfeste keine Gefahrenzonen mehr sind.

Worte der Betroffenheit von Seiten der Politik wie das der Kanzlerin nach der Gewaltnacht von Mügeln können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es beim Kampf gegen Rechtsextremismus keinen demokratischen Grundkonsens gibt. Trotz der Warnungen namhafter Experten hat Familienministerin Ursula von der Leyen die Gelder gegen Rechts neu verteilt. Frau von der Leyen tätschelt ihrem konservativen Anhang das Gemüt – und lässt engagierte Menschen in Städten und Dörfern im Regen stehen: Künftig können Initiativen und Vereine finanzielle Mittel nicht mehr direkt beim Bund beantragen, sondern müssen sich mit kommunalen Entscheidern abstimmen. Im Ergebnis werden erfahrene Gegenspieler der Neonazis zu Bittstellern bei denjenigen Bürgermeistern, denen ein guter Ruf wichtiger ist als ein entschiedenes Vorgehen gegen Neonazis.

Das ist kein politischer Kleckerkram. Die neuen Nazis haben einen Kulturkampf angezettelt, und sie liegen in einigen Regionen und in einigen Schulklassen in Führung. Mancherorts reichen sich normale Bürger, Alltagsrassisten und organisierte Neonazis die Hand. Der Kampf gegen rechte Straftäter ist Sache des Staates. Doch die unheilvolle Verbrüderung aufzuzeigen, anzuprangern und zu entzaubern ist unser aller Aufgabe. Den wenigen Bürgerinnen und Bürgern, die etwas dagegen tun, sollte man keine bürokratischen Knüppel zwischen die Beine schmeißen. Es reicht ganz sicher nicht aus, ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD zu fordern. Es wird Zeit, dass der Aufstand der Anständigen nicht bloß verkündet wird.

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