Die Partei der Zukunft
Von Zeit zu Zeit erscheint ein Buch, nach dessen Lektüre man klarer sieht. Man legt den Band aus der Hand und lächelt zufrieden vor sich hin, weil man die Welt in diesem Augenblick ein bisschen besser versteht. Nicht gleich die ganze Welt - wer wir sind, wohin wir gehen, was wir tun sollen. Aber immerhin doch irgendein Phänomen aus dem großen Ganzen des irdischen Getriebes. Weshalb etwas so ist, wie es ist, und nicht ganz anders. Wie die Dinge zusammenhängen. Was demnächst passieren könnte.
The Emerging Democratic Majority ist so ein Buch, das seinen Lesern ein Licht aufgehen lässt. Jedenfalls jenen, die sich auch nur im Mindesten dafür interessieren, wie und warum Parteien in den modernen Gesellschaften des Westens aufsteigen oder niedergehen. Wie sozialer Wandel und politischer Erfolg heute zusammenhängen. Welche Politik eine Zukunft hat und welche in die Vergangenheit weist. Wer, wenn er die Zeichen der Zeit erkennt, die nächsten Wahlen gewinnt. Und wenn nicht die, dann die übernächsten.
Bedienungsanleitung für deutsche Parteien
The Emerging Democratic Majority handelt von Politik und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten. Das Buch der beiden Publizisten und Sozialwissenschaftler John B. Judis und Ruy Teixeira (vgl. "Der gute Populismus", in: Berliner Republik 5/2002) begründet systematisch, weshalb die Demokratische Partei nach langer Hegemonie der Republikaner beste Aussichten hat, zur strukturell dominanten Partei der kommenden Jahrzehnte zu werden. Mehr wollen die Autoren nicht erklären - und tun es eben doch.
Lesen lässt sich The Emerging Democratic Majority nämlich auch als brillante Bedienungsanleitung für Sozialdemokraten, die schon heute ratlos grübeln, wie in drei Teufel Namen ihre Partei auch noch nach dem Ende der der Ära des bauchgesteuerten Schröderismus Wahlen gewinnen könnte. Lesen ließe sich das Buch als Lernfibel für Christdemokraten, die verstehen möchten, wie sie die tiefe Kluft zwischen ihnen selbst und wachsenden Teilen der deutschen Gesellschaft schließen könnten. Höchst aufschlussreich ist The Emerging Democratic Majority überhaupt für alle, die verstehen wollen, welche großen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungstrends die Politik der westlichen Gesellschaften heute prägen.
Mit den langfristigen Trends tun sich die deutschen Parteien heute ja eher schwer. Immerhin: Ab sofort werde er daran arbeiten, die deutsche Sozialdemokratie "strukturell mehrheitsfähig" zu machen, verkündete sofort nach seiner Berufung der neue SPD-Generalsekretär Olaf Scholz. Das war durchaus origineller, als es auf den ersten Blick scheinen mochte. Wahlen gewinnen wollen in der deutschen Politik zwar nach wie vor alle gern. Doch die Rede von strukturellen, also in gesellschaftlichen Konflikten und kollektiven Interessenlagen, Einstellungen und Mentalitäten gründenden Mehrheiten ist in den deutschen Parteien ziemlich aus der Mode gekommen.
Wer nicht aufpasst, erlebt Überraschungen
Unsinnigerweise. Allzu viele allzu fixe Werbeleute und vorlaute Image-Akrobaten waren es, die im Wahljahr 2002 den Ton angaben. Ratloses Gerede über sozialstrukturell kaum je näher spezifizierte "Wechselwähler" (von denen sich offenbar allenfalls sagen lässt, dass sie irgendwo in der diffusen "Mitte" siedeln) kennzeichnet längst Jargon und Denken der Kombattanten. Die gründliche Analyse des gesellschaftlichen Wandels in wahlstrategischer Absicht kann das auf die Dauer aber nicht ersetzen. Wo Autosuggestion die fundierte Gesellschaftsdiagnose verdrängt, da bleiben böse Wahlüberraschungen irgendwann nicht mehr aus. Der Guido für das ganze Volk weiß davon ein trauriges Lied zu singen.
Deshalb nun also wieder "strukturelle Mehrheitsfähigkeit". Olaf Scholz hätte sie gern für die SPD, Angela Merkel will ihr in den Städten nachspüren - gerade bei den modernen urbanen Milieus ist die Union am 22. September schließlich so dramatisch abgeblitzt. Als halbstaatliche Apparate von ihrem einstigen sozialen Wurzelgrund weitgehend abgelöst, bemerken die Parteien in diesen Tagen erschrocken, dass sie zurück ins richtige Leben müssen. Man sieht das gerne, weil es die Voraussetzung für bessere und bodennähere Politik sein könnte.
Freilich drängt sich insgesamt einstweilen eben doch der Eindruck auf, dass die Fähigkeit zur systematischen Deutung großer gesellschaftlicher Trends in den deutschen Parteien ziemlich verkümmert ist. In welcher Gesellschaft wir eigentlich leben, in welche Richtung sie sich entwickelt und was daraus für die Parteien folgt - auf solche Fragen erhält man vom politischen Personal der deutschen Republik jedenfalls kaum noch erhellende Antworten. Es fehlt an Sprache und Gespür, es fehlt an geeigneten Kriterien und Kategorien. Es fehlt, kurzum, an soziologischem Durchblick. Und an der strategischen Weitsicht, die aus solchem Durchblick folgen könnte.
Schön und gut. Bloß: Wieso sollte dabei ausgerechnet ein Buch helfen, in dem es um Amerika geht? Um eine Gesellschaft mithin, die nicht wenigen Deutschen heute ziemlich fremd, ja befremdlich vorkommt. Dass das so ist, hat einerseits mit Tendenzen der Abwendung Amerikas von der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges zu tun. Es hat aber vor allem auch mit dem Politikverständnis zu tun, das mit George W. Bush das Weiße Haus erobert hat und das nun die deutsche Wahrnehmung Amerikas bestimmt. Der liberale Babyboomer Clinton kam uns vor, wie "einer wie wir". Das schuf Nähe. Sein Nachfolger hingegen verkörpert eine Kultur, die in vieler Hinsicht kaum anschlussfähig an unsere eigene Erfahrungswelt erscheint.
Was hätten die amerikanischen Verhältnisse dann also mit uns zu tun? Und wieso überhaupt "Democratic majority"? Ist Amerika unter George W. Bush etwa keine konservative Gesellschaft? Was ist mit Waffenkult und Todesstrafe? Na bitte. Aber ganz so einfach ist es nicht. Momentane Eindrücke verstellen zuweilen den Blick für langfristige Prozesse. Wie auch hier. Der säkulare Umbruch zum postindustriellen Kapitalismus, so lautet jedenfalls die einleuchtende These der Autoren, erschafft nach und nach nicht weniger als eine neue Gesellschaft mit neuen Prägungen und neuen Strukturen - und diese wiederum ein ganz neues Parteiensystem.
Die neuen Arbeitsfornen der Wissens- und Dienstleistungsökonomie bringen neue sozial-liberale und libertäre Orientierungen hervor, pluralistische Wertmuster und veränderte städtische Siedlungsformen. Dies alles begünstige strukturell die Demokraten. Deren Nähe zu einstigen Minderheitenthemen wie Ökologie und Verbraucherschutz, Frauenemanzipation und Selbstverwirklichung habe der Partei an der Wahlurne jahrzehntelang geschadet. Heute jedoch, unter den Bedingungen der postindustriellen Wissensökonomie entwickelten sich diese Vorlieben der einstigen counter culture zu zentralen Anliegen der amerikanischen Gesellschaft insgesamt. "Die Demografie arbeitet für die Demokraten", schreiben Judis und Teixeira. "Wir erleben das Ende der Republikanischen Hegemonie."
Ihr These belegen die Autoren elegant. Gerade in den Landesteilen mit ausgeprägter postindustrieller Ökonomie, so stellen sie fest, sind die Demokraten bereits heute die dominante Partei, ebenso bei den rasch zunehmenden Wählergruppen der erwerbstätigen Frauen und der ethnischen Minderheiten sowie in der wichtigsten aller Schlüsselgruppen, bei den professionals, also den qualifizierten Angestellten des wachsenden Dienstleistungssektors, zu denen die Autoren etwa Ingenieure und Architekten zählen, Ärzte und Lehrer, Computerprogrammierer und Modedesigner. Hingegen stützen sich die Republikaner auf die zunehmend unmodernen Wähler der unmodernen Regionen, deren Gewicht in den kommenden Jahren weiter schwinden wird. Gewiss, in Alabama oder Mississippi etwa lägen die Republikaner noch immer weit vorn. Nur: "Die wichtigste Innovation in Mississippi während der vergangenen zwei Jahrzehnte waren schwimmende Spielcasinos." Moderne Wissensökonomie sieht anders aus.
Lösungen für Probleme, die keiner mehr hat
Dass die Republikaner auf ihre beginnende Margina-lisierung einstweilen mit störrischer Beharrung reagieren, verdunkelt ihre Aussichten nach Ansicht der Autoren nur noch weiter. Ob in Steuerpolitik oder Bioethik, bei Abtreibungsrecht oder Sexualmoral: Ständig bekämpften die Republikaner die Zukunft im Namen der Vergangenheit: "Sie warten mit Lösungen für Probleme auf, die es nicht mehr gibt. Und sie leugnen die Probleme, die tatsächlich anstehen."
Sicherlich, Amerika ist anders - doch ganz so anders auch wieder nicht. Judis und Teixeira schlagen eine Verständnisschneise durch das Dickicht genau jener Phänomene des sozialen Wandels, mit dem sich auch die deutsche Politik abmüht. Auch in Deutschland versuchen sich die Parteien des Industriezeitalters in einer gesellschaftlichen Landschaft zurechtzufinden, die fundamentalen Wandel durchläuft. Neue gesellschaftliche Konstellationen schaffen neue politische Mehrheiten. Den jüngsten Wahlerfolg der Grünen hat eben nicht nur mit der dolle Joschka gemacht, das erneute Scheitern der Union nicht nur der hölzerne Edi verschuldet.
Viel war in den Wochen nach der Bundestagswahl dieses Jahres von "Strategiedebatten" der deutschen Parteien die Rede. Die fielen dann aber ziemlich flach aus. Wer solche Debatten wirklich angemessen führen will, der kommt an The Emerging Democratic Majority nicht vorbei. Ein vergleichbares Buch hat in Deutschland noch niemand geschrieben.