Die Philosophie des "Und" überwinden
Demokratie ohne Opposition ist nicht möglich. Und gerade Politik, die den Wählerinnen und Wählern etwas abverlangt, hat nicht von jetzt auf nachher die Mehrheit auf ihrer Seite. Deshalb ist Opposition nicht – wie viele Konservative meinen – ein Betriebsunfall, sondern ein Zustand der sinnvoll sein kann. Gleichzeitig ist Opposition, die ihre Position nicht hartnäckig mit einem demokratischen Machtanspruch verbindet, zahnlos und unglaubwürdig. Wer den Willen zur tatsächlichen Gestaltung nicht deutlich macht, kann es so ernst nicht meinen und braucht deshalb auf Mehrheiten nicht zu hoffen.
„Inhalte vor Macht“ ist eine Parole, auf die Oppositionsparteien gerne zurückgreifen, denn wenn die Macht schon weg ist, bleiben immer noch Inhalte. Die Parole enthält aber eine tiefere Wahrheit, denn es ist gerade mit Blick auf Medienstrategen und PR-Industrie überfällig, sich darüber zu vergewissern, dass Politik und politisches Engagement auf die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zielen – also auf das Formulieren und Durchsetzen von Inhalten und nicht auf den bloßen Zustand der Macht. Es ist auffällig und wahrscheinlich oft unvermeidlich, dass bei Parteimitgliedern teilweise die Angst um den eigenen Laden die Sorge um gesellschaftliche Schieflagen deutlich überwiegt. Aber Parteien sind kein Selbstzweck und auch keine Kirchen. Deshalb ist die Selbstbefragung, inwieweit die eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen und die einer Partei kongruent sind, nicht das Schlechteste. Wenn man im Politikbetrieb arbeitet, ist es gut, die eigene Anschauung ab und zu wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Inhalte gehen vor Macht.
Leider ist die Sache noch etwas komplizierter: „Inhalte vor Macht“ bedeutet – sinnvoll interpretiert – „Macht für Inhalte“, denn Macht bedeutet in der Demokratie immer und zwangsläufig einen Verlust an inhaltlicher Kontrolle. Am Ende bleibt dann die komplexe Prüffrage, ob man mit der Übernahme von Regierungsmacht in einer Gesamtschau mehr Inhalte durchgesetzt bekommt als durch den Verzicht auf Regierungsmacht, der ja auch ein Machtfaktor sein kann. Ein Element dieser Frage ist die empirische Überlegung, wie eigentlich der Wähler, das unbekannte Wesen, bei der nächsten Wahl auf das Ergreifen bestimmter Machtoptionen reagiert – ganz zu schweigen von der oft verkannten Frage, inwieweit das Wählerverhalten für die Grundorientierung einer Partei wirklich relevant sein kann und darf. Denn wenn Inhalte vor Macht gehen, inwieweit gehen dann Inhalte auch vor Wählerstimmen?
Machtpolitiker auf der Suche nach Werten
Bei aller Bedeutung der Durchlässigkeit von Parteien für neue Akteure mit neuen Interessen und bei aller Bedeutung der zielgruppengerechten Kommunikation von Politik: Die Kernfrage, wofür ein Individuum in einer Partei Politik macht, kann ihm keine noch so ausgetüftelte Wähleranalyse liefern. Wenn sich der parteipolitische Machtimpuls von inhaltlicher Standortbestimmung und inhaltlicher Reflexion entkoppelt, handelt es sich um pervertierte Politik – Politik als hohldrehender Machtgenerator. Die Dialektik besteht zudem darin, dass gesellschaftliche Dynamik so auch nicht entstehen kann und der Wähler möglicherweise am Ende die Rechnung präsentiert. Deshalb ist heute auch der kälteste Machtpolitiker auf der Suche nach Inhalten, am Besten nach abstrakten „Werten“ und „Wertedebatten“, um die innere Leere zu übertünchen. Doch das wird nicht reichen – so meine These und Hoffnung. Erst derjenige, der wieder aus dem Ringen um gesellschaftliche Verhältnisse und politische Standpunkte Emphase und Charisma entwickelt, wird auch machtstrategisch die Nase vorn haben.
Programmatisch eine Nasenlänge voraus
Wenn das stimmt, haben die Grünen jenseits der naturgemäßen Schwierigkeiten der Umbruchphase eine vergleichsweise gute Ausgangsposition. Der Erfahrungsfundus aus fast 20 Jahren inhaltlich engagierter Oppositionspolitik vor 1998 ist zumindest in den mittleren Bewusstseinsschichten vorhanden. Zudem haben die Grünen in der Regierungsverantwortung gezeigt, wie das ernsthafte, diskursive Verhandeln von Inhalten aussehen kann. Und schließlich sind die Grünen in zentralen programmatischen Fragen den Mitkonkurrenten um mehr als eine Nasenlänge voraus. Wo andere Parteien jetzt verzweifelt nach „Werte-Labels“ suchen, die man auf die Verpackung kleben kann, haben die Grünen mit der Grundsatzprogramm-Debatte eine programmatische Debatte begonnen, mit der einige sehr grundlegende Klärungen und Konkretisierungen einhergingen. Ein nächster Schritt erfolgt im September 2006 auf dem grünen Zukunftskongress in Berlin.
Mit dem „Erweiterten Gerechtigkeitsbegriff“ wurde ein Fokus formuliert, der es ermöglicht, grüne Kernanliegen wie Ökologie, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit, Internationalität oder demokratische Partizipation als soziale Fragen zu formulieren. Begriffe wie Umweltgerechtigkeit, soziale Teilhabe, Geschlechtergerechtigkeit, Generationengerechtigkeit oder gerechte Globalisierung waren die logische Konsequenz dieser Suche nach gesellschaftlichen Leitbegriffen. Gleichzeitig gab es eine gewisse Renaissance der Verteilungsfrage und eine damit verbundene Suche nach neuen Instrumenten, da deutlich wurde, dass sich keiner dieser Ansprüche ohne ein Umsteuern in steuer- und finanzpolitischen Fragen einlösen lässt. Dieser grüne Spin hat in der Tat das Zeug dazu, der oft leeren Phrase von der „modernen Linken“ Substanz zu verleihen. Die neuen sozialen Schieflagen, die ökologische Herausforderung und die dramatischen gesellschaftlichen Transformationsprozesse wurden ernsthaft analysiert, erkannt und haben Eingang in die Programmatik gefunden. Das emanzipatorische, freiheitsorientierte Fundament der Grünen ist im Vergleich mit der PDS/Linkspartei ein Unterschied ums Ganze und ein gehöriger Unterschied zur SPD. Dasselbe gilt für die Einsicht in die soziale Dramatik der ökologischen Frage. Und auch linker Nationalchauvinismus ist die grüne Sache nicht. Das ist der Stoff, der in vielen konkreten Fragen – von der Schulpolitik bis zur europäischen Mindeststeuer – gesellschaftliche Reibung und gesellschaftliche Auseinandersetzung erzeugen kann, und das ist es, was die Gesellschaft genauso braucht wie die Grünen selbst.
Ein klarer Blick auf die eigenen Paradoxien
Ihren programmatischen Anspruch einlösen können die Grünen jedoch nur, wenn sie einen klaren Blick für eigene Paradoxien bekommen, die inhaltliche Widersprüche und diffuse Bilder erzeugen und den Elan bremsen. Im Folgenden seien drei zentrale Konkurrenzen benannt, die eine effektive Oppositionsstrategie beantworten muss: Die Konkurrenz von ökologischen und sozialen Lesarten gesellschaftlicher Probleme; die Konkurrenz von advokatorischer Politik und Milieu-Interessen; und die Konkurrenz von Institutionenpolitik und zivilgesellschaftlichen Ansätzen.
Erstens, das Soziale und das Ökologische. Jenseits der philosophischen Frage von Anthropozentrismus und Ökozentrismus müssen sich die Grünen entscheiden, ob die Ökologie die Brille ist, durch die man letztlich alles liest – oder das für neue gesellschaftliche Lagen offene und sensible Ethos der sozialen Parteinahme. Trotz der herausragenden Bedeutung der ökologischen Frage ist es nicht möglich, die gesellschaftlichen Schieflagen und Herausforderungen der Gegenwart adäquat aus ökologischer Perspektive zu erfassen. Umgekehrt ist es aber sehr wohl möglich, die Ökologie als eine neue Dimension der sozialen Frage zu begreifen, die die Grünen auf die Tagesordnung gesetzt haben. Der Begriff der environmental justice steht dafür und sollte als „Umweltgerechtigkeit“ dringend in den politischen Wortschatz der Bundesrepublik adaptiert werden. Eine stärkere Besinnung der Grünen auf ihr soziales Ethos brächte einen doppelten Gewinn, da zum einen die konzeptionelle und auch emotionale Zuständigkeit der Grünen in nicht-ökologischen Themenfeldern klarer würde, zum anderen die ökologische Frage – als soziale Frage gestellt – mehr gesellschaftliche Dynamik und mehr Breitenwirksamkeit erzeugen könnte.
Widerstand aus der Mittelschicht
Zweitens, das Advokatorische und die Milieuinteressen. Diese weitere Paradoxie ist eher auf der strategischen Ebene anzusiedeln. Wie verträgt sich der grüne Anspruch einer Parteinahme für die sozial Marginalisierten und Benachteiligten mit einer Wählerschaft, die tendenziell aus der gebildeten und gut verdienenden Mittelschicht kommt und damit auch handfeste Interessen verbindet? Die einfache Antwort würde lauten, dass eine verantwortungsbewusste Mittelschicht existiert, die gerade auf Grund ihrer sozialen und ökonomischen Stärke zu einer advokatorischen Politik in der Lage ist und deshalb grün wählt. Es ist aber offenkundig, dass diese Antwort ungenügend ist, da sich der Widerstand aus der Mittelschicht durchaus regt, wenn zumindest scheinbar gegen die eigenen Interessen agiert wird, etwa in der Steuerpolitik, in der Kinderpolitik oder in der Frage der Inneren Sicherheit. Alles andere wäre auch verwunderlich.
The invisible touch
Vielleicht ist das ein Grund, warum die gehobene, verantwortungsbewusste Mittelschicht ihren moralischen Impuls gerne auf das Postmaterielle verlagert, etwa auf unsichtbare Mobilfunk-Strahlen, das unsichtbare Gen oder die imaginierte Zukunft – the invisible Touch. Die Optik und auch die Emphase der Grünen hängen aber daran, sich nicht als Interessen- und Klientelpartei zu begreifen. Und deshalb bleibt ihnen inhaltlich und strategisch nichts anderes übrig, als sich von der Klientel-Schere im Kopf zu befreien. Das kann allerdings nur funktionieren, wenn man es offen ausspricht und dann mit großer Intensität Brücken in das eigene Wählermilieu baut und an neuen Allianzen arbeitet. Wahrscheinlich war es schon immer so, dass die sozial sensibelste Politik einen advokatorischen Zug hatte und von Bürgerinnen und Bürgern formuliert wurde, die nicht selbst Tag und Nacht um existenzielle Bedürfnisse kämpfen mussten. Auf der anderen Seite sickern prekäre Lebenslagen und soziale Ausgrenzung immer tiefer in die Mittelschicht ein, so dass die strikte Trennung zwischen denen auf der sicheren Seite und „den anderen“ ohnehin zunehmend fragwürdiger wird. Kurzum: Konzeptionelle Ausrichtung und inhaltliche Emphase jenseits von Klientelpolitik bilden keinen unauflöslichen Widerspruch zu milieustrategischen Erwägungen. Und genau hier liegen die grüne Stärke und das grüne Profil.
Drittens, Insititutionen, Gesellschaft und die Zukunft der Demokratie. Jenseits der grundsatzprogrammatischen und strategischen Paradoxien betrifft ein dritter Klärungsbedarf die Frage des Staatsverständnisses grüner Politik. Jede Politik ist auf der Umsetzungsebene gezwungen, sich im Dreieck von Staat, Gesellschaft und Markt zu verorten. Unter dem Druck des neoliberalen Mainstreams stießen die Möglichkeiten staatlicher Regulierung auch bei Grünen und Sozialdemokraten zunehmend auf Skepsis. Während die einen zunehmend auf die selbstregulatorischen Kräfte des Marktes setzten, sahen die anderen in der Selbstregulation der Zivilgesellschaft einen „dritten Weg“. Dass beides zu kurz greift, wird nicht erst seit den Interventionen von Michael Zürn, Erhard Eppler und anderen wieder deutlicher. Institutions matter! Die Frage, wo demokratische Entscheidungen getroffen werden, unter welchen Regeln sie erfolgen und wer diese Entscheidungen durchsetzt, kann weder eine Markt- noch eine Zivilgesellschaftsphilosophie beantworten. Unter Bedingungen zerfaserter Staatlichkeit kommt es vielmehr darauf an, die Gestaltungsmacht der demokratischen Institutionen wiederzugewinnen.
Wem soll man seine Vorschläge vortragen?
Politische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse brauchen, wenn sie demokratisch verlaufen sollen, einen konkreten Adressaten, ein legitimiertes Handlungssubjekt und einen Garanten der Verwirklichung gemeinsam getroffener Entscheidungen. Wo dieser Adressat unklar oder diffus wird, muss zwangsläufig auch die politische Auseinandersetzung unklar und diffus werden. Wem sollte man seine Vorschläge noch vortragen? Gegen wen seine Forderungen richten? Man muss auch im Jahr des 100. Geburtstags von Hannah Arendt nicht gleich von einer „Wiedergeburt der Politik“ sprechen, um festzustellen: Nur wenn wir den Kampf um die demokratische Gestaltungsmacht von Institutionen gewinnen, geben wir der Demokratie eine Zukunft und können die Bürgerinnen und Bürger für politische Einmischung gewinnen.
Ohne gesellschaftliches Engagement im Vorfeld der Institutionen wird der Kampf um demokratische Institutionen freilich nicht zu gewinnen sein. Und zwar in einem doppelten Sinn: Demokratische Institutionen, in die kein gesellschaftliches Engagement einfließt, in denen sich kein Streit ums Gemeinwohl organisiert und keine Interessenrepräsentation stattfindet, trocknen von innen aus und werden zu kalten Bürokratien. Institutionen, die (noch) nicht demokratisch organisiert sind oder überhaupt erst noch erfunden werden müssen, können nur von außen durch gesellschaftlichen Einsatz in die Wirklichkeit geholt werden. Auf europäischer Ebene beispielsweise mangelt es schon an den Vorbedingungen: Bis heute gibt es nicht im Ansatz eine europäische oder auch nur transnationale Öffentlichkeit im Sinne europäischer Medien und echter europäischer Parteien.
Fantasie und Quergeistigkeit
Bei all dem kann den Grünen als noch relativ junger Partei und mit einem guten Gedächtnis für die gesellschaftlichen Aufbrüche der letzten Jahrzehnte eine wichtige Rolle zukommen. Es ist an der Zeit deutlich zu machen, dass die Institutionen des Nationalstaats arbeits-, steuer-, und bildungspolitisch erhebliche Gestaltungsmacht besitzen, wenn sie zu den notwendigen Transformationen bereit sind. Es ist mit Blick auf die Institutionenfrage an der Zeit, über den nationalen Tellerrand zu schauen, etwa nach Skandinavien, und es nicht bei Schlagworten zu belassen, sondern konkrete Wege zu beschreiben, die in der Bundesrepublik gehbar sind. Es wird höchste Zeit, den Kampf um die demokratische Verfasstheit Europas wieder aufzunehmen, den rechte und linke Nationalchauvinisten und europäische Output-Pragmatiker längst ad acta gelegt haben. Es ist an der Zeit, dass die Bedeutung einer grundlegenden Reform der Vereinten Nationen in der Bundesrepublik ankommt. Dafür braucht es jene institutionelle Fantasie und konzeptionelle Quergeistigkeit, die am ehesten den Grünen zuzutrauen sind.
Vor diesem Hintergrund liegen die konkreten Politikfelder dann fast schon auf der Straße: Grundsicherung und Beteiligung am Produktivkapital; Rückgewinnung öffentlicher Güter und öffentlicher Daseinsvorsorge; Stärkung der Kommunen als politischer Ort; Arbeit der Zukunft statt Ende der Arbeit; neue Schule als Modell gemeinsamen und individualisierten Lernens; ökologische Innovationspolitik; Erschließung qualitativer Dienstleistungen wie Bildung, Erziehung, Betreuung, Mobilität, Gesundheit oder Pflege; effektive Erhöhung der steuerlichen Realerträge; höhere Besteuerung von Einkommen aus Nicht-Arbeit; drastische Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich; getrennte Besteuerung von Privateinkommen und Unternehmenseinkommen; Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten, Meinungs- und Pressefreiheit; Kampf um die demokratische Verfasstheit Europas; Stärkung der nationalen Parlamente in Europa sowie des europäischen Parlaments; Lebendighalten der europäischen Verfassungsfrage; Konzeption europäischer Steuerpolitik; institutionelle Transformation von UNO, WTO und IWF; et cetera. An grünen Themen und Standpunkten wird es nicht mangeln.
Anordnen statt nebeneinander stellen
Auch wenn grün in der Mitte des Farbspektrums liegt und die Grünen in der Mitte des Parlaments eingekeilt sind, müssen sich die Grünen bei der Beantwortung dieser Paradoxien vor einer Philosophie des „Und“ hüten. Wer sich nicht entscheiden kann, erklärt die Welt gerne in Spannungsbögen, Zielkonflikten, Mitten und Balancen. Das Problem ist dabei in der Regel nicht, dass das „Und“ falsch wäre. Vielmehr ist es unzureichend, weil es einfach nur nebeneinander stellt, was angeordnet gehört. Als gerechtigkeitsorientierte, emanzipatorische Partei mit einem starken Begriff von Demokratie und einem hohen Bewusstsein für die ökologische Frage haben die Grünen die Kraft zu einer eigenständigen Anordnung. Diese Kraft jetzt aufzubringen ist die große Aufgabe der kommenden Jahre.