Parteien, werdet endlich wieder normativ!

Die politischen Parteien werden gebraucht, sogar dringender denn je. Wer sonst könnte gesellschaftliche Willensbildung in Gesetzgebung und politisches Handeln übersetzen. Doch damit die Parteien dieser Aufgabe gerecht werden können, müssen sie wieder lernen, grundsätzliche Debatten über grundsätzliche Fragen zu führen

Entgegen dem Verdruss und den Abgesängen: In Zeiten von Exekutivmacht und einer zerfaserten Öffentlichkeit ist die Idee der Partei für unsere Demokratie aktueller denn je. Wir sollten sie als diejenige Institution wiederentdecken, durch die an der Schnittstelle zur Gesetzgebung unterschiedliche Vorstellungen des Allgemeinen repräsentiert werden. Denn wer, wenn nicht die Parteien, sollte jene grundlegenden politisch-weltanschaulichen Alternativen formulieren, die aus der Demokratie überhaupt erst einen Raum der Möglichkeiten machen, anstatt sie in einer Rhetorik des Sachzwangs verkümmern zu lassen? Es ist überfällig, der aktuellen Renaissance des Parteienressentiments entgegenzutreten. Zugleich müssen sich die Parteien erneuern, um ihrer Schlüsselfunktion für die Demokratie wieder gerecht zu werden.

Infolge der gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte stehen die Parteien in mehrfacher Hinsicht unter Druck: Ihnen fällt es ausgesprochen schwer, ein Spektrum unterschiedlicher politisch-programmatischer Orientierungen zu entfalten und damit einen Raum der demokratischen Entscheidung zu schaffen. Häufig ist damit der Verlust streitbarer Diskurse verbunden: sowohl innerhalb als auch zwischen den Parteien. Infolgedessen sinkt schließlich die repräsentative Kraft der Parteien, die Überzeugungen und Interessen verschiedener Schichten und Milieus aufzunehmen und in Orientierungsvorschlägen zu bündeln.

Mangelhafte Unterscheidbarkeit, Diskursivität und Repräsentativität haben zwar hausgemachte Gründe; schwerer wiegen jedoch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen: der Kompetenzverlust der nationalen Demokratien im Zuge von Europäisierung und Globalisierung; der Ideenverlust einer (vermeintlich) postideologischen Konstellation; ein Verständnis von Politik als lebenslangem Beruf; der Rückzug ins Private als Reaktion auf die Anforderungen einer veränderten Arbeitswelt; eine extrem beschleunigte Mediengesellschaft; und schließlich die soziale Spaltung, die sich in einer demokratischen Kluft widerspiegelt.

Behäbige Verachtung statt kritischer Intervention

Umso besorgniserregender ist, dass es keine öffentliche Auseinandersetzung über die Zukunft der Parteiendemokratie gibt. Im Gegenteil: Statt einer zugewandten Kritik, die auf eine Reform abzielt, wächst das Parteienressentiment auch in der Mitte der Gesellschaft. Selbst die intellektuelle Mitte ist davor nicht gefeit. Statt kritischer Intervention erleben wir behäbige Verachtung, populistischen Rückzug, teils aggressive Abwendung – und den Applaus, den man dafür nicht nur an Stamm-, sondern auch an Bistrotischen bekommt.

Jenen, die diese aggressive Parteienverdrossenheit für ein neues Phänomen halten, sei gesagt: Die Verachtung gegenüber Parteien und ihrem „schmutzigen Geschäft“ hat besonders in der Bundesrepublik eine lange antidemokratische Tradition. Im Grunde ist sie so alt wie die Parteien selbst. Dahinter steht zum einen die autoritäre Sehnsucht nach einer neutralen und objektiven Instanz, die die politischen Angelegenheiten ohne demokratischen Streit und Beteiligung der Bürger regelt. Zum anderen ist ein Populismus der politischen Unmittelbarkeit im Spiel, der den Institutionen der demokratischen Repräsentation entgegengesetzt wird, die eine nicht-autoritäre Praxis der Demokratie in Raum und Zeit überhaupt erst ermöglichen. Der Verdruss über Parteien und Politiker ist erneut zum Topos der maulenden Mehrheit avanciert – wie auch der vielen sich fortschrittlich gebenden Kritiker.

Ganz in diesem Sinne sehen profilierte Fernsehintellektuelle ihre Aufgabe darin, die Bürger für die Option des Nichtwählens zu sensibilisieren. Vor der Bundestagswahl 2013 war mehr als die Hälfte der 48 von der Zeit befragten Intellektuellen und Kunstschaffenden nicht bereit, eine bestimmte Wahlpräferenz zu artikulieren, geschweige denn für sie einzutreten. Harald Welzer leitete seine postdemokratische Frustration mit der Frage ein: „Warum ich nicht mehr wählen gehe?“. Für Richard David Precht ist „die Wahl zwischen Wählen und Nichtwählen nicht wirklich wichtig“. Peter Sloterdijk zufolge ist unter den etablierten Parteien „schlechthin keine wählbar“. Und für Ernst-Wilhelm Händler heißt, die Stimme für eine Partei abzugeben, „nicht nur einen Charakterfehler in Kauf zu nehmen, sondern sich bewusst für ihn zu entscheiden“.

Unterstellt wird meist, dass es sich bei der Politikverdrossenheit vorrangig um ein kommunikatives Problem handelt, es folglich nur einer anderen Ansprache der Wählerschaft und der Parteimitglieder bedarf. Tatsächlich ist Abhilfe aber nur über eine Selbstvergewisserung der demokratischen Aufgabe von Parteien möglich. Denn die Malaise der Parteien hat nicht nur endogene Gründe, sondern fußt in einem tiefgreifenden Wandel unserer Gesellschaft – und dem Unwillen, sich diesem Wandel zu stellen und ihn zu gestalten.

Wir müssen wieder über die normative Idee der Partei sprechen

Jede Reform der Parteien muss diesem Wandel Rechnung tragen, ohne sich ihm blind anzupassen. Stattdessen müssen Parteien auf die veränderten Bedingungen ihrer Existenz in einer Weise reagieren, die ihrer legitimatorischen Grundlage Rechnung trägt. Gefragt sind deshalb Vorschläge und Debatten, wie Parteien ihrer demokratischen Schlüsselrolle wieder besser gerecht werden können – eine Frage, die uns alle angeht, und nicht nur diejenigen, die in Parteien aktiv sind oder damit ihr Einkommen bestreiten. Denn es geht um die Zukunft einer entscheidenden Institution unserer Demokratie.

Wir müssen daher wieder über die normative Idee der Partei sprechen. Erst dann können wir bestimmen, in welcher Hinsicht es tatsächlich Probleme gibt und welche Problematisierungen lediglich auf Ressentiments beruhen. Die normative Aufhellung der Funktion der Partei ist zudem notwendig, um Entwicklungsperspektiven zu identifizieren, die tatsächlich einen demokratischen Fortschritt versprechen.

Dabei kommen wir nicht umhin, uns zu fragen, worin denn überhaupt unsere demokratische Grundüberzeugung und unser Vertrauen in demokratische Prozesse gründen. Kurz gesagt ist es die berechtigte Überzeugung, dass wir im Gespräch beziehungsweise im Streit über unsere unterschiedlichen Auffassungen vom Für-alle-Richtigen (des All-Gemeinwohls, der Gerechtigkeit), durch Mehrheitsentscheidung zu besseren Ergebnissen kommen.

Manch einem mag diese demokratische Grundüberzeugung selbstverständlich erscheinen, sie ist es aber gerade nicht: Es handelt sich um eine Absage an die Idee der Demokratie als bloßem Kampf von Eigeninteressen, bei denen sich am Ende die Mehrheit durchsetzt, und um eine Absage an die Vorstellung eines Allgemeinen, das bereits a priori feststeht. Jede Auffassung vom Allgemeinen, jede verallgemeinerbare Antwort muss die unterschiedlichen Interessen der Betroffenen miteinbeziehen. Sicher: Interessenartikulation – Lobbyismus in eigener Sache – ist eine Voraussetzung von Demokratie, die den gleichberechtigten Zugang aller erfordert. Aber Demokratie geht darüber hinaus: Interessenartikulation ist noch kein Vorschlag der gerechten, verallgemeinernden Interessenaggregation. Erst im Streit der unterschiedlichen Auffassungen vom Allgemeinen begründet sich die diskursive Hoffnung, den anderen als Gleichen in die Argumentation einzubeziehen – anstatt ihm bei Interessenkonflikten sogleich den Krieg zu erklären.

Natürlich sind jegliche Interpretationen des Allgemeinen fast notwendigerweise „interessengefärbt“. Moralische, politische oder rechtliche Auffassungen vom allgemein Richtigen sind – oftmals unbemerkt – tief eingelassen in die Interessenlage des jeweiligen sozioökonomischen Milieus. Das gilt auch für jene Bildungsmilieus, deren Auffassungen so selbstlos postmateriell daherkommen, hinter denen aber die knallharte Verteidigung des ökonomischen und sozialen Status stehen kann. Als Auseinandersetzung um das Allgemeine ist Demokratie daher auch ein ständiger Prozess der Selbstaufklärung über die Differenz von sublimem Eigeninteresse und Verallgemeinerung (unter Berücksichtigung der eigenen Interessen).

Demokratie ist weder der bloße Kampf entgegengesetzter Interessen, noch das Mittel zur Durchsetzung eines bereits a priori bestehenden Allgemeinen. Die antidemokratische Sehnsucht nach dem „aufgeklärten Herrscher“ setzt sich heute in der expertokratischen Hoffnung auf Exekutive, Gerichte, Kommissionen und Treuhänder fort. Das heißt nicht, dass wir als Demokraten Wahrheitsansprüche aufgeben müssen, weder gegenüber den Feinden der Demokratie noch im demokratischen Diskurs mit Blick auf diskursiv stark gefestigte Ansprüche normativer Richtigkeit oder empirischer Wahrheit – solange wir uns im Klaren sind, dass ein neues Argument unseren eigenen Wahrheitsanspruch transformieren oder gar negieren kann.

Parteien sind also diejenigen Institutionen, die unterschiedliche gesellschaftliche Auffassungen vom Für-alle-Richtigen an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Legislative vertreten. Genau darin besteht die Idee der Partei. In diesem Sinne sind Parteien als funktionale Orte zu begreifen, die den Streit um die unterschiedlichen Interpretationen des Allgemeinen zum Zweck der legislativen Programmierung organisieren. Als Transformationsriemen zwischen Gesellschaft und Legislative sind sie – in den Worten von Christoph Menke – „Schnittpunkte von Partikularität und Universalität“. Denn sie „repräsentieren bloße Teile des sozialen Ganzen, die aber Modelle des sozialen Ganzen entwerfen und durchzusetzen versuchen“.

Es ist die Aufgabe der Parteien, verallgemeinerbare Vorschläge zu vertreten

Die spezifische demokratische Funktion der Partei lässt sich nur erfassen, wenn man sich ihre – verfassungsrechtlich vorgegebene – Legislativfunktion klarmacht. „Partei“ zu sein heißt, an der gesellschaftlichen Willensbildung beteiligt zu sein und den ­Anspruch zu erheben, über die Mandatsträger unmittelbar Einfluss auf das Ergebnis parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren zu nehmen. Dieses Alleinstellungsmerkmal der Parteien steht nicht im Widerspruch zum verfassungsrechtlich verbürgten freien Mandat. Gute Repräsentation hat viel mit der Kontrolle durch Wahlen zu tun, aber ab einem bestimmten Punkt eben auch mit dem Vertrauen in die konkrete Entscheidungskompetenz der Repräsentanten.

Erst aus diesem besonderen Merkmal der allgemeinen Gesetzgebungsfunktion ergibt sich die besondere Verpflichtung von Parteien, sich nicht einfach als Interessenvertretung zu begreifen, sondern als Protagonisten unterschiedlicher Auffassungen vom Allgemeinwohl. Sie müssen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessenlagen kennen; darüber hinaus ist es die Aufgabe der Parteien, verallgemeinerbare Vorschläge zu vertreten. Legislative Antworten, die versuchen, allen Betroffenen gerecht zu werden, lassen sich nur entwickeln, wenn Parteien für unterschiedliche Interessen durchlässig sind. Gleichzeitig stehen Parteien stets vor der Aufgabe, die Bedingtheit ihrer Allgemeinwohlinterpretation durch die eigene sozioökonomische Basis aufzuklären und zu korrigieren. Dieser ständige Prozess des Hinterfragens kann durch die Konkurrenz mit anderen Parteien befördert werden, deren Vorschläge sich stärker mit den Interessen anderer sozioökonomischer Milieus verbinden.

Deshalb unterscheiden sich Parteien kategorial von Protagonisten der Interessenvertretung und Single-Issue-Organisationen, die ihren Verallgemeinerungsanspruch auf ein Thema begrenzen, ohne sich die Mühe zu machen, andere gesellschaftliche Bereiche miteinzubeziehen. Ohne Frage: Lobbyisten und Themenadvokaten spielen eine wichtige Rolle in unserer Demokratie. Aber wer würde wollen, dass diese über Gesetze entscheiden?

Parteien übernehmen demnach vier Funktionen in unserer Demokratie: erstens eine Orientierungsfunktion, indem sie spezifische Auffassungen des Allgemeinen vertreten, die sich in konkreten Handlungskonzepten und -vorschlägen wiederfinden; zweitens eine Diskursfunktion, indem sie diese Positionen in gesellschaftliche und institutionalisierte Diskurse einführen; und drittens eine Entscheidungsfunktion im Zuge der Teilhabe an der demokratisch-legislativen Beschlussfassung. Diese drei Funktionen hängen eng mit einer vierten Funktion zusammen: der Repräsentativfunktion.

Gerechte Repräsentation durch Parteien ist wichtiger denn je

Idee und Aufgabe der Institution Partei lassen sich nur erfassen, wenn man die demokratische Bedeutung intakter Repräsentation für alle drei Funktionen versteht. Basale Voraussetzung, um diese Funktion überhaupt erfüllen zu können, ist Zeit. Denn die Qualität der vielen Entscheidungen, die wir in modernen Gesellschaften treffen müssen, hängt in entscheidendem Maße von der Zeit ab, die uns dafür zur Verfügung steht. Nur wenn genügend Zeit vorhanden ist, ist es den Parteien überhaupt möglich, ihre demokratisch-legislativen Funktionen wahrzunehmen: die Aufbereitung von politischen Fragen in unterscheidbare gesellschaftliche Positionen (Orientierungsfunktion), deren diskursive Bearbeitung (Diskursfunktion) und anschließende Entscheidung (Entscheidungsfunktion). Gleichzeitig ist Zeit in der Demokratie stets ein knappes Gut. Gespräche und Debatten münden in (zumindest vorläufige) Entscheidungen und werden gerade dadurch angetrieben. Aus dieser zeitlichen Endlichkeit demokratischer Prozesse erschließt sich die fundamentale Bedeutung von Kompromissen für die Demokratie. Zwar ist das Einvernehmen als regulatives Ideal ein unverzichtbarer Antrieb, jedoch nur in den seltensten Fällen zu verwirklichen. Auch die Zeit der Bürger ist begrenzt. Trotz des wichtigen Streits für eine gerechtere Zeitpolitik gilt: Zeit ist limitiert. Auch in Zukunft wird es so sein, dass die Bürger über unterschiedliche Zeitkontingente verfügen und diese unterschiedlich nutzen. Deshalb ist es notwendig, auch jene gerecht zu repräsentieren, die nicht als „Vollzeitbürger“ den ganzen Tag im politischen Raum ihre Auffassungen und Interessen vertreten können.

Entgegen den Unkenrufen vom „Ende der repräsentativen Politik“ (Simon Tormey) ist gerechte Repräsentation wichtiger denn je – vor allem, weil sich der räumliche und zeitliche Entscheidungshorizont der Politik im Zuge der Globalisierung nochmals deutlich erweitert. Was wir also brauchen, ist eine neue Reflexion und Praxis der Mechanismen legitimierter Vertretung, um die Parteien wieder in Schwung zu bringen. Anstatt sich von der Idee der Repräsentation abzuwenden, sollten wir uns fragen, wie wir die Repräsentativfunktion der Parteien verbessern können.

Damit erübrigt sich in keiner Weise die Erwartung an jeden Bürger, sich in einem republikanischen Sinn als Subjekt unserer Demokratie zu begreifen. Auf Delegation beruhende Politik ist etwas anderes als advokatorische Politik. Sich vertreten zu lassen ist anspruchsvoll und anstrengend. Delegation erfordert Befassung. Meinungsbildung kostet Zeit und erfordert Auseinandersetzung. Wählen ist weit mehr, als in der Wahlkabine ein Kreuz zu machen. Und auch Repräsentation hat nur dann einen Mehrwert, wenn sie sich in der öffentlichen Aufmerksamkeit eines deliberativen Raumes vollzieht, der für niemanden verschlossen bleibt. Es wäre demnach falsch, Parteien auf das klassische Profil von Programmparteien zu verkürzen. Die parteipolitische Perspektive auf das Allgemeinwohl erweist sich in der Erarbeitung konkreter Konzepte zu verschiedenen Themenfeldern (Konzeptpartei); in der Entwicklung und Durchsetzung konkreter Projekte mit zeitlicher Begrenzung (Projektpartei); und in Repräsentanten und Führungspersonen, die mit ihrer Person für ein bestimmtes Angebot der gesellschaftlichen Orientierung einstehen (Personenpartei).

Es ist Zeit für eine »neue Grundsätzlichkeit«

Die Quintessenz der Idee der Partei besteht jedoch darin, dass Parteien sich regelmäßig über ihre Grundsätze und ihre jeweiligen Interpretationen des Allgemeinen verständigen müssen, um ihre Kernfunktion erfüllen zu können. Es ist daher ein fataler Irrtum, Grundsatzdebatten und grundsatzprogrammatische Arbeit als „Nice-to-have“ oder gar als Störfaktoren zu betrachten. Denn genau hier entscheidet sich am Ende, ob es einer Partei gelingt, im wechselnden Blick mit der Konkretion von Konzepten und Projekten eine gesellschaftliche Orientierung sichtbar zu machen und zur Wahl zu stellen. Ein klar abgrenzbares Profil wie auch einen wiedererkennbaren Markenkern bekommt man nicht geschenkt, auch Werbeagenturen haben sie nicht im Angebot. Beides muss man sich erarbeiten. Dabei geht es weniger um das Textergebnis auf dem Papier oder dem Bildschirm, sondern um die diskursive Aneignung einer gemeinsamen Grundposition, die sich dann in jeder Form der Kommunikation niederschlägt.

Der Verweis auf eine „postideologische“ Entwicklung der Gesellschaft, in der sich grundsätzliche Alternativen nicht mehr beschreiben lassen, ist gelinde gesagt denkfaul. Es gibt keinen Grund, der alten ideologischen Konstellation nachzutrauern. Und wer die dramatischen Herausforderungen der Gegenwart nicht als analytische und normative Aufforderung begreift, grundsätzliche Orientierungsantworten zu geben, hat etwas verpasst. Als Reaktion auf den aggressiven Anti-Modernismus unserer Zeit, den Demokratieverlust einer globalisierten Ökonomie, das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaften, die globalen Fluchtbewegungen oder die Zerstörung unserer Umwelt ist eine rein „pragmatische“ Antwort zum Scheitern verurteilt. Die „Ideologie des Pragmatismus“ ist nicht einmal in der Lage, die Probleme zu beschreiben, vor denen wir stehen, geschweige denn eine Haltung einzunehmen. Um unsere Überzeugung von Freiheit, Gleichheit und Demokratie zu behaupten, müssen wir uns unserer selbst vergewissern: Worin liegt unser Wahrheitsanspruch in einer reflexiven Moderne? Was ist unsere Vorstellung von Liberalität – und unser Anspruch an soziale und demokratische Teilhabe? Und was ist unsere politische Idee von inklusiver und grüner Ökonomie?

Der Aufruf zu einer „neuen Grundsätzlichkeit“ geht unmittelbar an die Parteien in ihrer diskursiven Funktion. Im Gegensatz zu resignativen Lesarten der Postmoderne sollten sie die diagnostizierte „Unübersichtlichkeit“ als Aufforderung zu grundsatzprogrammatischer Reflexion verstehen. Dadurch würden auch ihre konkreten Projekte und Positionen eine Orientierung bekommen.

Das aber heißt: Die Parteien müssen all die intellektuellen und kulturellen Orientierungsvorschläge aufgreifen, die es zweifelsohne bereits gibt – und die stets und notwendigerweise bestehende Ideen weiterdenken und transformieren. (Wie auch umgekehrt die Politische Theorie und die Kunst wieder den Dialog mit anderen gesellschaftlichen Sphären suchen müssten, anstatt es sich in der Oase des „eigentlich Politischen“ gemütlich zu machen.)

Mithilfe dieser normativen Funktionsbestimmung der Partei lässt sich nun genauer zwischen den zwei Formen der Kritik unterscheiden: einer Parteienkritik, die auf eine verbesserte Funktionserfüllung abzielt, und einer Kritik, die auf einem antidemokratischen Ressentiment beruht. Eine Parteienkritik, die ein autoritäres „Ruhebedürfnis“ nutzt, um den demokratischen Streit um politische Alternativen zu diffamieren, bedient ein solches Ressentiment. Stattdessen bedarf es einer Form der Kritik, die um mehr parteipolitische Auseinandersetzung bemüht ist – und zwar dringend. Eine Parteienkritik, die Sachzwänge bemüht, um dem demokratischen Diskurs die Zeit zu rauben, bedient antidemokratische Ressentiments. Dringend gefragt ist hingegen eine Kritik, die den diskursiven Austausch unter der Bedingung von Zeitknappheit verbessern will. Eine Parteienkritik, die mit dem Versprechen auf „Unmittelbarkeit“ – des Volkswillens oder des Bürgerinteresses – Institutionen der gerechten Repräsentation diffamiert, bedient ebenfalls antidemokratische Ressentiments. Wir brauchen stattdessen eine Parteienkritik, die die soziale Durchlässigkeit und die Repräsentationskraft dieser Institutionen verbessern will.

Analyse und Idee müssen sich wieder ergänzen

Eine Analyse der Funktionsprobleme oder gar -verluste der Parteien ist überhaupt nicht möglich, ohne zuvor eine Vorstellung davon entwickelt zu haben, wie eine zeitgemäße ideelle Funktionsbeschreibung der Parteien aussehen könnte. Viele politikwissenschaftliche Beiträge üben sich stattdessen in der Routine deskriptiver Problembeschreibungen, ohne jedoch eine Brücke zu den normativen Kriterien ihrer Analysen zu schlagen. Was heißt eigentlich „Legitimation des politischen Gemeinwesens“? Woran bemisst sich die „Sozialisation von Bürgern in den politischen Prozess“? Welche Qualitätskriterien gelten für die „Rekrutierung politischen Führungspersonals“? Sollen die einzelnen Punkte nicht bloß abgehakt werden, müssen Analyse und Idee sich wieder ergänzen.

Die Parteien haben in den vergangenen 25 Jahren spürbar an Repräsentationskraft verloren: Die soziale Zusammensetzung der Parteien spiegelt nicht mehr die Sozialstruktur der Bevölkerung wider, denn bestimmte Sozialmilieus, Einkommens- und Berufsgruppen sind deutlich überrepräsentiert. Symptomatisch für diesen Verlust sind eine kontinuierlich sinkende Wahlbeteiligung, abnehmende Mitgliederzahlen, eine verringerte Teilhabe bestimmter Milieus an politischen Willensbildungsprozessen sowie ein Vertrauens- und Ansehensverlust von Parteien und Politikern in der Öffentlichkeit. Ebenso schwindet die Bindung der Parteien an „sozialmoralische Milieus“ (M. Rainer Lepsius) wie auch die Bedeutung von Gewerkschaften, Kirchen oder Verbänden, also jenen Großorganisationen, die Wahlnormen und -orientierung vermitteln.

Gleichzeitig machen die Parteien immer weniger konkurrierende Orientierungsvorschläge. Stattdessen kreist der Parteienwettbewerb um Personen, Koalitionen und Einzelfragen; die Differenzen zwischen den Parteien werden geringer. Ebenso konzentriert sich die mediale Aufmerksamkeit zunehmend auf Personen und Machtkonstellationen und immer weniger auf Positionen. „Position Issues“, also Sachfragen, die zur politischen Polarisierung beitragen können, treten zunehmend in den Hintergrund; sie bilden eher die Ausnahme. Die Konkurrenz der Parteien beschränkt sich primär auf „Valence Issues“, es geht dann etwa nur noch um die Höhe des Mindestlohns und nicht mehr um den Mindestlohn selbst. Wie ein bestimmtes Ziel erreicht, wie eine bestimmte Maßnahme dimensioniert werden soll, erschließt sich im Detail zumeist nur wenigen Experten, und oft nicht einmal allen Parlamentsabgeordneten. Die Folge ist ein Sog hin zur Exekutive.

Parteien müssen politische und soziale Inklusion betreiben

Hinzu kommt eine starke Scheu vor politischen Kontroversen. Politik wird immer weniger als Auseinandersetzung über unterschiedliche Konzepte wahrgenommen, sondern von vornherein als Moderation. Die „Mitte“ ist immer schon da. Der Kompromiss steht nicht mehr am Ende der politischen Auseinandersetzung, sondern markiert deren Beginn – aus Angst, man könnte für eine Minderheitenposition innerhalb der Partei abgestraft werden; oder aus Angst, dass jedwede Form inhaltlicher Auffälligkeit einen medialen Angriffspunkt für die Konkurrenz bieten und Wähler vergraulen könnte. Die digitalisierungsgetriebene Zersplitterung des medialen Raums führt schließlich dazu, dass Positionen nicht mehr sichtbar aufeinandertreffen, sondern sich in digitalen Paralleluniversen isolieren.

Hinsichtlich ihrer Entscheidungsfunktion stehen Parteien vor dem grundlegenden Problem, dass trotz des erhöhten Steuerungsbedarfs komplexer Gesellschaften die Steuerungsfähigkeit auf der nationalen Ebene abnimmt. Dieser Verlust an Steuerungsfähigkeit ist der globalisierungsgetriebenen Vermarktlichung ehemals politischer Handlungsfelder geschuldet – eine Dynamik, die den Legitimationsbedarf staatlichen Handelns vermeintlich reduzierte, aber zugleich Steuerungsfähigkeit kostete. Ende der neunziger Jahre wurde vermehrt versucht, der Steuerungskrise des Staates durch die Einsetzung von Kommissionen und Expertenräten zu begegnen. Davon erhoffte man sich eine „rationale“ Lösung der zu entscheidenden politischen Sachverhalte. Die Räte traten zwar nicht an die Stelle der Parlamente, aufgrund der vermeintlich höheren Rationalität ihrer Entscheidungen wirkten sie dennoch stark auf diese zurück.

Soziale Exklusion führt oftmals zum Selbstausschluss der Betroffenen aus dem politischen Prozess. Bislang schenken Parteien diesem Demokratiedefizit jedoch nur wenig Aufmerksamkeit – im Wettbewerb mit anderen Parteien halten sie die aktive Wählerschaft für entscheidender. Diese Auffassung steht jedoch im Widerspruch zur Aufgabe der Parteien, Organe einer möglichst repräsentativen Willensbildung zu sein. Um diesem Anspruch wieder gerecht zu werden, wird eine andere „Ansprache“ allein nicht genügen. Soziale Exklusion basiert nicht auf einem Kommunikationsproblem. Entscheidend ist, dass politische Teilhabe an soziale Teilhabe gebunden ist. Arbeit und Bildung bilden daher die wesentlichen Voraussetzungen gesellschaftlicher Inklusion. Dabei handelt es sich nicht nur um ein soziales, sondern auch um ein demokratisches Gebot. Und: Sich unabhängig von persönlichen und kollektiven Eigenschaften wie dem Geschlecht oder der Herkunftsgeschichte demokratisch zu öffnen, bedeutet nicht, identitäre Vielfalt festzuschreiben. Künftig müssen sich Parteien in wesentlich höherem Maße als Protagonisten der sozialen und politischen Inklusion begreifen. Dazu wird es nicht ausreichen, den sozialen Status der Ausgeschlossenen materiell besser abzusichern. Um die Institutionen der Demokratie weiter zu öffnen, bedarf es vielmehr einer echten Teilhabe in einer inklusiven (Arbeits-)Gesellschaft.

Parteien haben eine gesellschaftliche Orientierungsfunktion. Ihr verfassungsrechtlicher Auftrag, an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken, lässt sich nur in einem Raum politischer Alternativen einlösen. Kontroverse Diskurse werden in der medialen Öffentlichkeit oft als Orientierungslosigkeit der Parteien gewertet und mit Handlungs- und Führungsschwäche gleichgesetzt. Die Folge ist eine innere Diffusivität, die eine nachhaltige programmatische Auseinandersetzung zwischen den Parteien erschwert und stattdessen kurzlebige symbolische Differenzen begünstigt. Das Resultat ist ein schablonenhafter Jargon, der die eigene Identität vermitteln will, aber wenig zu sagen hat – und der wohl kaum in der Lage ist, nachhaltige Debatten anzustoßen.

Warum und wie Parteien Diskurse führen müssen

Ihren Verfassungsauftrag nehmen die Parteien folglich nicht ernst genug. Die Gestaltung von Räumen nachhaltiger Diskurse ist eine harte parteipolitische Aufgabe und erfordert ein starkes Bewusstsein und starke Kompetenzen. Dies gilt für den meinungsbildenden Diskurs nach innen wie auch für die öffentliche Intervention mit gemeinsamen Positionen nach außen. Zehn Punkte sind für die diskursstrategische Kompetenz von Parteien entscheidend: erstens die Sichtbarmachung von gebündelten Orientierungsalternativen, die überhaupt erst einen Raum politischer Möglichkeiten hervorbringen, inklusive einer Offenlegung der konkurrierenden Argumente und Abwägungen. Zweitens müssen die unterschiedlichen Positionen und Argumente verständlich aufbereitet werden. Vonnöten ist drittens eine fokussierte Debattenstruktur, die genügend Raum für Auseinandersetzung bietet – und zwar über unterschiedliche Grundpositionen und nicht über beliebige Einzelmeinungen. Viertens müssen gemeinsame – analoge wie digitale – Plattformen entwickelt werden, auf der die divergierenden Positionen aufeinandertreffen können, anstatt sie in geschlossenen Parallelnetzwerken zu separieren. Produktive Reibung wäre das Ergebnis. Fünftens müssen diejenigen innerparteilichen Gruppen und Netzwerke gefördert werden, die im Vorfeld einer übergreifenden Debatte in der Lage sind, Orientierungsvorschläge und Konzepte zu entwickeln. Diese Akteure müssen, sechstens, im Diskurs angemessen repräsentiert werden. Debatten sollten, siebtens, so inszeniert werden, dass sie in einem republikanischen Sinne einladend sind. Zudem bedarf es, achtens, einer Kultur und unterstützender Strukturen, die sicherstellen, dass die Transformation der eigenen Positionen im diskursiven Prozess kein Nachteil, sondern eine Stärke ist. Neuntens dürfen Abstimmungsniederlagen nicht automatisch die politische Existenzgrundlage des Unterlegenen infrage stellen. Und schließlich ist, zehntens, das Bewusstsein nötig, dass die Wirkung parteipolitischer Impulse in den gesellschaftlichen Raum eine gemeinsame, klare und eindeutig zuzuordnende Position voraussetzt, die es durch den klärenden und stets kompromisshaften Diskurs nach innen herzustellen gilt. Die diskursive Interventionsfähigkeit der Parteien nach außen erfordert zudem eine seismografische Aufmerksamkeit für gesellschaftliche, mediale und intellektuelle Kontroversen jenseits der Parteienlandschaft.

Angesichts der zunehmenden Repräsentations-, Orientierungs- und ­Diskursdefizite von Parlamenten und Parteien trat in den vergangenen Jahren immer häufiger die laute Stimme der „neuen Bürgerbewegungen“ auf den Plan. Ihr Ziel ist die unmittelbare Bürgerbeteiligung und direktdemokratische Einflussnahme. In einigen Fällen fand dabei eine starke Entgegensetzung direkter Beteiligung und repräsentativer Demokratie statt. Übersehen wurde allerdings, dass der Wille zur unmittelbaren Beteiligung die Repräsentationsdefizite der Demokratie tendenziell sogar verstärkt, da deren Protagonisten meist aus bestimmten sozialen Milieus stammen.

Deshalb erfordert ein Mehr an Demokratie nicht einfach mehr Beteiligung. Die demokratischen Verfahren müssen so gestaltet werden, dass Beteiligung tatsächlich zu einer besseren und gerechteren Repräsentation führt – ein Problem, das in jüngster Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit erfährt. Mit Planungszellen und anderen repräsentativen Beteiligungsformaten konnten bereits interessante Erfahrungen gesammelt werden. Auch die Parteien haben hier methodischen Nachholbedarf. Eine andere „Willkommenskultur“ allein wird jedoch nicht ausreichen, denn es müssen Beteiligungsstrukturen entwickelt werden, die den radikal veränderten Arbeits- und Lebenswelten Rechnung tragen. Diese reichen von einer temporären, projektbezogenen Einbindung von Nicht-Mitgliedern über eine interessenspezifische Differenzierung der lokalen und thematischen Beteiligungsangebote bis hin zu einer Befähigungs- und Bildungsstruktur, welche über die parteipolitische Aktivität hinaus einen persönlichen Nutzen verspricht.

Politische Führung darf sich angesichts ihrer Willensbildungsfunktion nicht weiter auf das Abmoderieren potenzieller Meinungsunterschiede beschränken. Wo grundlegende gesellschaftliche Weichenstellungen anstehen, muss sie als „Diskursöffner“ agieren – nicht allein um der diskursiven Rationalität willen, sondern auch, um demokratische Beteiligung und Leidenschaft zu fördern. Führungsfähigkeit lässt sich unterstützen und schulen. Angesichts abnehmender Personalressourcen sollten Parteien ein besonderes Augenmerk auf diese Aufgabe legen. Dabei muss politische Führung stets das Risiko der Niederlage einkalkulieren.

Gemeinsame Plattformen statt separierte Flügelnischen

Parteien haben ihre etablierten Arenen der Willensbildung, vor allem Parteitage gehorchen einem standardisierten Regime. Welcher Wille die Mehrheit findet, ist am Ende zwar klar – unklar ist jedoch meist, wie die Mehrheit überhaupt zustande kam. Um zu Foren der Willensbildung zu werden, müssen Parteien ihre interne Struktur verändern, sichtbare Debattenforen schaffen, sie für außerparteiliche Impulse öffnen und zugleich bereit sein, die internen Divergenzen exemplarisch für die Gesellschaft auszutragen. Dafür bedarf es gemeinsamer Plattformen statt separierter Flügelnischen, die die Auseinandersetzung über die Optionen künftiger Politikgestaltung und der entsprechenden Parteiprofilierung öffentlich führen.

Parlamente sind der Ort, an dem sich die willensbildende Funktion der Parteien mit der Gesetzgebung verzahnt. Daher sind sie ein entscheidendes Feld der kritischen Reflexion über den Zustand der Repräsentation. Es ist fragwürdig, die Beratung über politische Angelegenheiten Expertenkommissionen, der Ministerialbürokratie oder dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen. Die Legislative kann nur dann ihre verfassungsmäßige Aufgabe erfüllen, wenn sie sich auf die grundlegenden Weichenstellungen konzentriert und engagierte und nachvollziehbare Auseinandersetzungen führt – anstatt jeden erdenklichen Einzelfall mit einer eigenen Bestimmung zu erfassen.


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