Grün wohin?
D ie Grünen haben sich am 22. September eine empfindliche Niederlage eingefangen. Jetzt geht es darum, den eigenen Anteil genau zu verstehen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei kommt es darauf an, immer klar im Auge zu behalten, wofür die Grünen in der Gesellschaft gebraucht werden. Es geht also nicht um eine Nabelschau, sondern um den grünen Veränderungsanspruch an diese Gesellschaft.
Es kommt darauf an, aus der Niederlage eine produktive Reibung zu erzeugen, die nach vorne weist. Ein Rückzug in die alten Schützengräben würde allen schaden. Viele der aufzuwerfenden Fragen rühren dabei am Grundverständnis grüner Politik: Wie verhält sich der „ökologische Markenkern“ zum Anspruch, die zugeschriebene Kompetenz zu erweitern? Wie steht es um das Verhältnis von öffentlicher Regulierung und gesellschaftlicher Selbstregulierung (die ja nicht weniger ein- und übergriffig ausfallen kann)? Wie um das Verhältnis von Ökologie und Sozialem, von Ökologie und Ökonomie? Wie um das grüne Verständnis von Gerechtigkeit und Freiheit? Was ist das grüne Bild von Europa nach den wirtschafts- und finanzpolitischen Eruptionen der letzten Jahre? Wie steht es um das Verhältnis von politischer Polarisierung und Integration in einer stark veränderten Öffentlichkeit, besonders im Hinblick auf die Medienlandschaft?
Wie sieht grüne Wirtschaftspolitik aus?
All diese Fragen brauchen Zeit und produktive Auseinandersetzung (zu der die Grünen besser in der Lage sind als alle anderen Parteien). Dennoch möchte ich in unmittelbarer Reaktion auf die Wahl zehn (unvollständige) Thesen zur inhaltlichen Ausrichtung aufstellen, die jeweils schon eine Ausflucht in die Zukunft andeuten:
1. Es war richtig, die soziale Frage mit ins Zentrum grüner Politik zu holen, aber man hat es versäumt, auf diesem Feld eine eigene, unterscheidbare Antwort anzubieten. In eine grüne Erzählung über die Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Institutionen (Bildung vorneweg) und des öffentlichen Raums wurde in den letzten Jahren bereits viel investiert, aber man hat sie nicht ausreichend konkretisiert und schließlich im Wahlkampf nicht aufgenommen.
2. Es war richtig, die ökologische Wende und die gerechte Teilhabe aller zu fordern. Aber man hat es versäumt, die ökonomischen Voraussetzungen für beides zu thematisieren: eine grüne Wirtschaftspolitik als Antreiberin einer ausformulierten grünen Industriepolitik und als Verbündete mittelständischer Innovation.
Besser Angebote als Verbote
3. Es war richtig, im Wahlkampf die Kritik an Massentierhaltung und Agrarindustrie nach vorne zu stellen, denn die gesellschaftliche Sensibilität dafür nimmt kontinuierlich zu. Aber man hätte auf diesem stark mit Lebensstilen verbundenen Feld mehr auf der Anbieterseite ansetzen und den Konsumenten ein Angebot machen müssen, anstatt ein Verbot im öffentlichen Dienst auszusprechen.
4. Es war richtig, eine Präferenz für Rot-Grün zu formulieren und diese auch durchzuhalten, denn hier liegen ohne Zweifel die größten Schnittmengen. Aber es war umso unverständlicher, warum andere Optionen de facto und ohne Not wieder ausgeschlossen wurden.
5. Es war deshalb auch richtig, ein übergreifendes Bild von einer anderen gesellschaftlichen Mehrheit zu zeichnen (das nicht nur aus der eigenen Wählerschaft bestehen kann). Aber umso mehr hätte man klären müssen, wer welche Teile der Gesellschaft (besonders aus der sozio-ökonomischen „Mitte“) mobilisiert, um mehr zu erreichen als bestenfalls ein Nullsummenspiel innerhalb der Linken.
6. Es war richtig, die Energiewende als das große grüne Projekt nach dem Atomausstieg zu beschreiben. Aber man hat es versäumt, diese ausreichend nach vorne zu stellen und mit dem belastbaren Konzept einer Energiewende 2.0 zu hinterlegen.
7. Es war richtig, auf der Einnahmeseite eine Antwort zu geben, die gerechte Steuererhöhungen umfasste. Aber man hat es versäumt, dem ein klares und überzeugendes Bild vom Zweck der Einnahmen, von den geplanten Investitionen in die öffentliche Infrastruktur voranzustellen. Am Ende hatte man auf der Investitionsseite Leipziger Allerlei, und Umverteilung schien eher Selbstzweck als Mittel für eine echte Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
8. Es war richtig, sich finanzpolitisch ehrlich zu zeigen und offenzulegen, mit welchen Einnahmen wir rechnen. Aber man hätte unter Einbeziehung der geforderten Abschaffung des Ehegattensplittings merken müssen, dass in der Addition der Bogen überspannt wird.
9. Es war richtig, in der Kampagne auf Bürgerdialog zu setzen. Aber Bürgerdialog spiegelt sich weder in Plakatkaskaden an jeder Laterne (damit haben sich alle Parteien auseinanderzusetzen) noch in kumpelhaftem Duzen wider.
10. Es war richtig, sich gegen die Instrumentalisierung der Pädophilie-Debatte durch Union und FDP im Wahlkampf zu wehren. Aber letztlich bewegte man sich hier in einer politischen Kultur der ständigen Skandalisierung, des rituellen Gegner-Bashings und der stereotypen Rücktrittsforderungen, zu der man selbst auch beigetragen hat. Es war auch richtig, die Aufklärung des Vorwurfs der Liberalisierung von Pädophilie in den grünen Anfangsjahren vor der Wahl aktiv und offensiv zu betreiben, aber es fehlte an einer ausreichenden Selbstaufklärung durch einige beteiligte Protagonisten aus dieser Zeit.
Paradoxien und Unschärfen grüner Politik
Bei den Fehlern im Wahlkampf handelt es sich nicht einfach um „handwerkliche“ Fehler, so als hätte man nur falsch in den Werkzeugkasten gegriffen. Die angeführten Punkte rühren an Paradoxien und Unschärfen grüner Politik, die es jetzt zu klären gilt. Der Weg zu einem neuen grünen Grundsatzprogramm kann dabei für Orientierung sorgen, die Verklarung und wirkliche Priorisierung der konkreten Antworten steht ab dem heutigen Tag an.
Die grünen Verantwortlichen in den Ländern, wo sie in vielen Landesregierungen vertreten sind und in denen die Grünen eine starke Machtbasis haben, werden dabei eine wichtige Rolle spielen – sinnvollerweise auch in Form einer anderen Mitverantwortungsstruktur auf der Bundesebene. (Im Falle einer Neuauflage der Großen Koalition wird es zudem eine entscheidende Frage sein, wie sich die Grünen in den Landesregierungen über den Bundesrat zu den schwarz-roten Gesetzentwürfen verhalten werden.)
Der anstehende Prozess kann der Partei helfen, sich zu besinnen, Ziele und Wege klarer zu benennen, Entscheidungen zu treffen, statt vieles nebeneinander zu stellen.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – so heißt es bekanntlich bei Hölderlin. Christoph Schlingensief nannte es „Scheitern als Chance“. Die Grünen haben jetzt die Chance, aus ihren Fehlern zu lernen und noch besser zu werden. Eine grüne Erzählung entsteht nicht einfach aus Kontinuität, sie entsteht auch aus Irrtümern und Hindernissen – und den damit verbundenen Korrekturen. Das macht uns stark. Fast wie im richtigen Leben. Bei dem, was kommt, haben wir alle Chancen!