Die Politiker - besser als ihr Ruf




Super-Wahljahr 2009. Genau 15 Mal wird in Deutschland gewählt, so oft in einem Jahr wie seit 1994 nicht mehr. Wähler und Gewählte, Bürger und (ihre) Politiker erwartet ein Maximum an persönlichem Kontakt, an Rede und Gegenrede, an öffentlich diskutierter Politik schlechthin. Herauskommen könnte freilich ein Minimum an Verstehen. Wo „Super“ drauf steht, ist Enttäuschung drin: Politikverdrossenheit bei den Wählern. Und Wählerverdrossenheit bei den Politikern. Schon der dritte Leser-Kommentar beim gerade frisch aufgelegten ZDF-Wahl-Blog nimmt es vorweg. Dort schrieb am 4. Januar ein „arno wahl“: „Wem soll denn das „Super-Wahljahr“ von Nutzen sein...? Den Parteien – oder dem Wähler...? Für das Wahlvolk wird sich niemals etwas ändern.“

Kaum eine Berufsgruppe ist so unten durch wie die der Politiker in Deutschland. Selbst Gruppen wie elder statesmen und Hartz-IV-Empfänger, die ansonsten nichts gemein haben, können sich auf eines sofort einigen: dass die amtierenden Politiker in Wahrheit durch die Bank unfähig sind, unehrlich, eitel und immer nur an das eigene, nie aber an das „Gemeinwohl“ denken. So tief eingefressen hat sich dieser Mainstream, dass die Beweislast längst bei den Angeklagten liegt. Nicht wer sie erhebt, muss die schweren Vorwürfe beweisen, sondern der muss sie entkräften, gegen den sie erhoben werden. In keinem anderen Land in Europa stehen die Politiker in derart jammervollem Ruf wie in Deutschland. Ob zu recht, fragt so gut wie niemand.


Im Schlagschatten von Andrea Ypsilantis Wortbruch, Kurt Becks verdruckster SPD-Führung, der Schlammschlacht in der Berliner Landes-CDU und Peter Sodanns unsäglicher Chaos-Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten mag es schwerer als zu anderen Zeiten fallen, Politiker ganz generell zu verteidigen. Dabei sind die meisten in dieser Reihe binnen vergleichsweise kurzer Fristen an ihrem Vorhaben Gescheiterte, also von jenem „politischen System“ aussortiert worden, für dessen vermeintliche Minderwertigkeit sie als „Beweis“ angeführt werden. Aber auch die jüngste Aufwertung des Politischen insgesamt vermag nichts am Ruf der Politiker zu ändern. Im Angesicht von Wirtschaftskrise und Märkten, die durchgehen wie Rinderherden im Gewitter, ist der starke Staat wieder in Mode. Politik ist zwar wieder „in“. Aber Politiker bleiben „out“. Die Vorurteile sind stärker.


Wer dagegen fair richten will, darf zuvorderst zwei Dinge nicht vermengen. Es gibt zwar nicht wenig schlechte Politik. Das heißt: „schlechte Politik“, gemessen an bestimmten Maßstäben. Das können zum Beispiel marktwirtschaftliche Maßstäbe sein, oder hoch moralische oder rein praktisch-pragmatische. In jedem Fall jedoch gilt: Schlechte Politik wird keinesfalls automatisch auch von schlechten Menschen gemacht.


Nein, ich bleibe dabei: Deutsche Politiker sind nicht faul, korrupt und machtbesessen. Sie sind besser, als alle Vorurteile behaupten, und weit besser als ihr Ruf. Aber: Noch nicht einmal die Politiker selber sprechen das auch aus. Öffentlich, wohl gemerkt, und nicht in jenen Wagenburgen aus Trotz und (ebenso pauschaler) Publikumsverachtung, die in Berlin längst viel weiter um sich gegriffen hat, als die Deutschen ahnen. Wenn ein Vorwurf viele Politiker in Deutschland zu Recht trifft, dann der, dass sie sich gegen ungerechtfertige Vorwürfe zu wenig wehren. Vielleicht aus ehrbaren Motiven. Vielleicht, weil sie denken, dass der Souverän in der Demokratie per definitionem nicht kritisiert werden darf. Weil Kritik am Wähler rechthaberisch wirken könnte wie Kritik an der Demokratie. Wäre es so, es wäre falsche Rücksichtnahme, meine ich. Und ein offensiver Antritt gegen die zum Teil geradezu aberwitzigen Vorurteile ist nicht nur ein intellektuelles Vergnügen – sondern auch ein Leichtes. Nehmen wir nur folgenden Dreiklang frivoler Substanzlosigkeit, den allerlei „Parteienkritiker“ und „Politikverdrossene“ gerade im Super-Wahljahr mehr als einmal anschlagen werden: Politiker sind eine abgeschottete Kaste; der Bundestag besteht eh’ nur aus Lehrern und Beamten; und die Parteien machen alle Personalfragen unter sich aus und fürchten frische Quereinsteiger. Der Reihe nach.


Erstens: In seinem fulminanten Essay „Bürger auf die Barrikaden!“ wetterte Ende 2002 der Zeithistoriker Arnulf Baring gegen die Versozialstaatlichung der Nach-Wende-Bundesrepublik, die er „DDR light“ nannte. Als Symptom dieser „Entartung“ (!) wertete Baring den Umstand, dass die Bundestags-Politiker, diese „drohnenhafte Herrschaftskaste“, sich vorwiegend aus Beamtentum und Gewerkschaften rekrutiere. Aha.


Wahr ist: Der Beruf des Politikers kennt keine formalen Bedingungen. Es braucht kein Studium, kein Abitur, noch nicht einmal einen gültigen Schulabschluss dafür. Wenn in Deutschland über die soziale Undurchlässigkeit bestimmter Gesellschafts- und Berufsgruppen geklagt wird, ist die Politik am wenigsten gemeint. Der Darmstädter Professor Michael Hartmann hat die Karrierewege von insgesamt 6.500 Ingenieuren, Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern untersucht, die in den Jahren 1955, 1965, 1975 und 1985 promoviert wurden. Ergebnis, grob gesagt: Das gehobene Bürgertum bleibt auf den Elitepositionen der Wirtschaft weitgehend unter sich. „Es ist eine geschlossene Gesellschaft“, so Hartmann. Seinen Untersuchungen zufolge stammten 2007 in den 100 größten deutschen Unternehmen vier Fünftel der Manager aus den „oberen drei Prozent der Gesellschaft“. In Politik und Wissenschaft dagegen stelle sich eine wesentlich buntere Mischung mit Vertretern aus Mittelschicht und Arbeiterhaushalten her. So viel zu den Fakten.

Von Benimmschulen für Politiker ist nichts bekannt

Und noch etwas widerlegt den Vorwurf der Kastenbildung: Über den Zugang zur Spitzengruppe in Wirtschaft, Justiz oder Wissenschaft entscheiden in der Regel kleine Runden von Vertretern eben dieser Spitzengruppen. Professoren berufen Professoren auf Lehrstühle, Top-Manager berufen Top-Manager in Vorstände. Eine korrigierende Instanz greift bestenfalls in Extremfällen ein. Kein Wunder also: Kommerzielle Benimmschulen für Wirtschafts-Nachwuchs gibt es zuhauf. Für einen angehenden Manager ist es wichtig, jenen Umgang mit Messer, Gabel und Rotweinglas zu beherrschen, den seine Top-Vorgesetzten pflegen. Von ähnlichen Angeboten für Politiker ist dagegen nichts bekannt. Natürlich werden sie ebenfalls von ihresgleichen auf Wahllisten und Posten gesetzt. Aber der Wähler hat bei einer stattlichen Zahl der Personalentscheidungen das letzte Wort, an der Urne nämlich. Politiker sollten sich deshalb nicht anders darstellen, als die, die ihn in Mehrheit wählen und von durchschnittlichem Habitus sind.


An dieser grundsätzlichen Einschätzung ändert auch der berechtigte Hinweis nichts, dass man den Wählern an der Urne durchaus mehr Freiheit bei der Wahl der Kandidaten lassen könnte – ohne die unerlässliche Rolle der Parteien übermäßig zu beschneiden. Bei bayerischen Landtagswahlen etwa kann der Wähler mit seiner Zweitstimme entweder den Listenvorschlag „seiner“ Partei in genau der Kandidaten-Reihung übernehmen, wie sie auf dem Stimmzettel vorliegt. Oder er kann mit seiner Zweitstimme gezielt einen Kandidaten wählen, ihn auch von ganz hinten auf der Liste in den Landtag zu hieven versuchen. Die Bayern machen eifrig Gebrauch davon: Bei der Landtagswahl 2008 zogen beispielsweise im Bezirk Oberbayern für die CSU letztlich elf Politiker in den neuen Landtag ein, die gemessen an ihrem ursprünglichen Listenplatz und dem eingetretenen Zweitstimmen-Ergebnis der CSU „eigentlich“ draußen geblieben wären. Sogar der Kandidat vom letzten Listenplatz 45 schaffte es mit „seinen“ Stimmen auf Platz 14 und damit klar auf einen Landtagssitz. Das Verfahren begünstigt tendenziell bürgernahe Kandidaten, die sich im Wahlkampf nicht nur der Bezirksdelegierten-Konferenz bei der Listenaufstellung bekannt machen, sondern auch beim Bürger.


Reformbedarf gibt es punktuell also. Doch wer ganz generell über die „Politikerkaste“ schwadroniert, stellt sich quer zu den banalsten Weisheiten des Alltags. Zum Beispiel dieser, die für angehende Politiker gilt wie für ebensolche Chemiker, Polizisten, Lehrer oder Steuerberater: Wer beizeiten und planvoll einen bestimmten Beruf anstrebt, erreicht ihn mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, als einer, der die ersten zehn Jahre irgendetwas anderes oder gar nichts versucht hätte. Anders gesagt: Bestimmte Karrieremuster führen häufiger zum Ziel, ein Spitzenpolitiker zu werden, als andere. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich das Politikergewerbe professionalisiert, es entwickeln sich typische Karrierewege, Erfolgs- und Verhaltensmuster – warum auch nicht? Verkrachte Taxifahrer werden nun einmal seltener Minister (obwohl es schon vorgekommen ist) als Männer und Frauen, die früh in diesen Beruf eingestiegen sind. „Ochsentour“ wird der meist mühevolle Aufstieg genannt, tatsächlich sind es fast ausschließlich die Parteien, die den Politikernachwuchs rekrutieren und ausbilden. Aber wer denn sonst? Den Parteien ein mafia-artiges Monopol auf die Nachwuchsbeschaffung vorzuhalten (wie der Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim) ist in etwa so plausibel wie den deutschen Handwerksbetrieben anzulasten, sie hätten sich die Lehrlingsausbildung unter den Nagel gerissen. Und nichts unterscheidet die „Ochsentour“ eines Politikers qualitativ vom Karriereklettern eines Managers auf den verschiedenen Sprossen der firmeninternen Hierarchie. Deshalb bleibt es ein Rätsel, warum Menschen, die relativ früh im Leben die Politik zu ihrem Beruf machen, „Berufspolitiker“ geschimpft werden, aber niemand von „Berufsjuristen“ oder „Berufschirurgen“ spricht.


Kurzum: Politik ist keine abgeschottete Kaste, sondern ein echter Aufsteiger-Beruf. Wer diese (relative) Offenheit genutzt hat, zieht den besonderen Neid jener auf sich, die sie nicht genutzt haben – aber nicht darauf gestoßen werden wollen. Die Durchschnittsdeutschen mögen nicht gern von Leuten regiert werden, die keine besseren Startchancen hatten als sie selbst, aber so viel mehr aus ihnen zu machen wussten. Der Historiker Paul Nolte sagt: Es hat „mit der Einsicht in das eigene Versagen zu tun, von ganz normalen Menschen regiert zu werden, die gestern noch der Handwerker-Sohn oder die Pfarrerstochter aus der Nachbargemeinde waren“.


Zweitens: „Der Bundestag ist mal voller und mal leerer. Aber immer voller Lehrer“, heißt ein schier unsterblicher Satz, der gleichwohl leicht zu widerlegender Unfug ist. Auch das „Beamten-Parlament“ existiert nicht, zumindest nicht mit den Folgen, die unterstellt werden. Ein paar Zahlen genügen, das zu belegen. Im 2005 gewählten Bundestag sind exakt 122 so genannte „Grundberufe“ vertreten. Das heißt, die (anfangs) 614 Abgeordneten sind in 122 verschiedenen Berufen ausgebildet. Die Gruppe der Juristen ist mit Abstand die größte (143 von 614 Abgeordneten). Auf den Plätzen folgen Gymnasiallehrer (34), Politologen (28), Diplom-Volkswirte (26) und Ingenieure (20). Über Qualität und Wesen des Parlaments sagt das erst einmal rein gar nichts. Wahrscheinlich wichtiger ist da die Frauenquote: Der Bundestag wird immer weiblicher. Im Jahr 1949 waren nur 6,8 Prozent der Parlamentarier Frauen, 2005 schon 32 Prozent. Aber am spannendsten ist folgende Zahl: Vier von zehn der Bundestagsabgeordneten, Tendenz steigend, saßen zuvor in einem Landtag oder einer anderen Volksvertretung. Mehr als 55 Prozent besitzen einen so genannten „legislativen oder exekutiven Hintergrund“. Vulgo: Sie verstehen was vom Geschäft; der Politiker-Stand professionalisiert sich. Ein Grund zum Jammern?

Soll das Parlament getreues Abbild des Volkes sein?

Ebenso wenig stichhaltig ist die Klage, im Parlament säßen nur Beamte oder Lehrer. Tatsächlich beträgt die Lehrerquote nur 12,5 Prozent, aber die Quote der bei Bund, Länder oder Kommunen Beschäftigten ist inzwischen auf 42 Prozent angestiegen. Allein: Ist das auch relevant? Von den 15 Bundestagsabgeordneten, deren Name mit A beginnt, waren oder sind eine ganze Reihe bei öffentlichen Arbeitgebern beschäftigt, bevor sie in den Bundestag eintraten. Der Diplomjurist Peter Albach (CDU/CSU) zum Beispiel ist Bürgermeister der Stadt Weißensee. Lale Akgün (SPD), Diplompsychologin, war zuletzt Leiterin des Landeszentrums für Zuwanderung in Solingen; Volkshochschullehrer Rainer Arnold (SPD) Fachbereichsleiter EDV an der Volkshochschule Stuttgart; und Karl Addicks (FDP), Arzt, leitete zuletzt ein Entwicklungshilfeprojekt der GTZ in Marrakesch/Marokko. Eine uniforme, gleichgeschaltete Gruppe wird man sie beim bösesten Willen nicht nennen können. Sie bringen die verschiedensten Hintergründe und Erfahrungen in den Bundestag mit. Das kann man nicht ohne Weiteres für weniger wertvoll erachten als die Anwesenheit eines Unternehmers oder Gewerkschaftssekretärs.


Aber nüchterne Zahlen haben es leider schwer gegen jenes seltsame Sehnen, das sich auf Volksvertretungen in aller Welt projiziert: Dass sie das Volk nicht nur vertreten, sondern auch sein getreues Abbild sein mögen. Sozial, soziologisch und sonst wie. Nur: Kaum jemand redet darüber, welchen Preis das hätte. Im 2002 gewählten Bundestag hatten zum Beispiel 81 Prozent der Abgeordneten Abitur oder Fachabitur. In Deutschland insgesamt sind es aber derzeit nur knapp 40 Prozent eines Jahrganges, die Abitur machen. Soll also die Hälfte der Abi-Abgeordneten das Parlament verlassen? Gut 70 Prozent der Abgeordneten besaßen zudem einen Hochschulabschluss; mehr als dreimal so viel wie der Rest der Bürger. Im Vergleich zum Volk ist unter den Volksvertretern die Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen um ein Mehrfaches größer, die der unter 29-Jährigen und der über 70-Jährigen drastisch kleiner. Wäre es andersherum automatisch besser?

Warum Seiteneinsteiger so häufig scheitern

Die Politikwissenschaft ist sich deshalb auch einig, dass es eine so genannte „sozialstatistische“ Spiegelbildlichkeit in frei gewählten Parlamenten nicht gibt. Allein in Diktaturen, die sich mit Pseudo-Parlamenten schmücken, ist ein genaues Abbild der Bevölkerung (theoretisch) denk- beziehungsweise machbar: Der große Chef sucht die Abgeordneten persönlich aus, und wenn er denn mag, nach „sozialstatistischen“ Kriterien. Trotzdem: Zu stark der (Irr-)Glaube, den Interessen einer sehr großen Gruppe sei am besten gedient, wenn sie von einer maßstabsgetreu verkleinerten Gruppe wahrgenommen werden. Das freilich ist so abwegig wie die Annahme, eine Bundesliga-Mannschaft könne die Herzen ihrer Fans nur erobern, wenn die Spieler allesamt aus der heimischen Region stammen – und deren Eigenarten reproduzieren. Die Spieler des FC Bayern ziehen aber nur einmal im Jahr fürs Foto kurze Lederhosen an. Und holen hernach fast immer die Meisterschale.


Drittens: Sich als Antipolitiker zu gebärden, ist ein probates Mittel, ein bedeutender Politiker zu werden. Das gilt für Deutschland, aber ebenso für die Vereinigten Staaten, wo (fast) jeder mit Anfangsaufmerksamkeit rechnen darf, der verspricht, es „denen in Washington“ einmal so richtig zu zeigen. Barack Obama bringt es darin zur wahren Meisterschaft: Kaum einer geht so professionell unprofessionell an die Sache wie er. Und kann nach gewonnener Wahl sogar eine Truppe geriebener Washington-Insider ins Kabinett und seine Stäbe berufen, ohne dafür gescholten zu werden.


Zugegeben, es gibt durchaus Quereinsteiger, aus denen erfolgreiche Politiker wurden. Bundespräsident Horst Köhler zum Beispiel pflegt sein „unbequemes“ Nicht-Politiker-Image, garniert es (wie sein Vor-Vor-Vorgänger Richard von Weizsäcker) mitunter mit ziemlich wohlfeilen Attacken auf „die Politik“ und hat daraus eine sehr politische Interpretation seines Amtes kondensiert. Dem Publikum gefällt es; Köhler kam schon früh in seiner Amtszeit auf traumhaft hohe Popularitätswerte. Andere erfolgreiche Quereinsteiger kamen aus der Wirtschaft: Richard von Weizsäcker war Manager bei Boehringer, bevor er in die Politik ging; Kurt Biedenkopf bei Henkel; Ernst Albrecht bei Bahlsen. Günter Gaus war Journalist und Walter Riester bei der IG Metall.


Aber es gibt wahrscheinlich viele, viele mehr, die scheiterten. Zuletzt gaben der Wissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker und der Wissenschaftsmanager Konrad Schily auf. Spiegel-Gründer Rudolf Augstein hielt es keine Legislaturperiode im Bundestag aus. Der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht Rupert Scholz blieb nur rund ein Jahr Verteidigungsminister unter Helmut Kohl. Schöngeist Christoph Stölzl war schnell zerrieben in der Berliner CDU, die er in ihrer tiefsten Depression 2002 übernahm. Professor Paul Kirchhoff hatte nach den wenigen Wochen im Wahlkampfteam von Angela Merkel 2005 vollauf genug von der Politik. Sein Fazit: „Nie wieder.“ Und wer erinnert sich noch an Jost Stollmann, den Prototypen des modernen Polit-Quereinsteigers: jung, dynamisch, braun gebrannt; ein erfolgreicher Selfmade-Unternehmer, Chef von CompuNet, Wirtschaftsminister in spe? Im Wahlkampf 1998 jauchzte das Publikum, als Stollmann freimütig-kokett erklärte, dass er das SPD-Wahlprogramm nie gelesen hatte. „Stollmann ist die personifizierte Nach-Kohl-Ära“, schrieb die Zeit, „Missionar der Mitte“ nannte ihn Die Woche. Aber Stollmanns politischer Sachverstand und Instinkt reichten bei weitem nicht aus, sich etwa gegen den raumgreifenden Oskar Lafontaine zu behaupten. Immerhin hatte Stollmann Rückgrat genug, dem Spiel schließlich selbst ein Ende zu machen.

Wollen wir von „unverbrauchten Quereinsteigern“ operiert werden?

Dennoch: Die Bürger bleiben felsenfest davon überzeugt, Politiker wären umso weniger wert, je länger sie im Geschäft sind. Dass es die Politik selbst sei, die aus anfangs guten Leuten schnell schlechte mache. Und dass deshalb frisch und unbeleckt logischerweise bedeutet: besser und tatkräftiger. Wollen wir das wirklich glauben? Nein, wollen wir nicht. Zumindest dann nicht, wenn es um unser privates Wohl und Wehe geht. Denn wem würden wir zum Beispiel unsere Altersversorgung anvertrauen? Einem Bankberater, der sich mit den Worten vorstellt: „Guten Tag, ich bin neu hier. Bis vor vier Wochen habe ich bei der Bundeswehr Panzer gefahren.“? Was denken wir, wenn ein Krankenhaus sein Herzchirurgie-Team als „unverbrauchte Quereinsteiger“ anpreist? Anders herum: Die Gleichung „Erfahrung schafft Vertrauen“ gilt überall. Nur nicht für Politiker. Dabei ist Erfahrung, auch „Praxis“ genannt, zentrale Bedingung für gute Politik, die ja nur dann gut sein kann, wenn sie verwirklicht wird (sonst bleibt sie lediglich eine gute Idee). Eine gute Idee politisch durchzusetzen ist aber mindestens so anspruchsvoll, wie sie zu haben. Es ist ein Geschäft, das man lernen muss: Es geht um Mehrheiten, Timing und kontrollierte Kommunikation, um Lufthoheit, viel Geduld und noch mehr Kalkül – und zwar in so unterschiedlichen Foren wie einem Bezirksparteirat, einer Fernsehtalkshow oder einem Bürgerfest. Es geht immer wieder aufs Neue um die Verknüpfung von aktuell relevanten Informationen, die aus den verschiedensten Bereichen stammen und deren Absender die unterschiedlichsten Absichten damit verbinden. Politik zu verstehen und zu „machen“ ist ein hochkomplexer Vorgang, der sich mal im Hinterzimmer, mal auf dem Marktplatz zuträgt.


Das alles beherrscht womöglich auch der eine oder andere Quereinsteiger. Aber selbstverständlich ist es nicht; und schon gar nicht, wenn der Kandidat in ganz anderen Entscheidungsverfahren und Hierarchiesystemen groß geworden ist, etwa in der Wirtschaft oder einer Universität. Doch das Publikum verschließt Augen und Ohren. Die Sehnsucht nach Quereinsteigern, die ja nichts anderes ist als die Verachtung des etablierten Personals, färbt längst den allgemeinen Sprachgebrauch: „Erfahren“ meint bei Politikern „kennt alle schmutzigen Tricks“ oder: „hat ein Dutzend Leichen im Keller“. Für den Rest der Menschheit dagegen meint „erfahren“ so viel wie „besonnen“ oder „lebensklug“. Ein „erfahrener Manager“ steht im Zenit seiner Kunst und Karriere. Ein Quereinsteiger wiederum, der in der Politik so positive Assoziationen weckt wie „frischer Wind“ und „neue Ideen“, müsste sich in einem Konzern gegen anfängliche Skepsis behaupten, sich erst einmal „beweisen“, bevor er ernst genommen wird.

Was hindert die Politiker, offensiv mit Vorwürfen umzugehen?

Überhaupt sind viele der allergrößten Denkmäler der deutschen Nachkriegspolitik nicht anders als Berufspolitiker zu nennen. Konrad Adenauer war schon in der Weimarer Republik Oberbürgermeister von Köln. Willy Brandt war nach seinen Jahren als Emigrant und Widerstandskämpfer kurze Zeit Journalist, dann Abgeordneter, Berliner Bürgermeister, Parteivorsitzender, Minister, schließlich Kanzler – und über seinen Sturz hinaus noch mehr als ein Jahrzehnt Chef der ältesten deutschen Partei. Auch Helmut Schmidt war – nach vier Jahren als Beamter bei der Senatsbehörde – immer nur Politiker, bis er das Amt des Kanzlers verlor. Helmut Kohl (CDU-Mitgliedsnummer 246) hatte anfangs zwei Jahre für die chemische Industrie gearbeitet. Dann war er jüngster Landtagsabgeordneter in Rheinland-Pfalz, und sein weiteres Leben und Berufsleben war die Politik, nicht zum Schaden des Landes. Schließlich Franz Josef Strauß: Er war nie in seinem erlernten Beruf als Gymnasiallehrer tätig, sondern zeitlebens CSU-Mann.


Fazit: Wer Berufspolitiker wegen des Berufsmäßigen ihres Daseins verachtet und deshalb möglichst viele Quereinsteiger will, der sollte den Gedanken endlich einmal auch zu Ende denken – und zum einzig verlässlichen Mittel völliger Durchmischung greifen, dem Los. Die Griechen im antiken Athen taten es: Sie ließen, wie von Aristoteles in seiner Politik angeregt, regelmäßig das Los entscheiden, wer sie regieren sollte. Aber das will heute irgendwie auch keiner mehr.


Was lehrt das alles nun? Zum Beispiel, dass es wesentlich leichter ist als gedacht, Politiker ganz allgemein zu verteidigen. Keinesfalls jeden ihrer Beschlüsse oder Pläne. Wohl aber ihren Ruf als Gruppe, als Berufsgruppe. Und weil es, wie gezeigt, so einfach ist, bleibt auf die Frage, warum es kaum einer tut, nur die Antwort: Weil es kaum einer will. Dem Publikum mag man das nachsehen, den Politikern ist es anzukreiden. Was hindert sie, offensiver mit Vorwürfen umzugehen? Welche Rücksichtnahme versiegelt ihnen die Lippen, wenn sie Vorurteilen und jenen, die sie äußern, entgegentreten könnten? Sich taub zu stellen ist nie eine Option, wenn das Ansehen des eigenen Standes sich dem überführter Kinderschänder stetig nähert. Aber es ist erst recht keine Option, wenn eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft, die parlamentarische Demokratie und die sie tragenden Eliten in Deutschland erschüttert – oder gar schon verzehrt. Es gilt das Münteferingsche Gesetz: „Die Verdrossenen sind an ihrer Verdrossenheit selbst mehr schuld als die Politik.“ Darüber wird zu reden sein. Am besten im Super-Wahljahr.

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