Die Renaissance einer großen Idee

Deutsche Chefredaktionen geraten über die Steuerpläne von SPD und Grünen schier aus dem Häuschen. Doch die beiden Parteien sind auf dem richtigen Weg. Denn das Wohlbefinden der Gesellschaft hängt von intakten öffentlichen Gütern ab

Kein Empörungsspielraum blieb ungenutzt – „Raubzug mit Ansage“ (Der Spiegel), „Totaler Steuerterror“ (mmnews.de), „Jobkiller“ (DIHK) – um das vermeintlich Unfassbare zu beschreiben: Die Grünen wollen Steuern erhöhen (die SPD auch, fiel aber nicht so auf). Der Spitzensteuersatz ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von rund 80.000 Euro soll auf 49 Prozent steigen (nur zur Erinnerung: Das Bruttojahreseinkommen liegt deutlich darüber, denn versteuert wird ja erst abzüglich aller Freibeträge und Abzugsmöglichkeiten!). Geplant ist zudem eine Vermögensabgabe von 1,5 Prozent mit hohen Freibeträgen und der Einstieg in den Ausstieg aus dem derzeitigen Ehegattensplitting.

Nicht auszudenken die Reaktionen, hätte jemand angekündigt, auf das steuerliche Niveau der Regierung Kohl zurückkehren zu wollen. Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer: 53 Prozent, Körperschaftssteuersatz: 45 Prozent, dazu eine Vermögenssteuer, die Gewerbeertragssteuer, die Besteuerung der Kapitalerträge mit dem Einkommenssteuersatz, und so weiter. Wahrscheinlich wären Chefredakteure quer durch die Republik kollabiert. Denn während die grünen Vorschläge allein im Bereich der Einkommenssteuer gerade mal 4,5 Milliarden Euro zusätzlich in die öffentlichen Kassen bringen (und im Übrigen nur 14 Prozent der Steuerpflichtigen überhaupt von den eher geringfügigen Erhöhungen betroffen wären), hätte eine Rückkehr auf das Kohlsche Einkommenssteuerniveau – sogar noch bereinigt um die kalte Progression – laut IMK Steuerschätzung Mehreinnahmen von jährlich 28,8 Milliarden Euro zur Folge.

Warum Steuern zahlen zufriedener macht

So verwundert es kaum, dass die aufgeregten Schlagzeilen und die Reaktionen aus „der Wirtschaft“ so gar nicht zu den präsentierten Zahlen und Umfrageergebnissen in denselben Artikeln passen wollten. Da fanden es nämlich selbst im Spiegel-Empörungsartikel (Heft 19/2013) immerhin 56 Prozent aller Befragten ganz in Ordnung, wenn Besserverdiener ab 60.000 Euro Jahreseinkommen stärker besteuert werden und der Spitzensteuersatz angehoben würde. Und die Frankfurter Allgemeine berichtete am 10. Mai etwas weiter hinten im Blatt über die Studie Happy Taxpayers? Income Taxation and Well-Being, die 2010 beim Institute for the Study of Labor (IZA) erschien und deren Ergebnis die FAZ-Redakteure – und zugeben auch mich – überraschte: Unter Menschen mit identischen Nettoeinkommen waren im Zeitverlauf diejenigen zufriedener, die höhere Steuern und Abgaben zahlten. „Demnach macht Steuerzahlen bei identischem Lebensstandard glücklich“, schlussfolgerte die FAZ. Die Autoren der Studie bieten mehrere mögliche Erklärungen für das „kontraintuitive Ergebnis“ an: So könnten sich höhere Steuern positiv auf den Zustand öffentlicher Güter wie Schulen und Straßen auswirken, und dieser gute Zustand würde das Wohlbefinden der Steuerzahler steigern. Außerdem hätten viele Menschen eine Vorliebe für Umverteilung und fühlten sich besser, wenn sie ehrlich Steuern zahlten. Die Studie bietet also durchaus Anlass zur Hoffnung – auch wenn sich die FAZ sofort darum bemühte, jedwede Interpretation der Studie für unzulässig zu erklären, die daraus Steuererhöhungen „à la Grüne“ ableitet.

Der Zusammenhang zwischen „dem Staat und seinen Aufgaben“ und „den Steuern“ ist also – anders als es in den vergangenen Jahren oft den Anschein hatte – doch noch nicht ganz aus den Köpfen der Menschen gewichen. Steuern zu erheben oder zu senken ist kein bloßer Selbstzweck, sondern bestimmt die Form des (Sozial-)Staates. Nur waren die Diskussionen in den vergangenen Jahren von Steuersenkungsforderungen geprägt, nach dem Motto „der Staat vertreibt seine Leistungsträger“, „Standortattraktivität gefährdet“ oder „Steuern runter macht Deutschland munter“. Diese Debatte beförderte eine Haltung, die Staat und Steuern voneinander entkoppelte. Steuersenkungen wurden nicht im Zusammenhang mit Leistungskürzungen oder Investitionsstau, also (Sozial-)Staatsabbau diskutiert, sondern allein mit Blick auf den internationalen Standortwettbewerb um mobiles Kapital und mobile Unternehmen. Leider haben Rot und Grün in den späten neunziger Jahren an der Erzählung, Deutschland müsse Steuern senken, wenn es wettbewerbsfähig sein wolle, heftig mit gestrickt. Steffen Ganghoff arbeitete in seinem 2004 erschienenen Buch Wer regiert in der Steuerpolitik? heraus, wie das Ziel der „Wettbewerbsfähigkeit“ des deutschen Einkommenssteuersystems im Zeitverlauf immer bedeutender wurde und schließlich auch die Steuerreform 2000 der rot-grünen Bundesregierung dominierte.

Tatsächlich gab es zu dieser Zeit keine parlamentarische Kraft im Deutschen Bundestag, die in der öffentlichen Diskussion einen anderen Akzent gesetzt hätte. Nur die Form der Steuersenkungen war zunächst umstritten. CDU und FPD und in wachsendem Maße auch die Grünen orientierten ihre Vorstellungen am Modell einer Flat Tax – also der gleichmäßigen Besteuerung aller Einkommensarten auf insgesamt abgesenktem Niveau. Die SPD schlug hingegen eine differenzierte Besteuerung vor, die den Vorstellungen einer so genannten dualen Besteuerung folgte, wie es sie in den nordischen Ländern gibt. So sollte die Progression der persönlichen Einkommenssteuer beibehalten werden, mobiles Kapital und Unternehmenseinkommen aber mit Blick auf den Steuerwettbewerb auf niedrigerem Niveau besteuert werden. Es kam dann, wie es die Grünen wollten.

Laut Steffen Ganghoff stellten „Hans Eichel und andere Regierungsvertreter die Steuerreform anschließend als die einzig richtige Politik dar, die Wachstum schafft und trotz starker Absenkung des Spitzensteuersatzes gerecht ist. Und natürlich werden viele Wähler daraus schließen, dass es zu erheblichen Nettoentlastungen und Tarifsenkungen in der Einkommenssteuer keine Alternative gibt.“ Der Tenor und die Anlage der Steuerreform aus dem Jahr 2000 prägen die steuerpolitischen Prämissen bis heute: die Orientierung am internationalen Steuerwettbewerb (anstatt an Daseinsvorsorge und Verteilungsfragen) und das deutliche Abflachen der Steuerprogression, das heißt die deutliche Reduzierung der umverteilenden Wirkung im Steuersystem.

Der modernste Gedanke der Steuergeschichte

Insofern stimmt auch die zweite Interpretation hoffnungsfroh, wenn die Autoren der in der FAZ vorgestellten Studie ihre Ergebnisse damit begründen, dass die Menschen eine Vorliebe für Umverteilung hätten und sie deshalb vielleicht glücklicher seien, wenn sie mehr Steuern zahlten. Somit könnte der Gedanke der Umverteilung über das Steuersystem – als modernstem und fortschrittlichstem Gedanken der Steuergeschichte – eine erneute Stärkung erfahren.

Da die SPD in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag feiert, sei auch daran erinnert, dass die Steuerprogression zu den programmatischen Erbstücken gehört, die nach wie vor modern und fortschrittlich sind. Schon Ferdinand Lassalle formulierte im Anschluss an Jean Baptiste Say, dem „Chef der französischen Bourgois-Oekonomie“, dass jede Steuer ungerecht sei, die den Einzelnen nicht im Verhältnis zu seinen Einkünften treffe. Und gerade die indirekten Steuern träfen jeden umso stärker, je ärmer er sei. Durch die indirekte Steuer sichere sich das Kapital die Steuerfreiheit, die früher in der Adelszeit beim adligen Grundbesitz anzutreffen gewesen sei. Lassalle forderte zentral die Progression der Einkommensbesteuerung. Während sich das Gothaer Programm von 1875 auf eine einzige progressive Einkommenssteuer in Staat und Gemeinde bezog, bekannte sich die Partei im späteren Erfurter Programm zu einem steuerlichen Dreigestirn aus Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer.

Für die bürgerlichen Sozialreformer, die im Windschatten und als Reaktion auf die erstarkende Arbeiterbewegung eine „sozialpolitische Besinnung“ forderten, galten Sozialpolitik und Steuerreform als unzertrennlich. Der Philosoph Constantin Frantz schrieb 1881, die Zeit sollte vorüber sein, in der das Steuerwesen „nur unter dem fiskalischen Gesichtspunkt gehandhabt“ wurde, in der die Finanz zufrieden war, wenn die erforderlichen Steuern eingingen und nicht weiter fragte, „ob die Gesellschaft in Millionäre und Proletarier zerfällt“. Für die praktische Steuerpolitik bedeutete dies die Forderung nach Vermögens- und Kapitalsteuern, die nicht aus dem Einkommen geleistet werden und eine Abflachung der Wohlstandspyramide bewirken sollten. Denn wer ein zeitlich befristetes Einkommen beziehe, so der Ökonom Adolph Wagner 1889, müsse für sein Alter oder seine Kinder etwas zurücklegen – während derjenige, dessen Einkommen aus vererblichem Vermögen stammt, sein gesamtes Einkommen verbrauchen könne, ohne seine oder die Zukunft seiner Kinder zu gefährden. Damit haben die Sozialreformer bestechend plausibel begründet, dass Einkommen aus Vermögen und Erträgen im Ergebnis höher besteuert werden müsste als Arbeitseinkommen. Diese Worte heute aus vergleichbaren Kreisen? Unvorstellbar!

Es war die Große Koalition, die 2009 die Abgeltungssteuer in Höhe von pauschal 25 Prozent auf Kapitalerträge einführte. Menschen mit hohen Kapitaleinkommen zahlen auf ihre Kapitalerträge also weniger Steuern als Menschen, die ihre Einkünfte aus Arbeitseinkommen beziehen. Diesmal kam es so, wie die SPD es wollte; die CDU hatte damit aber kein Problem. Die SPD griff eigene Vorstellungen auf, die ihren Plänen zur Steuerreform 2000 entsprachen. Der einzige – aber relevante – Unterschied: Der Status quo war ein anderer als 1998, nämlich die bereits kräftig gesenkte und abgeflachte Steuer nach dem Jahr 2000. Auch das Auslaufen der Vermögenssteuer fiel in die Zeit der Großen Koalition. Insofern knüpfen die Wirtschaftsverbände mit ihrer derzeitigen Empörungsmaschinerie an Argumentationsfiguren an, die bis vor kurzem Bestandteil der Diskussionen bei SPD und Grünen waren.

Dennoch haben sich beide Parteien mit guten Gründen – und nicht ganz unbeeindruckt von Diskussionen in befreundeten Verbänden und bei der politischen Konkurrenz – neu positioniert: Die Grünen wollen die Abgeltungssteuer wieder abschaffen, die SPD schlägt (zunächst?) deren Erhöhung vor. Vermögen soll als Abgabe oder als Steuer wieder zur Finanzierung herangezogen werden. Doch auch die defensiven Ausgestaltungsvorschläge mit sehr hohen Freibeträgen und weitestgehender Freistellung von Unternehmen bringt Wirtschaftsverbände und Chefredakteure auf Zinne. Aufregung und Argumente sind dabei dieselben wie schon seit Jahrzehnten und entsprechend unabhängig vom konkreten Gegenstand: Ausländische Investitionen würden verhindert, der Mittelstand blute aus. Die Erhöhung der Einkommenssteuer zwinge im Übrigen das Handwerk geradezu, sich als Kapitalgesellschaft statt als Personengesellschaft zu organisieren, so jüngst in der FAZ Holger Schwannecke, der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Eine interessante Vorstellung: mein Tischler, meine Aktiengesellschaft. Aber jenseits der Ironie möchte man Schwannecke entgegnen: Dann erhöhen wir – um das vermeintliche Problem der „Umfirmierung“ zu beheben – eben auch die Körperschaftssteuer!

Weshalb Rot-Grün sich trauen sollte

Nicht zuletzt die erwähnte IZA-Studie gibt Anlass zu der Hoffnung, dass SPD und Grüne dem gegenwärtigen Druck der veröffentlichten Meinung nicht nachgeben. Beide Parteien haben argumentativ einiges gutzumachen, denn bis heute führen alleine die Steuersenkungen der rot-grünen Regierungsjahre zu jährlichen Steuerausfällen von bis zu 50 Milliarden Euro. Immerhin jedoch haben beide Parteien das Thema Steuermehreinnahmen durch strukturelle Steuerreformen angesichts klammer Haushalte überhaupt wieder entdeckt, auch wenn die gemeinsame Reaktion auf die veröffentlichte Aufregung noch vergleichsweise verhalten ausfällt – ganz so, als traute man sich selbst noch nicht so recht. Und noch immer fällt es anscheinend schwer, die Notwendigkeit von Steuererhöhungen zu postulieren, ohne ihre Zweckgebundenheit „für Bildung“ oder „zur Rückführung der Verschuldung“ zu betonen.

Dabei war doch der „Durchbruch des Gedankens der Steuerpflicht ein ungeheurer, sittlicher und geistiger Fortschritt“, wie der Nationalökonom Gustav Schmoller im Jahr 1877 schwärmte: „Welche Abstraktion, einem unpersönlichen Wesen ohne jede genaue Abrechnung im einzelnen einen freiwilligen Anteil an allen Einkommen der Staatsbürger zu gönnen! Welch sittliches Vertrauen, welche komplizierte Organisation setzt dies voraus. Kein Wunder, dass die Völker jahrhundertelang gegen diesen Gedanken sich gesträubt, dass sie ihn jetzt noch entfernt nicht ganz begriffen haben und daher so vielfach noch mit den finanziellen Mitteln und Formen älterer Zeiten wirtschaften müssen.“

Auch wenn wir die Emphase Schmollers heute vielleicht etwas befremdlich finden mögen – der Gedanke Geld abzugeben, ohne sofort und unmittelbar die Gegenleistung greifen zu können, war ein in mancherlei Auseinandersetzungen erstrittener historischer Fortschritt. Auch dieser ist es wert, neu entdeckt zu werden.

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