Die Schlandkette war nicht entscheidend
Die Bundestagswahl im September vergangenen Jahres gehörte in eine lange Reihe von Wahlen, bei denen „das Internet“ als Kommunikationskanal zum ersten Mal wahlentscheidend hätte sein sollen – es am Ende aber doch wieder nicht war, ebenso wie bei den jüngsten Landtagswahlen in den neuen Bundesländern. In gewisser Weise gilt hier weiterhin der Satz vom alten Sepp Herberger: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Aber warum eigentlich? Wir glauben, dass dafür vor allem zwei Gründe ausschlaggebend sind: Das Internet hebelt erstens gewohnte Praktiken des Wahlkämpfens nicht von heute auf morgen aus. Und zweitens fehlt uns die Sprache, um dem Phänomen wirklich gerecht zu werden.
Nur zehn Prozent informieren sich im Internet
Keine Frage: Bei allen Wahlen der jüngeren Vergangenheit waren und sind mehr Abgeordnete und Kandidaten denn je im Netz vertreten – viele von ihnen sogar mehrfach, mit eigener Website, eigenem Facebook-Profil und eigenem Twitter-Account. Auch die Medien haben mehr denn je versucht, das Internet in ihre Berichterstattung einzubeziehen. Das Auszählen der „Likes“ von Facebook-Fanseiten oder von Followern auf Twitter gehört längst zum Standard heutiger Vorwahlberichterstattung. Auch in TV-Sendungen werden regelmäßig Tweets eingestreut. Außerdem stehen den Bürgern heute vor dem Gang zur Wahlurne oftmals Vergleichsplattformen zur Verfügung, die es früher nicht gab. Abgeordnetenwatch.de und der Wahl-O-Mat sind beste Beispiele dafür.
Aber was davon kommt bei den Menschen an? Auskunft geben ein paar Zahlen aus der German Longitudinal Election Study 2013 (GLES). Darin wurden die Bürger nach der Bundestagswahl gefragt, welche Informationsquellen ihnen persönlich geholfen haben, ihre Wahlentscheidung zu treffen: 47 Prozent der Befragten fanden Nachrichtensendungen im Fernsehen hilfreich, 28 Prozent Berichte in Zeitungen oder Zeitschriften, 13 Prozent Gespräche mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Und 3 Prozent gaben die Wahlwerbung der Parteien als Informationsquelle an. Mit Blick auf neue Medien und den vielerorts erwarteten Medienwandel auch in Wahlkämpfen ist Vorsicht geboten: Nur 10 Prozent der Befragten nannten Informationsangebote im Internet.
Nicht alle machen jeden Trend gleich mit
Ob das Internetglas angesichts dieser Zahl noch immer erschreckend leer oder doch schon bemerkenswert voll ist, möge jeder für sich selbst entscheiden. Mit Blick auf den häufig postulierten Wandel empfiehlt sich aber ein Vergleich mit der Bundestagswahl 2009: Wie sah es vier Jahre zuvor aus? Seitdem hätte sich doch eine Menge geändert haben müssen, schließlich klingen vier Jahre im Internetzeitalter wie eine halbe Ewigkeit! Im Jahr 2009 lagen die entsprechenden Werte laut GLES bei 42 Prozent (Fernsehen), 30 Prozent (Zeitungen), 16 Prozent (Gespräche), 9 Prozent (Internet) und ebenfalls 3 Prozent (Wahlwerbung). Man muss also schon sehr genau hinschauen, um überhaupt Veränderungen zwischen den beiden Wahljahren zu erkennen.
Einen Wandel der Mediennutzung bei den Wählern lässt der angeführte Vergleich wahrlich nur schwer erkennen. Vielmehr scheint bei den allzu positiven Einschätzungen bezüglich der Nutzung des Netzes im politischen Kontext vergessen zu werden, dass nicht alle Bürger jeden neuen Trend sofort mitmachen und gleich jedes neue „Gadget“ kaufen. In der Sprache der Diffusionstheorie gesprochen können – nachvollziehbarerweise – nun mal nicht alle zu den Innovatoren gehören; es wird immer auch die „späte Mehrheit“ und die Nachzügler geben. Das gilt eben auch für das Internet und gerade für die sozialen Netzwerke. Beispielweise sind Twitternutzer „überdurchschnittlich häufig bei Jungen Wilden und zielstrebigen Trendsettern“ zu finden, wie Katrin Busemann auf Grundlage der Online-Studie 2013 von ARD und ZDF schreibt. Dieser Befund passt zu den oben vorgestellten Zahlen.
Nun mögen manche einwenden, alles sei nur eine Frage der Zeit. Ernüchternd ist allerdings ein Blick auf die jüngsten Landtagswahlen und die Europawahl. Im Vergleich dazu war bei der Bundestagswahl noch richtig was los „in diesem Internet“. Dagegen gab es rund um die Europawahl oder zu den drei Landtagswahlen der vergangenen Wochen wenig bis nichts im Internet zu sehen und zu lesen.
Aber wir gehen noch einen Schritt weiter, und das führt zu einem zweiten Punkt: Das Internet wird nie eine Wahl entscheiden. Denn was ist es schon, bezogen auf einen Wahlkampf, dieses „Internet“? Für eine Analyse der Informationsflüsse und ihrer Effekte in heutigen Wahlkämpfen ist das Internet eine völlig ungeeignete Kategorie. Solange wir aber in solchen Kategorien und Begriffen über das Phänomen sprechen, sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Beispiele gefällig? Ein (Facebook-)Freund empfiehlt Ihnen einen Beitrag in der Mediathek des ZDF aus der heute-show über einen Parteitag. Ist das Fernsehen? Immerhin stammt der Beitrag aus der ZDF heute-show. Ist das interpersonale Kommunikation? Immerhin empfiehlt Ihnen Ihr Freund diesen Beitrag. Ist das Parteikommunikation? Immerhin geht es um einen Parteitag der FDP. Oder ist es „das Internet“?
Es passt ins Bild, dass die Nachricht vom Steinbrückschen Stinkefinger im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 zuerst – und zwar von der Süddeutschen Zeitung selbst – via Twitter bekannt gemacht wurde, sich mit rasanter Geschwindigkeit in sozialen Netzwerken verbreitete, ehe der Finger am darauffolgenden Tag das Cover des Magazins schmückte. Für die Merkelsche „Schlandkette“ aus dem Fernsehduell gilt Analoges. War das noch Fernsehen? Oder schon Internet? Oder beides? Social TV etwa?
Internet ist Fernsehen ist Radio ist Zeitung
Wir wollen nicht falsch verstanden werden: Natürlich hat sich unsere Kommunikation aufgrund von Digitalisierung verändert, teilweise sogar dramatisch. Aber in Anbetracht der skizzierten Beispiele gewinnt man zuweilen den Eindruck, dass das Wunschdenken über unseren Umgang mit Medien die Realität (noch) deutlich überstrahlt. Oder ist das Problem schlichtweg unsere Sprache, die mit den aktuellen Entwicklungen nicht Schritt halten kann – ihnen vielleicht sogar im Weg steht? Wenn vom „Radio der Zukunft“ oder dem „Fernsehen der Zukunft“ die Rede ist, dann sind das doch auch hilflose Versuche, etablierte Ideen (wie Radio und Fernsehen) in die Zukunft zu retten. Und „das Internet“ ist dann eben das new kid on the block. Aber hilft uns das bei der Analyse weiter?
Manche Kollegen sprechen an dieser Stelle von „multipler Konvergenz“ – alles wächst zusammen. Internet ist Fernsehen ist Radio ist Zeitung. Aber wenn künftig alles Alles ist, dann wird es nicht zwingend leichter zu erkennen, was sich ändert (und was nicht). Ein Tagesschau-Beitrag wird ein Tagesschau-Beitrag bleiben, egal ob er über Satellit, Kabel, DVB-T oder Mediathek abgerufen wird. Ein Gespräch zwischen Freunden wird ein Gespräch zwischen Freunden bleiben, egal ob persönlich geführt, am Telefon, per WhatsApp oder Facebook-Chat. Und ein Flyer einer Partei wird ein Flyer bleiben, egal ob er am Wahlkampfstand verteilt, bei Facebook geliked oder von der Homepage des Spitzenkandidaten heruntergeladen wird.
Entscheidend bleiben die Unterschiede zwischen diesen Kommunikationsformen: Massenkommunikation versus interpersonale Kommunikation, oder auch Information versus Interaktion. Das sind alte Hüte, keine Frage. Aber wir stehen (noch immer) vor der Herausforderung, „das Internet“ analytisch so zu zerlegen, dass es kein Phänomen sui generis bleibt, sondern dass es in diese alten Überlegungen und Unterscheidungen passt, die auf den Kontext, die Art und auch die Qualität von Kommunikation abzielen. Dass sich Hybridformen herausbilden (etwa bloggende oder twitternde Bürger und Institutionen), unterstreicht nur die Notwendigkeit, die eigene Brille für die zugrundeliegenden Formen von Kommunikation und ihren jeweiligen Besonderheiten zu schärfen.
Fazit: Von „dem Internet“ oder „dem Onlinewahlkampf“ zu sprechen, hilft uns nicht wirklich weiter, um den sich vollziehenden Wandel zu erfassen – wenn er denn bald mal eintritt.