Die tiefe Sehnsucht nach dem nationalen Schutzraum
Mit der vollen Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen ist Anfang des Jahres eine Diskussion über „Sozialleistungstourismus“ hochgekocht. Unabhängig von den rechtlichen und administrativen Feinheiten dieses Problems deutet diese Debatte auf ein umfassendes Syndrom hin: einen grassierenden Wohlfahrtschauvinismus. Dieser Topos ist inzwischen wissenschaftlich gut untersucht, etwa in Bezug auf Träger, Antriebskräfte und Dynamiken des Wohlfahrtschauvinismus im europäischen Kontext. Der etwas sperrige Begriff steht für die ethnische oder nationalistische Interpretation des Zugangs zu und der Reichweite von sozialstaatlicher Solidarität. Sozialstaat ja, aber bitte nicht als einbeziehende Unternehmung, sondern als Schutzzaun um das nationale Wir. Wer nicht dazugehört, soll auch nicht profitieren. Dabei werden gern zwei Prinzipien vermengt: zum einen die Zugehörigkeit, zum anderen die Leistungsbereitschaft. Es ist ein Gemeinplatz, dass Steuer- oder Beitragszahler ungern zusehen, wie es sich andere auf ihre Kosten bequem machen. Sozialschmarotzertum soll es nicht geben. Je andersartiger und fremder diese vermeintlichen Trittbrettfahrer sind oder wirken, desto stärker sind die Vorbehalte.
Wer darf dazugehören? Und wer nicht?
Hinsichtlich der Inklusionsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung gibt es durchaus Abstufungen. Die extremste Variante ist die Ablehnung jeglicher sozialstaatlicher Leistungen für Zuwanderer, ganz unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer und Erwerbstätigkeit. Sie wird in Schweden von gerade einmal 1 Prozent der Bevölkerung unterstützt, in Österreich aber von 10 Prozent. Deutlich verbreiteter sind spezifische Assimilations- oder Leistungserwartungen an Migranten als Voraussetzung für die Aufnahme in den nationalen Wohlfahrtsstaat, etwa langjährige steuerliche Beiträge, soziale und kulturelle Anpassungsbereitschaft oder die Annahme der Staatsbürgerschaft. Immerhin 10 bis 30 Prozent der Bevölkerung in den westeuropäischen Ländern können sich aber auch mit einer Vollinklusion unmittelbar nach dem Beginn des Aufenthalts anfreunden. Klar ist: Das Meinungsbild ist stark geteilt.
Seit es den Sozialstaat gibt, wird über Mitnahmeeffekte und falsche Anreize diskutiert. Nun aber öffnet sich die Flanke für einen neuen Migrationsdiskurs. In vielen Ländern Europas verschiebt sich der soziale Konflikt, den der Sozialstaat mit seinen Institutionen bisher weitgehend befriedet hat. Statt um Oben und Unten im gesellschaftlichen Miteinander geht es verstärkt um Offenheit und Schließung, also um das Drinnen und Draußen. Wer darf dazugehören und unter welchen Bedingungen? Diese Konfliktachse ist erst durch forcierte Globalisierung und Europäisierung entstanden, als Reaktion auf Verunsicherung, Wettbewerb, Vermarktlichung, Liberalisierung, Erfahrungen der Entgrenzung und neuen „Diversitätsstress“. Wohlfahrtschauvinismus tritt vor allem bei den unteren, europafernen Schichten sowie bei älteren Menschen auf. Sie verbinden mit den globalen oder europäischen Dynamiken wenig Positives, sondern erfahren diese als Bedrohung und Verunsicherung. Daraus können unmittelbar ethnonationale oder protektionistische Schließungssehnsüchte folgen.
Wie die Populisten den Sozialstaat entdeckten
Dieses Einfallstor haben rechtspopulistische und nationalistische Parteien erkannt und erfolgreich genutzt. Noch in den achtziger Jahren konnten sie selten etwas mit dem Sozialstaat anfangen. Vielfach positionierten sie sich sogar anti-etatistisch, um sich von den staatstragenden Parteien abzugrenzen. Bis auf einige bemerkenswerte Ausnahmen sind sie nun sanfter geworden und haben sich auf die Seite der Sozialstaatsbefürworter geschlagen. Mit dem Linksschwenk haben die Rechtsparteien ihre neoliberale und staatsskeptische Phase hinter sich gelassen und sich geschickt neue Wählergruppen erschlossen. Mitunter paaren sich traditionell eher linke Forderungen wie Steuererhöhungen für Vermögende, die Begrenzung der Kräfte des Marktes oder die Betonung sozialer Gerechtigkeit mit klassischen rechten Positionen wie der Forderung nach einem Zuwanderungsstopp, der Rückkehr zu nationalen Werten, der Ablehnung von Multikulturalismus sowie Intoleranz gegenüber anderen Religionen und Lebensweisen. Mit dieser Kombination aus Sozialstaatsbejahung und ethnischer oder nationaler Grenzziehung setzen die Rechtspopulisten gekonnt auf das weit verbreitete Unbehagen mit dem Lauf der Dinge. Sie stellen sich ebenso gegen das neoliberale Europa der Märkte wie gegen das kosmopolitische Europa der Inklusion.
Populistische Parteien wie die Wahren Finnen, die Schwedendemokraten und in Teilen die Alternative für Deutschland, die Freiheitliche Partei Österreichs oder der französische Front National spielen allesamt mit vorhandenen Ängsten und Ressentiments und treten als Verteidiger eines Sozialstaates auf, der die Vorrechte der „Einheimischen“ zu verteidigen weiß. Neuankömmlinge sollen lediglich bescheidene Leistungen erhalten, durch Sanktionen diszipliniert oder von Zuwendungen ganz ausgeschlossen werden. Missbrauch und Trittbrettfahrerei seien konsequent zu bestrafen. Die Forderung nach strengen Restriktionen beim Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen kommt im Gleichschritt mit der allgemeinen Gegnerschaft zur Zuwanderung daher.
Das Nationale muss kein Gegensatz zu Europa sein
Zwar bespielt vor allem das rechte Spektrum dieses Thema, aber der Hang zur sozialen Schließung ist ein universelles soziologisches Phänomen, das sich bei Statusängsten und Verunsicherungen noch verstärkt. Diese Verbindung lässt sich auch durch den Appell an europäische Gemeinsamkeiten nicht überdecken. Trotz der europäischen Verheißungen und des angesichts globaler Entwicklungen notwendigen europäischen Zusammenschlusses bleibt die Nationalgesellschaft für Identität und Solidarität funktional. Grenzen sind zwar sozial konstruiert, jedoch nicht beliebig konstruierbar. Deshalb werden uns die Konflikte um Öffnung und Schließung im europäischen Sozialraum noch lange begleiten, und zwar ganz unabhängig vom rechtspopulistischen Furor.
Offensichtlich ist dieses Europa als Sozial- und Erfahrungsraum tief gespalten. Es gibt sie, die Erasmusgeneration, die gut Gebildeten, die Wissensarbeiter, die sozialen und politischen Eliten, die Manager und Unternehmer, für die die Vorteile des vereinten Europas auf der Hand liegen, sei es in ökonomischer, in sozialer, kultureller oder ideeller Hinsicht. Auf der anderen Seite stehen das besorgte Facharbeitermilieu, das Dienstleistungsproletariat und größere Gruppen von Transferempfängern. Ihnen erschließt sich das freundliche Gesicht Europas weit weniger, es sei denn auf den Reiserouten des Pauschaltourismus. Doch das reicht nicht. Bei ihnen ruft Europa Ängste und Sorgen hervor, ausgelöst durch Marktbildung und Migration, für viele zwei Seiten einer Medaille.
Doch wie sollte man mit dem anschwellenden Wohlfahrtschauvinismus umgehen? Gibt man den vorhandenen Renationalisierungswünschen nach und schafft – wie dies schon in einigen EU-Staaten geschehen ist – neue Hürden beim Zugang von Migranten zu sozialen Leistungen? Dämonisiert man diese Haltungen, weil sie dem rechten Lager Auftrieb geben? Muss man immer wieder den Gesamtnutzen der Zuwanderung hervorheben? Braucht Europa mehr Begeisterungskampagnen? Oder kann das europäische Projekt nur gewinnen, wenn es die Verlierer der Integration besser kompensiert, sich ihre Zustimmung also erkauft?
Einen Königsweg scheint es nicht zu geben. Mehr Selbstkritik der europäischen Eliten könnte ein Anfang sein. Die rhetorische Verkleinerung lebensweltlicher Sorgen angesichts der Größe und historischen Bedeutung des europäischen Projekts hat ausgedient. Auch wenn es vielen von uns Europa-Enthusiasten schwer fallen mag: Wir müssen anerkennen, dass sich ein Teil der Bevölkerung überrannt fühlt. Der Konflikt zwischen kosmopolitisch Gesinnten und lokal und national orientierten Gruppen schwelt heute schon und darf nicht zum Flächenbrand werden. Die Sehnsucht nach dem nationalen Schutzraum mag als Bremsklotz der weiteren Integration erscheinen, sie zu ignorieren führt aber das gesamte europäische Projekt in eine Sackgasse. Man kann den politischen Eliten nur raten, inne zu halten, eine ehrliche Bestandsaufnahme durchzuführen und auf Zögernde und Skeptiker zu warten. Wenn dies gelingt, wird ein anderes Europa wahrscheinlicher als ein Abrutschen in die rückwärtsgewandte und chauvinistische Renationalisierung. Und vielleicht erkennen wir auch, dass das Nationale kein Gegensatz zu Europa sein muss. Es kann durchaus Europa erden und ihm ein Rückgrat geben. Europa braucht die nationalen Völker wie diese Europa brauchen. Sie dürfen nicht zu Gegenspielern werden.