Die Vernunft würde Lada fahren

In diesem Jahr steht die Internationale Automobil-Ausstellung unter dem Motto "Faszination Auto". Das ist einfallslos - und trifft doch genau den Kern. Denn das Kraftfahrzeug ist ein kulturelles Ornament unseres Lebens

Wenn am 13. September die 59. Internationale Automobilausstellung in Frankfurt mit 100 Ausstellern aus mehr als 40 Ländern ihre Pforten öffnet, wird die deutsche Presse in hymnischen Tönen vom Fortschritt unter der Motorhaube berichten. Doch trotz der Inszenierung als Technologie-Paraden sind Automobil-Ausstellungen weniger technische Ereignisse als kulturelle. Das Auto nämlich ist inzwischen vor allem ein kultureller und ästhetischer Gegenstand, der nur ganz nebenbei auch fährt. Das Motto der diesjährigen IAA, "Faszination Auto", mag ziemlich einfallslos sein - doch es trifft genau diesen Kern.

In einer wirklich rationalen Welt, gäbe es keine Alufelgen und Metallic-Lackierungen

Kultur beginnt dort, wo die Technik funktioniert und die kreatürlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Für das Auto beginnt Kultur jenseits des legendären Model T, das Henry Ford während des Ersten Weltkrieges für 360 Dollar anbot, oder jenseits des anzusparenden Volkswagens der Nazizeit. Sie beginnt, wenn man von fahrbaren Untersätzen mehr erwartet, als dass sie fahren und erschwinglich sind. Was sich nicht aus dem Bedürfnis nach Transport rechtfertigen lässt, also alles, was am PKW schön, gediegen und teuer ist und des Besitzers Brust anschwellen lässt, erfüllt kulturelle Funktionen. In einer wirklich rationalen Welt, in welcher der homo oeconomicus regierte, dürfte es weder Alufelgen noch Metallic-Lackierung und vor allem kein Gefährt geben, dessen Preis den einer Eigentumswohnung übersteigt. Eine nur vernünftige Welt stünde im Zeichen des Lada. Ja, nach dem allerengsten Maßstab der Vernunft dürfte es den Umweltfresser Auto überhaupt nicht geben.


Kultur übersteigt Natürlichkeit und Rationalität und ersetzt sie durch Ästhetik - und welcher zeitgenössische Gegenstand wäre designverwöhnter als das Automobil? Es ist zum Hauptornament unseres Lebens aufgerückt und hat dabei jene Objekte verdrängt, an denen früher Geschmack demonstriert wurde: die Kleidung etwa, die Wohnung oder das Haus. Wer kennt nicht den ästhetischen Gegensatz von Fahrer und Gefährt, wenn der eleganten, auf Kredit erworbenen Karosse die stämmige Mutti im weiten T-Shirt entsteigt? Oder wenn Vati in Hauslatschen und grell buntem Jogginganzug das mattschwarze, mit Büffelleder bezogene Steuer übernimmt? Der soziale Aufstieg, der gehobene Lifestyle beginnt beim Automobil. Erst danach, wenn noch Geld übrig ist, denkt man an die Deliberation der Wohnung.


Die für das Transportbedürfnis unnötige Ästhetik ist dennoch nicht ohne Funktion. Wie jeder kulturelle Überschuss dient sie als Zeichen, das Identitäten bestimmt. Dass Autos Statussymbole sind, wissen wir, doch sie sind mehr. Nicht nur unsere Bonität teilen sie mit, sondern auch unsere Wunsch-Persönlichkeit. Der Mercedes deutet seinen Fahrer als den soliden Erfolgreichen. Der BMW stellt das sportlich-schneidige Mannsbild heraus. Am Volant des Jaguar sitzt der kultivierte Gentleman. Im unpraktischen Offroader agiert der kernige Abenteurer, im Fiat Punto der unkonventionelle Lebenskünstler. Diese Wunsch-Identitäten müssen mit der Wirklichkeit der Person nicht übereinstimmen, denn jeder fade Beamte kann den gebrauchten Range Rover besteigen und sich mit der Camel im Mundwinkel als Draufgänger inszenieren.


Der angebliche technische Fortschritt spielt innerhalb der deutschen Auto-Kultur eine zwielichtige Rolle. Wie jede Marketing-Abteilung weiß, erfolgt eine Kaufentscheidung auf zwei Ebenen. Auf der des Bewusstseins glaubt der Käufer seine Wahl nach der technischen Qualität zu treffen, wenn er sich einredet, der stärkere Motor erhöhe die aktive Sicherheit. In Wirklichkeit ist die Erlangung der Wunsch-Persönlichkeit, die das Gefährt verspricht, der eigentliche Kaufanreiz. Die Industrie weiß das längst und arbeitet deshalb mit Doppelstrategien. An das Unbewusste appelliert die Identitätsofferte des Designs und anderer Maßnahmen (etwa das Röhren des Auspuffs bei Porsche, für dessen Perfektionierung zwei Akustik-Ingenieure zuständig sind), während für das Bewusstsein pseudorationale Argumente wie Sonderpreise, 24 Ventile oder ABS bereitgestellt werden.

Mein Besitzer kann denken, sagt der Passat. Aber das beeindruckt bloß Bahnfahrer

VW versucht gerade, die Zwei-Ebenen-Theorie zu überlisten. Beim technisch hochgerüsteten, aber imagefreien Passat möchte die jüngste Werbung aus dieser Not eine Tugend machen. Originaltext: "Und ein Auto sagt: Mein Besitzer ist erwachsen. Er kann denken. Er kann sprechen. Wofür braucht er ein Auto, das anderen erzählt, wer er ist?" Dieser Appell an die Vernunft wird aber nur diejenigen überzeugen, die Bahn fahren oder ein nüchternes japanischen Auto, das billiger und damit vernünftiger ist als ein Passat.


Da das Auto ein kultureller Gegenstand ist, sind die Umsatzzahlen am Markennamen, an der Identitätsofferte und am Design abzulesen. Da Mercedes und BMW einen gleich guten Ruf genießen, wird der Wettbewerb zwischen ihnen nur über das Design entschieden, das Teil der Identitätsofferte ist. Die Umsatzeinbuße, die Mercedes trotz bester Technik nach 1994 erlebte, lässt sich nur aus der Unattraktivität der damaligen Modelle erklären, die so solide wirkten wie Helmut Kohls mittelblaue Anzüge. Inzwischen hat man neue Zeichen gesetzt. Die leicht überdimensionierten Heckleuchten der C-Klasse wagten einen vorsichtigen fun look, worauf in der E-Klasse die mutig schräg liegenden Ovalscheinwerfer folgten, die nach anfänglicher Ablehnung Design-Geschichte schrieben. Das Aussehen wurde zwar besser, konnte aber nicht die ästhetische Überlegenheit der Konkurrenz schmälern, die zurzeit wieder die höchsten Zuwächse verzeichnet. Kein Wunder: Der 5-er BMW ist derzeit das schönste deutsche Auto, das sich vor einem Alfa Romeo nicht zu verstecken braucht. Doch mit der IAA wird sich das ändern. Die Nachfolge-Modelle der 5-er und 7-er Reihe sind deutlich klobiger, was zu einem Rückgang der Verkaufszahlen führen wird.


In allen reichen Ländern hat sich das Auto zum kulturellen Gegenstand gemausert, doch die nationalen Autokulturen sind verschieden. Die deutsche zeichnet sich durch eine Technikeuphorie aus. Der große Erfolg von Audi kam bei Vernachlässigung des Designs nur über die Betonung angeblich fortschrittlicher Technik zustande. Entsprechend ist die Marke der Ingenieure und Technokraten vor allem im Inland gefragt, während der Export, verglichen mit Mercedes und BMW, gering ausfällt. Der jüngste Audi-Boom in China verlangt insofern nach einer gesonderten Erklärung, die nur von Sinologen zu erwarten ist.

Hinter dem Lenkrad fühlen wir uns wie Faust nach dem Teufelspakt

Die deutsche Technikeuphorie zielt allerdings weniger auf praktischen Nutzen ab als vielmehr auf Geistig-Kulturelles, nämlich auf Überlegenheitsgefühle. Wir konstruieren Hinterachsen, von denen der amerikanische Consumer′s Report zu Recht behauptet, sie seien für Autorennen dimensioniert, nicht für den Alltag. Ähnliches gilt für die deutschen Pferdestärken, die auf den verstopften und zu großen Teilen geschwindigkeitsbeschränkten Autobahnen nie ausgekostet werden können. Es geht uns also nicht um den Nutzen, sondern um das Gefühl, dass wir es den Schumacher-Brüdern gleichtun könnten. Dank souveräner Technik fühlen wir uns hinter dem Lenkrad wie Faust nach dem Teufelspakt.

Seit die Grünen regieren, droht von Seiten der Umwelt keine Gefahr mehr

Aber auch dieser Vertrag hat einen Pferdefuß, wie wir bei Wettereinbrüchen beobachten können. Jeder Herbstnebel verursacht gigantische Massenkarambolagen, und jeder leichte Schneefall führt zu Blechschäden und dem totalen Chaos. Durch Werbung und Technik verführt, bildet sich der kraftfahrende Abkömmling Don Giovannis ein, die Natur zu beherrschen. Ja, inzwischen gehen die technischen Möglichkeiten und die aus ihnen resultierende Hybris so weit, dass wir uns davor schützen müssen - natürlich wieder mit Hilfe der Technik. Zur gehobenen Serienausstattung gehört seit längerem eine komplizierte Elektronik, die sich früher noch ehrlich slide control nannte und das Durchdrehen der Antriebsräder verhindert. Weiterentwicklungen sind auf der IAA zu bestaunen. Im oberen Preissegment lassen sich Raketen mit 400 PS erwerben, bei denen aber eine automatische Drosselung verhindert, dass die technisch mögliche Spitzengeschwindigkeit auf die Straße gebracht wird. All diese Finessen, die der defensive Fahrer nicht braucht, bremsen die aus den Fugen geratene Technik und entmündigen den durch die Autokultur euphorisierten Menschen. Als Höhepunkt der automobilen Technik markieren sie einen Tiefpunkt der menschlichen Vernunft.


Wie wird es weitergehen mit der stolzen deutschen Autokultur, die für uns so unverzichtbar ist? Wir waren einmal ein gespaltenes Land, das die besten Autos baute und gleichzeitig enthusiastisch vom Umweltschutz redete wie keine andere Nation. Seit die Grünen Regierungsverantwortung übernommen haben, ist diese Spaltung überwunden, und von Seiten der Umwelt droht keine Gefahr mehr. Zwar verändert sich das Klima fortschreitend weiter, was an den vermehrten Naturkatastrophen abzulesen ist. Doch wir wollen es nicht wahrhaben. Selbst die Mahnungen der wenig ideologieverdächtigen Versicherungswirtschaft, welche die Schäden der Stürme und Tornados bezahlen muss, bleiben ungehört. Auch das Argument der Energieverknappung ist durch die jüngsten Erdölfunde im Kaspischen Meer endlich vom Tisch. Warum also noch das Dreiliter-Auto, mit dem ohnehin keine Kultur zu machen ist? In Frankfurt muss man sich schon an den hintersten Ständen umtun, um es zu finden.

Wer im Stau feststeckt, hat wenigstens ein Publikum für sein Auto

Eine andere Gefahr droht viel eher. Die Zunahme des LKW-Verkehrs hat zu einer bedrohlichen Verstopfung der Straßen geführt. Jahrelang haben wir geduldig im Stau gestanden, was die hier vertretene These noch einmal unterstützt: Das stehende Auto ist zwar kein Verkehrsmittel mehr, weiterhin aber ein kulturelles Objekt, das den Stau als Zuschauerkulisse nutzt. Doch es mehren sich die Anzeichen, das die Geduld erschöpft ist und, wie die Amerikaner es nennen, road rage aufkommt. Freilich, irgendeine Lösung wird sich auch für die Verstopfung finden. Womöglich wird bald eine Anti-LKW-Partei gegründet, die - im Unterschied zur FDP - auf Anhieb 18 Prozent erreicht und als Koalitionspartner der SPD die Güter zurück auf die wiederverstaatlichte Schiene zwingt. Den Preis dafür zahlen wir gerne, wie wir überhaupt jeden Preis für unsere Autokultur hinnehmen. Wir brauchen sie einfach, denn ohne sie würden pathologische Depressionen stark ansteigen und die Selbstmorde zunehmen. Das Auto ist ein fester Bestandteil des männlichen Ich. Und so wird es bleiben.

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