Harvard ist nicht Amerika
Überblickt man die Debatte um die deutsche Universität, die seit vierzig Jahren geführt wird, lassen sich unterschiedliche Phasen unterscheiden, die sich auf zwei verschiedene Motivationen zurückführen lassen. Entweder debattiert man, weil die Hochschulen schlecht funktionieren - das war vor 15 Jahren der Fall, als die Studentenlawine rollte. Oder man ruft nach Reformen, weil neue politische Ziele verwirklicht werden sollen. Das Paradebeispiel dafür waren die siebziger Jahre, als die sozialliberale Koalition die soziale Öffnung der Universitäten betrieb. Heute ist eine Vermischung beider Motive festzustellen. Die Kritiker behaupten, die Universitäten funktionierten nicht, um auf diese Weise Reformen zu begründen, die in Wahrheit neue politische Ziele verwirklichen sollen. Diese werden aber nicht offengelegt.
Das schlechte Funktionieren wird frech behauptet, indem man Schimpfkanonaden aus diffusen Vorwürfen abfeuert. Die Hochschulen seien uneffektiv, heißt es, schuld seien Verkrustung und Bürokratie. Es mangele ihnen an Flexibilität und Modernität, woraus die wohlfeile Folgerung gezogen wird, die deutsche Universität sei nicht "fit für die Zukunft". Die Rhetorik erinnert an Gerhard Schröders Wahlkampf 1998. Angenehm konkret sind demgegenüber die Behauptungen, die Professoren seien faul und die Studienzeiten zu lang. Auf der anderen Seite stehen die Therapievorschläge, welche die angebliche Misere beheben sollen. Sie lesen sich wie ein Brevier der Marktwirtschaft und empfehlen Wettbewerb und Studiengebühren.
Um die Qualität der Lehre geht es nicht
Die Betroffenen, also die Hochschulangehörigen, nehmen die Vorwürfe, die auf sie einprasseln, mit dem größten Erstaunen zur Kenntnis. Sie tun trotz der Überfüllung der Universitäten ihren Dienst wie eh und je, sie forschen und lehren, sie examinieren und verwalten - nicht schlechter und nicht besser als zuvor. Diejenigen, die ihre Wissenschaft zum Lebensinhalt gemacht haben, lesen nun in den Zeitungen, dass sie faul sind und in einer ineffektiven Institution arbeiten. Das kommt ihnen so hanebüchen vor, dass sie die Debatte wie erstarrt über sich ergehen lassen.
In einigen Ländern hat die Politik bereits reagiert. In Bayern etwa steht die "Verbesserung der Qualität der Lehre" ins Haus. Es wurde das Amt des "Studiendekans" geschaffen, in dessen Verantwortung die Lehre durch die Studenten "evaluiert" wird. Das Ergebnis der ersten Umfragen hat das Ministerium überrascht: Die Mehrheit der Studenten ist zufrieden. Der Kultusminister könnte daraus schließen, dass die Maßnahmen unnötig waren. Einstellen wird man sie aber nicht, denn es geht um mehr und anderes als die Güte der Lehre, die mit Fragebögen sowieso nicht zu verbessern ist.
Halbjuristen und Schmalspurchemiker
Man ist sich einig, dass in Deutschland zu lange studiert wird, wobei man auf das Ausland verweist. Diese Einigkeit ist befremdlich. Zum einen leben wir in einer Epoche nicht zu beseitigender Arbeitslosigkeit. Zum anderen betonen die Arbeitsmarktforscher, dass nur hohe und überdurchschnittliche Qualifizierung eine Anstellung garantiert. Die klugen unter den Studenten haben das begriffen und steigern ihre Chancen durch zusätzliche Qualifikation wie Fremdsprachen oder Auslandssemester, was aber zu einer Verlängerung ihres Studiums führt. Das Argument der überlangen Studienzeiten passt also eigentlich nicht in den Zeitkontext, soweit er vom Arbeitsmarkt vorgegeben wird. Dennoch werden die Hochschulen aufgefordert, sowohl die Studienzeiten zu verkürzen als auch Kurzstudiengänge einzurichten.
An den Universitäten werden bislang Fächer studiert. Was für sie wichtig ist, entschied, wer davon etwas verstehen muss - der Fachmann und Fachvertreter. Das will die Studienzeitverkürzung aushebeln. Über die Quantität, die ja unweigerlich die Qualität beeinträchtigt, sollen nun Politiker urteilen, die glauben, man könne trotz der Wissensexplosion nach drei Jahren Studium ein guter Historiker, Germanist oder Jurist sein. Bei der Medizin wird man solche Experimente allerdings nicht wagen, weil hier von schwach ausgebildeten Absolventen Unheil angerichtet werden kann. Die Idee der Kurzzeit-Studiengänge, die mit dem angelsächsischen B.A., dem Bachelor of Arts abschließen, geht aber noch weiter. Sie wird uns Schmalspurakademiker bescheren, Halbsoziologen und Halbchemiker. Mit den Prämissen der traditionellen Universität ist das nicht vereinbar.
Sucht man nach dem Fluchtpunkt der genannten Argumente und Maßnahmen, erschließt sich der Kern der gegenwärtigen Debatte: Die traditionelle Universität soll zu Grabe getragen werden. Grundlagenforschung und die Ausbildung von Akademikern nach selbst gesetzten Qualitätsmaßstäben sollen eingeschränkt werden. Was sich abzeichnet, ist eine Amerikanisierung der deutschen Universität. Deshalb sollte man über den Atlantik blicken, um zu erkennen, was uns bevorsteht.
In den Vereinigten Staaten gibt es ungefähr 3.000 Colleges und Universitäten, von denen höchstens 30 ein so ausgewogenes Verhältnis von Forschung und Lehre aufweisen wie es in Deutschland üblich ist. Ihre Namen - Harvard, Yale, Berkeley und so weiter - sind uns allen bekannt. Die restlichen 2.970 Einrichtungen sind höchstens höhere Bildungsanstalten. Dort steht die Lehre im Vordergrund, und die Professoren, können nur knappe Publikationslisten vorweisen. Zur Forschung werden sie auch gar nicht berufen. Die Lehrenden sollen eben lehren. Sie werden von den Studenten evaluiert, und diese Evaluationen können für die Übernahme auf Lebenszeitstellen und für die Höhe des Gehalts ausschlaggebend sein. Deshalb sind amerikanische Professoren keine Fachvertreter - und Autonomie besitzen sie schon gar nicht.
Mit Minnegesang in den Supermarkt
Das akademische Fach hat in den Vereinigten Staaten einen ganz anderen Stellenwert. Mit dem vierjährigen Grundstudium beginnt keinesfalls das Fachstudium. Vielmehr besucht der Student dabei Kurse wie "Western Civilisation", "History of World Philosophy", "Great English Writers" oder "The Christian Religions". Es wird hier genau jene Allgemeinbildung nachgeholt, die amerikanische Gymnasien nicht vermitteln. Erst nach dem B.A. beginnt ernstlich das Studium von Haupt- und Nebenfach, das nach zwei Jahren abgeschlossen wird. Eine Ausnahme bilden Jura und Medizin, die als Fachstudium konzipiert sind wie bei uns. Abgesehen von diesen Fächern ist das Verhältnis von Berufswelt und Universität ein völlig anderes als in Deutschland. Dass ein Student im schmalen Hauptstudium Germanistik belegt, eine Examensarbeit über den Minnegesang schreibt und dann Kassierer in einem Supermarkt wird, ist ganz normal. Amerika denkt nicht in Fächern und Karrieren - der Personalchef fragt zuerst nach dem Studienort. Die Universitäten produzieren keine Fachexperten, sondern vermitteln Allgemeinbildung, korrektes Englisch und fundamentale geistige Fähigkeiten wie Texte verstehen und Aufsätze schreiben.
Der Kunde verlangt Freundlichkeit
Die Adepten der Marktwirtschaft in Deutschland verweisen auf eine Handvoll amerikanischer Vorzeige-Universitäten, deren überragende Qualität sie auf Studiengebühren und Wettbewerb zurückführen. Paradoxerweise sind das genau jene Universitäten, die den deutschen am ähnlichsten sind, also solche, an denen gleichermaßen gelehrt und geforscht wird. Aber Harvard ist nicht Amerika. Die normale amerikanische Universität senkt, um Studenten zu locken, nicht die Preise, sondern das Niveau. Das Phänomen nimmt inzwischen solche Formen an, dass es jetzt unter dem Stichwort "grade inflation" (Noteninflation) öffentlich debattiert wird.
Amerikanische Universitäten müssen sich selbst finanzieren. Die Studenten betrachtet man als - freundlich zu behandelnde - Kundschaft; die Eltern verlangen diese Freundlichkeit. Dass Studenten Prüfungen nicht bestehen, ist an den meisten Hochschulen undenkbar - in Harvard, wo das Semester 20.000 Dollar kostet, ist es selbstverständlich. Dort ist es die Pflicht der Lehrenden, Studenten durchfallen zu lassen, damit sich der Ruf der Universität bestätigt, während es etwa an der University of Northern Arizona nur gute Noten gibt. Diese Spaltung ist das Ergebnis marktwirtschaftlicher Mechanismen.
Die in Deutschland diskutierten Reformen werden amerikanische Verhältnisse schaffen. Das heißt nicht, dass man die deutschen Universitäten nun an Harvard heranrückte, wovon sie gar nicht so weit entfernt sind. Es heißt, dass man die Mehrzahl der deutschen Hochschulen in bloße Lehranstalten verwandelt.
Die neue Macht der Studenten
Die angebliche Verbesserung der Lehre und die Verkürzung des Studiums werden sich als Entakademisierung auswirken. Die umfassende Fachausbildung wird aufgrund des Zwangs zur Kürze durch eine weniger spezialisierte ersetzt werden. Der Wirtschaft mag das entgegenkommen. Ihr sind mit Grundfähigkeiten ausgestattete human resources lieber. Sobald die Studenten ihre neue Macht begriffen haben, werden sie das Instrument der Evaluation so einsetzen, dass eine Noteninflation eintritt.
Dem Machtzuwachs der Studenten wird ein Machtverlust der Professoren gegenüber stehen. Die avisierten Disziplinierungsmaßnahmen - Verlust des Beamtenstatus, höheres Lehrdeputat, Anwesenheitspflicht, Evaluation, Koppelung von Forschungsmitteln an forschungsfremde Kriterien, Abschaffung der Habilitation - sprechen eine klare Sprache. Die Professorenschaft soll zu einer willigen und billigen Verfügungsmasse werden. Das geht am besten, indem man ihr die Zeit für die Forschung nimmt, die ja, wo keine Vollakademiker mehr ausgebildet werden, auch nicht mehr nötig ist. Die Nivellierung der Hochschulen wird andererseits zur Entstehung von Elite-Universitäten führen, die vor allem forschen. Insgesamt wird dann in Deutschland weniger geforscht als bisher. Man schickt sich also an, per ministerieller Verordnung zu erreichen, was in Amerika die Kräfte der Marktwirtschaft bewirken.
Es mag Gründe für diese Amerikanisierung geben. Man sollte sie aber offen benennen und sich nicht hinter den Geschichten von schlechter Lehre, faulen Dozenten und überlangen Studienzeiten verstecken. Und eines sollte nicht vergessen werden: Harvard ist groß geworden, weil es sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die "Deutschlandfahrers" heimkehrten, an der deutschen Universität orientierte, an ihrer Autonomie und ihrer Verzahnung von Forschung und Lehre. Diese Prinzipien haben ihren Wert nicht eingebüßt.