Die Verteilung kosmopolitischer Werte
In den vergangenen Jahrzehnten sind die nationalen Grenzen immer durchlässiger geworden – mit unterschiedlichen Auswirkungen. Die ökonomische, politische und kulturelle Globalisierung und Europäisierung haben sowohl die jüngsten Flüchtlingsströme nach Deutschland ermöglicht und die Ausbreitung der Ebola-Epidemie begünstigt, als auch zu preiswerten internationalen Flügen und einem erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt in anderen europäischen Staaten geführt. Die politischen Reaktionen auf diese Veränderungen führen jedoch zu einer zunehmenden Spaltung zwischen Eliten und Bürgern. Kritiker monieren etwa, dass die politischen Eliten den europäischen Integrationsprozess ohne die Zustimmung der Bürger vorantreiben: Das Projekt Europäische Union spiegele allein die Interessen der pro-europäischen politischen Eliten wider. Dahinter verbirgt sich eine tiefer gehende Differenz: Während die Eliten sowohl das europäische Integrationsprojekt als auch die Öffnung nationaler Grenzen befürworten, sind die übrigen Bürger in Fragen der Denationalisierung stärker gespalten.
Um dieses Phänomenen zu untersuchen, haben wir im Rahmen einer aktuellen Studie die Einstellungen und Werte der Eliten und der allgemeinen Bevölkerung in Deutschland zu hochgradig politisierten Themen im Kontext von Denationalisierung und offenen Grenzen verglichen. Die Werte und Einstellungen der Eliten entnehmen wir einer neuen bundesweiten Umfrage des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, bei der 354 Führungskräfte aus Wirtschaft, Politik, Justiz, Verwaltung, Militär, Wissenschaft, Medien, Gewerkschaften, Kirchen und Zivilgesellschaft befragt wurden.
Führungskräfte finden Einwanderung gut
Mithilfe der Studie konnten wir nachweisen, dass Inhaber von Spitzenpositionen die Öffnung nationaler Grenzen und kosmopolitische Positionen tatsächlich stärker unterstützen als die allgemeine Bevölkerung. Beispielsweise befürworten sie den grenzüberschreitenden Warenaustausch weit stärker als der Rest der Bevölkerung. Auch betrachten sie Einwanderung wesentlich häufiger als einen Vorteil für die deutsche Wirtschaft und als eine Bereicherung für das Zusammenleben. Darüber hinaus wünschen sie sich öfter mehr staatliche Ausgaben beziehungsweise Steuererhöhungen zugunsten der Entwicklungszusammenarbeit. Insgesamt zeigen die deutschen Eliten im Vergleich mit der allgemeinen Bevölkerung mehr Solidarität und fühlen sich mit Menschen, die außerhalb Deutschlands leben, häufiger verbunden.
Die übliche Erklärung für diese unterschiedlichen Wertungen und Einstellungen lautet, dass Eliten im Durchschnitt besser gebildet sind als die Mehrheit der Bevölkerung und ein höherer Bildungsgrad die Ausformung liberaler und progressiver politischer Meinungen tendenziell fördert. Bislang unberücksichtigt blieb allerdings die Tatsache, dass sich die Positionen der gesellschaftlichen Spitzen auch deutlich von denjenigen anderer höher gebildeter Bürger unterscheiden. So befürworten die Inhaber von Spitzenpositionen die Öffnung von Grenzen in höherem Maße und vertreten insgesamt kosmopolitischere Einstellungen als Bürger mit hoher Bildung, aber ohne Führungsposition. Der Bildungsgrad allein kann also die Meinungsdifferenzen zwischen den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten und der allgemeinen Bevölkerung nicht vollständig erklären.
Die ideologische Differenz
Sozialisierungseffekte innerhalb der Elite bieten eine zweite Erklärungsmöglichkeit. Robert Putnam zufolge kann die Homogenität der Werte und Einstellungen mit persönlichen Kommunikationsnetzwerken und Freundschaften erklärt werden. Diese tragen dazu bei, einen gemeinsamen Kanon von Werten und Meinungen herauszubilden. Solche auf gegenseitigem Vertrauen und Solidarität beruhende Netzwerke beschränken sich in der Regel nicht auf einflussreiche Personen innerhalb derselben Institutionen, sondern umfassen auch Leute aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. Die Kontakte werden nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass die Eliten mit Blick auf Bildungskarrieren, Rekrutierungsmuster und ideologische Präferenzen eine überaus homogene Gruppe darstellen.
Die ideologische Differenz zwischen gesellschaftlichem Führungspersonal und allgemeiner Bevölkerung vermag auch zu erklären, warum die Eliten für eine stärkere europäische Integration und die Öffnung der nationalstaatlichen Grenzen für Einwanderer plädieren, während die Mehrheit der Bevölkerung diesen Forderungen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht.
Der beschriebene Gegensatz zwischen Eliten und allgemeiner Bevölkerung ist in Deutschland wahrscheinlich stärker ausgeprägt als in anderen westeuropäischen Ländern. Nach dem Trauma von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg war die Neuerfindung der deutschen Identität explizit auf die europäische und internationale Ebene ausgerichtet. Deshalb ist die Verantwortung Deutschlands – besonders gegenüber Ländern, die unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben – ein Kernelement des deutschen Diskurses unter deutschen Eliten und erklärt ihren Willen, einem kosmopolitischen Ideal zu entsprechen. Hingegen ist ein großer Teil der Bevölkerung durch Europäisierung und Globalisierung verunsichert, nimmt die zunehmende Öffnung der Grenzen als Bedrohung wahr – und fühlt sich von den Entscheidungsträgern in dieser Frage nicht repräsentiert.
Populismus als Warnung und Brandbeschleuniger
Wachsende Meinungsunterschiede zwischen Eliten und Bevölkerung können für mehrere Länder nachgewiesen werden. Sie sind eine zentrale Ursache für die zunehmende Politikverdrossenheit. Politische Frustration tritt nämlich dann auf, wenn die Bürger das Gefühl haben, dass ihre Sorgen nicht ernstgenommen werden. Wieso sollte man sich für Politik interessieren und engagieren, wenn die politische Klasse die bestehenden Ängste und Verunsicherungen nicht aufgreift? Dieses Repräsentationsdefizit, das sich auch in der weitgehenden Einigkeit der großen Parteien bei EU- und Globalisierungsthemen manifestiert, führt zu einem Vakuum im politischen Spektrum. Kein Wunder also, dass rechtspopulistische Parteien, die die Verunsicherungen und Existenzängste der Bevölkerung aufgreifen, bei immer mehr europäischen Wählern auf Resonanz stoßen. Diese Parteien machen die Ängste und Sorgen der Bürger sichtbar und repräsentieren sie im politischen Diskurs. Zugleich beschleunigen sie aber die Entfremdung der Bevölkerung von der politischen Elite. Die etablierte Politik muss die Unsicherheit infolge der zunehmenden Denationalisierung europäischer Gesellschaften endlich ernstnehmen und aufgreifen. Nur so kann sie dem Populismus in Europa Einhalt gebieten.