Die vier Freiheiten gehören zusammen
Europa hat viele echte Probleme: die nach wie vor hohe Zahl an Flüchtlingen, die rapide Alterung des Kontinents, das verhaltene Wirtschaftswachstum mit weiterhin hoher Arbeitslosigkeit vor allem in Südeuropa, die unvollständige Konstruktion der Währungsunion, die die Eurozone für Schocks anfällig macht, der fortschreitende Klimawandel, fragile Nachbarstaaten von Libyen bis hin zur Ukraine und schließlich die Griechenlandkrise, die bislang nur aufgeschoben ist.
Der Brexit gehört allerdings nicht zu diesen echten Problemen. Bei ihm handelt es sich um ein man-made problem, er ist also hausgemacht. Um seine innerparteilichen Kritiker zu besänftigen, hatte der konservative Premierminister David Cameron ein Referendum über die Zukunft seines Landes in der EU anberaumt, mit dem scheinbar überraschenden Ergebnis, dass Großbritannien die EU verlassen wird. Oder hat uns das Ergebnis nur überrascht, weil unsereins immer nur in London unterwegs ist und nicht im ländlichen Raum oder gar den deindustrialisierten Gebieten von England und Wales? Das Referendum ist der Anlass der Trennung, aber die Ursache liegt tiefer und weiter zurück: Die Briten haben sich jahrzehntelang von der europäischen Politik entfremdet und in vielen europäischen Politikbereichen Zurückhaltung geübt. Die schleichende Entfremdung Deutschlands von der Politik der Europäische Zentralbank (EZB) und der EU-Kommission sollte uns daher zu denken geben, denn sie könnte einen ähnlichen Prozess einläuten.
Was bedeutet der kommende Brexit wirtschaftlich: für das Vereinigte Königreich und für die anderen 27 Mitgliedsstaaten (EU-27)? Zu vermuten ist, dass die Auswirkungen für Großbritannien größer sein werden als für die EU-27: Während die britischen Exporte in die EU-27 rund 12 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, verdient die EU-27 umgekehrt gerade einmal vier Prozent ihres BIP mit Ausfuhren in das Vereinigte Königreich. Ökonomisch ist ein Brexit kaum zu quantifizieren beziehungsweise – wie Finanzmarktakteure sagen – „einzupreisen“: Kein Makromodell kann einen solchen Strukturbruch ernsthaft erfassen. Wir können daher nur mit Szenarien und Optionen arbeiten. Zentral für die Wirkungsanalyse bleibt dabei, in welcher Form Großbritannien künftig Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben wird. Dies muss nach dem Ausgang des Referendums völlig neu verhandelt werden. Das Ergebnis ist offen – mit hoher Unsicherheit für die Investoren während der sicherlich langen Verhandlungszeit. Es wäre daher sinnvoll, das Verfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrages, also die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, rasch zu beginnen, um diese Phase der erhöhten Unsicherheit nicht unnötig zu verlängern, zumal entscheidende Fragen wie der Zugang zum Binnenmarkt erst zum Ende der Verhandlungen geklärt werden dürften.
Die Briten »bestrafen«? Darum geht es nicht!
Vor dem Referendum hatte man bei Gesprächen in London den Eindruck, dass dort erwartet wurde, am britischen Binnenmarktzugang werde sich im Fall des Brexit schon nichts ändern, Finanzdienstleister würden von London aus weiterhin mit dem „EU-Pass“ in allen anderen Mitgliedsstaaten Geschäfte tätigen können. Ich teilte diese Einschätzung nicht. Jede britische Regierung, egal welcher politischer Couleur, hat immer betont, dass der Kern der EU aus ihrer Sicht der Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit sei. Man sollte nicht erwarten, dass der Binnenmarktzugang nach einer bewussten Entscheidung gegen eben diese EU unverändert bleibt. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb müssen die verbleibenden EU-Mitgliedsstaaten an dieser Stelle hart verhandeln, um mögliche Nachahmer abzuschrecken.
Dies hat nichts mit Bestrafung zu tun; man muss schlicht deutlich machen, dass es die guten Teile der EU nur im Paket mit den vermeintlich schlechteren Teilen gibt. Ein cherry picking darf es nicht geben, sonst wird die EU weiter destabilisiert. Richtig ist daher, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs bereits bei ihrem ersten Treffen nach dem Referendum betont haben, dass der Binnenmarkt alle vier Freiheiten zusammen umfasst. Wenn die britische Regierung unter Premierministerin Theresa May wiederholt deutlich macht, dass sie Einschränkungen beim freien Personenverkehr für EU-Angehörige wünscht (für Drittstaatenangehörige ist dies bereits heute möglich), dann wird der Preis dafür logischerweise in einer Beschränkung der anderen drei Freiheiten liegen, vermutlich im Bereich der Dienstleistungen (einschließlich Finanzdienstleistungen) bei weiterhin freiem Waren- und Kapitalverkehr.
Interessant ist, dass sowohl Befürworter als auch Gegner des Brexit wirtschaftliche Argumente ins Feld geführt haben: Für die einen überwogen die Handelsvorteile mit der EU, für die anderen liegt die Zukunft sowieso im Handel mit Schwellenländern. Die Krise in Teilen der Eurozone hat die Skepsis der Briten gegenüber der Gemeinschaftswährung, der Eurozone und der EU als Institution bekräftigt. Die Austrittsbefürworter meinten, die gemeinsamen EU-Handelsregeln behinderten die britische Wirtschaft. Für die Zukunft könne man passgenauere Handelsregeln vereinbaren und hätte wieder eine eigene Stimme in der Welthandelsorganisation. Offen ist allerdings, ob die Handelspartner das Vereinigte Königreich weiterhin mit solcher Priorität behandeln und rasch neue Verträge schließen werden, denn jetzt geht es schließlich nur noch um den Zugang zum britischen Markt, nicht mehr zum EU-Binnenmarkt.
Der Finanzsektor des Landes, der rund zehn Prozent der britischen Wirtschaftsleistung erwirtschaftet, war in der Brexit-Frage gespalten: Die großen Banken und Versicherungen unterstützten mehrheitlich (auch finanziell) das Remain-Lager. Sie waren überzeugt, dass nach einem Austritt Geschäftsbereiche aus London verlagert würden, je nach Geschäftszweig in Richtung Dublin, Edinburgh, Zürich, Luxemburg oder Frankfurt. Aber die City zeigte auch ihr anderes Gesicht: Hedgefonds mit ihren oft jüngeren Managern sprachen sich lautstark für den Brexit aus, um dem „Regulierungswahn“ aus Brüssel zu entgehen – ganz besonders den verhassten Bonusbegrenzungen. Sie träumten von einem Offshore-Finanzzentrum, vergleichbar mit dem von Singapur. Oft vergleicht man die Situation mit der im Jahr 1999, als sich Großbritannien entschied, nicht dem Euro beizutreten. Auch seinerzeit wurden die Konsequenzen für die City leidenschaftlich diskutiert. Damals wanderte schließlich nur das Geschäft mit Bund Futures (Termingeschäfte auf idealtypische Bundesanleihen) nach Frankfurt ab. Ich aber meine: Die Situation ist nicht vergleichbar. Für den Erfolg des Finanzplatzes London ist weniger die gemeinsame Währung entscheidend als der Zugang zum gemeinsamen Markt.
Noch sind die Auswirkungen auf die EU-27 gering
Was ist wirtschaftlich in den rund zwei Monaten nach dem Referendum geschehen, also in kurzfristiger ökonomischer Sicht? Nichts ist geregelt, der Unsicherheitsschock wirkt sich schwer auf Investitionen und besonders den britischen Immobilienmarkt aus, die ersten Finanzdienstleister haben Einstellungsstopps für London verhängt und eruieren Verlagerungen an andere Standorte innerhalb der EU. Bislang ist es dem Land jedoch gelungen, eine politische Krise und eine wirtschaftliche Rezession zu vermeiden. Die Abwertung des britischen Pfunds hat zu einer geordneten Anpassung der Vermögenspreise geführt. Zwar hat die Kaufkraft britischer Touristen unter dieser Abwertung gelitten, wie etwa im Sommer in Griechenland zu beobachten war. Zugleich aber sind mehr Touristen aus Asien ins Vereinigte Königreich gekommen.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die EU-27 sind bisher eher gering. Die britische Nachfrage ist vereinzelt zurückgegangen, vor allen jene nach Investitionsgütern. Aber da Großbritannien eine Rezession bisher vermeiden konnte, ist sein Haupthandelspartner, die zukünftige EU-27, auch nicht wesentlich betroffen. Selbst die politische Ansteckung ist geringer als erwartet: In einer Reihe von Mitgliedsstaaten ist die Unterstützung für die EU seit dem britischen Referendum gestiegen. Einen Exit aus der EU scheinen die Bürger anderer Länder eher vermeiden zu wollen.
Entscheidend sind aber nicht die kurzfristigen Auswirkungen des Brexit, sondern das langfristige Trendwachstum. Vor dem Referendum gab es drei Lager: Die Remain-Befürworter erwarteten ein niedrigeres Trendwachstum, was von den Gegnern hart kritisiert wurde („Operation Fear“). Eine zweite Gruppe ging von einem langfristig nahezu unveränderten Trendwachstum nach anfänglichem Unsicherheitsschock aus. Das Leave-Lager schließlich sagte stärkeres Wachstum in der langen Frist voraus. Es ist zu früh, um zu bestimmen, wer Recht behalten wird. Sicher ist aber, dass die Fliehkräfte in der EU zunehmen werden, falls ein ehemaliges Mitglied der EU stärker wachsen würde als die verbliebenen Mitgliedsländer. Denn der wirtschaftliche Erfolg der EU und des Binnenmarktes waren und sind ein Hauptargument der EU-Befürworter – auch wenn dies ein kaltes Argument ist, wie die gescheiterte Remain-Kampagne gezeigt hat. Kein Mensch verliebt sich in einen Binnenmarkt, das wusste bereits Jaques Delors, der Urvater der EU.
Weniger Wachstum als ohne den Brexit
Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich dem Lager angehöre, das für Großbritannien langfristig ein geringeres Trendwachstum erwartet, da ich einen verringerten Zugang der Briten zum Binnenmarkt auf dem Gebiet der Dienstleistungen erwarte. Eine Lösung nach norwegischem oder Schweizer Vorbild ist damit ausgeschlossen. Ein gänzlich neues Modell könnte sich an Kanada orientieren und würde eine Dienstleistungsvereinbarung umfassen. Dies würde bedeuten, dass Großbritannien nicht mehr das Sprungbrett für Unternehmen in den größten Binnenmarkt der Welt wäre. Realistisch erscheinen Berechnungen von Holger Schmieding, der unter diesen Annahmen einen Rückgang des Trendwachstums von real 2,1 Prozent auf 1,8 Prozent schätzt (das ist immer noch höher als das Trendwachstum des Euroraumes mit 1,6 Prozent, das besonders durch strukturelle Wachstumsschwächen in Italien und Frankreich begrenzt wird). Weitere wirtschaftliche Parameter werden sich verändern. So ist zu erwarten, dass die angekündigten Steuersenkungen und weitere fiskalische Stimuli den Schuldenstand Großbritanniens stärker ansteigen lassen wird, als dies ohne Brexit eingetreten wäre. Neben einer gelockerten Fiskalpolitik wird die Geldpolitik der Bank of England, die schon heute rund ein Drittel der britischen Staatsschuld hält, expansiver und dies über längere Zeiträume hinweg als ohne den Brexit.
Auf allen Seiten nur Verlierer
Berücksichtigt man die relativ geringere Bedeutung des wirtschaftlichen Austausches mit Großbritannien wird der Effekt auf das Trendwachstum der EU-27 eher marginal sein: Geringere Exporte werden wahrscheinlich durch die Verlagerung von Jobs in die EU-27 wettgemacht. Aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen innerhalb der EU-27 werden einzelne Länder unterschiedlich betroffen sein. So zeigt das DIW in einer Simulation, dass Deutschland im Hinblick auf BIP und Investitionstätigkeit kurzfristig stärker betroffen sein wird als der Euroraum insgesamt. Der Grund ist die starke Bedeutung der Industrie in Deutschland, allen voran des Maschinenbaus. Interessant wird die Entwicklung für Irland, das einerseits von Standortverlagerungen profitieren, anderseits von einer möglicherweise neuen Binnenmarktgrenze negativ betroffen sein könnte.
Fazit: Eine um das Vereinigte Königreich amputierte Europäische Union wird global an Einfluss verlieren, der europäische Binnenmarkt und speziell der Finanzmarkt werden weiter fragmentiert. Ein Austritt mag vereinzelte Gewinner hervorbringen, aber insgesamt gibt es auf allen Seiten nur Verlierer. Europa wird Bedeutung einbüßen, politisch wie wirtschaftlich. Großbritannien aber wird noch kleiner. Nur geteilte Souveränität in Europa kann uns Europäern im 21. Jahrhundert globale Mitsprache und Gestaltungsmacht sichern. Das Instrument dafür ist und bleibt die Europäische Union, bei allen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Uns in Europa wird die Liberalität der Briten, ihr Freihandelsdenken, ihre Disziplin bei EU-Haushaltsberatungen und ihre Schlagkraft in der Außenpolitik fehlen. Aber auch kulturell ist der Brexit ein Verlust: Monty Python kommt nicht zufällig von der Insel. Der britische Humor, der auch über sich selbst lachen kann, hat Weltklasse.