Wovon wollen wir morgen leben?
Der Wirtschaftsausblick für die nächsten drei, vier oder auch fünf Quartale kann einen entspannt bleiben lassen: Die deutsche Wirtschaft wird real zwischen einem und zwei Prozent wachsen, getrieben durch eine stabile Binnennachfrage, die von einem Allzeithoch von fast 43 Millionen Beschäftigten profitiert. Wir ernten heute die Früchte vergangener Reformen, die verschiedene Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmer betrieben haben. Sorgen muss einem hingegen der langfristige Ausblick bereiten: Wir grenzen bisher rein negativ ab, wovon wir morgen nicht leben wollen: Wir wollen keine Atomenergie, kein Fracking, Banken nur in Form von Sparkassen, keine Freihandelsabkommen, keine Stromtrassen, am liebsten keine Kohleenergie, keine Gentechnologie, keine neuen Bahnhöfe – und Flughäfen wollen wir manchmal, können sie aber offenbar nicht fertigstellen. Diese Negativauswahl für das Business-Modell des Standortes Deutschland wird verstärkt durch die sozialen Medien. Diese machen es leichter, solche Negativkoalitionen zu bilden, schaffen es in der bisherigen Konfiguration aber nicht, Positivallianzen hervorzubringen.
Warum wir wieder Reformen brauchen
Es mag für jedes einzelne dieser abgelehnten Konzepte gute Begründungen geben, in der Summe aber unterminieren sie das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft und damit zugleich der europäischen Ökonomie. Dieses Dilemma ist bereits früher, 2002 von Gerhard Schröder und 2008 von Frank-Walter Steinmeier, wiederholt deutlich formuliert worden: Wenn wir uns alle wechselseitig die Haare schneiden, werden wir den Wohlstand dieses Landes nicht sichern. Der OECD-Wirtschaftsbericht vom Mai dieses Jahres konstatiert nun: Ohne weitere Strukturreformen wird die Potenzialwachstumsrate in Deutschland aufgrund der Bevölkerungsalterung in den kommenden 20 Jahren voraussichtlich abnehmen und das reale Potenzialwachstum auf unter ein Prozent sinken. Auch der Internationale Währungsfonds lenkte in seiner Frühjahrsprognose 2015 den Blick auf die längere Sicht, mit ähnlichem Ausblick.
Demografie und Digitalisierung
Das Wachstumspotenzial eines Landes setzt sich aus drei Faktoren zusammen: Arbeit, Kapital und Technologie beziehungsweise Produktivität. An allen drei muss man ansetzen, um unser Wachstumspotenzial zumindest zu stabilisieren. Dabei sind wir zwei Megatrends ausgesetzt, den beiden großen D’s: Demografie und Digitalisierung, und das inmitten einer globalisierten Weltwirtschaft, eines europäischen Binnenmarktes und eines gemeinsamen Währungsraums. Über die demografische Entwicklung wissen wir eine ganze Menge, da entsprechende Prognosen relativ stabil sind. Bei der Digitalisierung hingegen stehen wir erst am Anfang der Erkenntnisse mit dementsprechend hoher Unsicherheit.
Der demografische Wandel, über den wir schon lange reden, ist keine Fiktion mehr, sondern Realität. In den nächsten 15 Jahren wird sich die Situation verschärfen. Die neueste Bevölkerungsvorausschätzung des Statistischen Bundesamtes zeigt deutlich auf, dass wir in Deutschland weniger und älter werden: Unter der Annahme einer durchschnittlichen Nettozuwanderung von 200 000 Personen pro Jahr dürfte sich die Bevölkerung von knapp 82 Millionen auf rund 73 Millionen im Jahr 2060 verringern. Die Zahl der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter von 20 bis 66 Jahren wird im gleichen Zeitraum von etwa 51 Millionen auf unter 40 Millionen sinken. Gleichzeitig wird die Zahl der über 70-Jährigen von heute 13 Millionen auf mehr als 18 Millionen ansteigen.
Die Digitalisierung, das „neue Maschinenzeitalter“, steht erst am Anfang. Sie wird uns die Arbeit nicht wegnehmen, aber in der ersten Phase kann es dazu kommen, dass einige klassische Berufsbilder verschwinden (zum Beispiel die Kassiererin im Supermarkt oder der Lastkraftfahrer). Es ist eine technische Revolution mit all der disruptiven Kraft, die Revolutionen innewohnt. Auch soziale Spannungen sind nicht auszuschließen. In einer zweiten Phase werden dann wieder mehr und bessere Jobs entstehen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Zahl der Selbständigen zunehmen, und dies hat Folgen für die soziale Absicherung des Einzelnen wie für die sozialen Sicherungssysteme insgesamt, weil der Ansatzpunkt für diese Absicherung bisher immer ein Arbeitsvertrag ist. Kann es zum Beispiel in Zukunft dabei bleiben, dass allein abhängig Beschäftigte in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert sind? Das jüngst vorgestellte Grünbuch Arbeiten 4.0 des Bundesarbeitsministeriums wirft einen offenen Blick auf die Arbeitswelt von morgen.
Ein Rückgang des Arbeitskräfteangebots senkt das Potenzialwachstum, daher müssen alle möglichen Schritte unternommen werden, den Rückgang zumindest abzuschwächen. Dazu gehören fünf Wege: Erstens mehr qualifizierte Zuwanderung, zweitens eine weiter steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen. Dazu müssen die Kinderbetreuungsmöglichkeiten weiter verbessert werden, aber noch wichtiger ist der Kulturwandel, der nicht per Gesetz verordnet werden kann, und dieser ist genau zur Hälfte Männersache. Drittens bedarf es einer gesteigerten Erwerbsbeteiligung älterer Menschen, möglicherweise durch einen gleitenden Übergang von der Arbeit in den (Un-)Ruhestand – weg von starren Altersgrenzen beim Renteneintritt, hin zu einem Zeitkorridor. Gesundheitszustände und Berufe sind nun einmal unterschiedlich, und die Mehrheit von uns arbeitet nicht als Dachdecker. Realistisch wäre zum Beispiel nach Erreichen einer Altersgrenze flexibel noch einen gewissen Teil zu arbeiten und einen Teil Rente zu beziehen. Viertens müssen Menschen mit Behinderungen besser in den Arbeitsmarkt einbezogen werden. Hier schlummert ein oft zu wenig beachtetes Potenzial arbeitsbereiter und arbeitsfähiger Menschen. Und fünftens schließlich muss uns die Reintegration der knapp einer Million Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt gelingen.
Weniger Konsum, mehr Investitionen
Das Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft hängt von der Größe und der Modernität des Kapitalstocks ab, wobei dieser immer weniger allein durch den physischen Kapitalstock beschrieben werden kann. Es gibt zahlreiche Studien zu diesem Thema, gut zusammengefasst in dem Bericht Stärkung von Investitionen in Deutschland im Auftrag des Bundeswirtschaftsministers. Beklagt werden hohe Defizite bei öffentlichen Investitionen, Rückstände bei privaten Investitionen und eine abnehmende Modernität des Kapitalstocks in Deutschland – eine Analyse, die aber auch für viele andere europäische Länder gilt. Dabei beträgt das Verhältnis der öffentlichen zu den privaten Investitionen ungefähr eins zu zehn, rund die Hälfte der öffentlichen Investitionen tätigen in Deutschland die Städte und Gemeinden. Die öffentlichen Investitionen können durch eine veränderte Struktur der öffentlichen Haushalte gesteigert werden, was allerdings politisch in einer alternden Gesellschaft keine einfache Umsteuerung ist: hin zu mehr Investitionen, zulasten geringerer Konsumausgaben.
Für die privaten Investitionen ist die wesentliche (wenn auch nicht einzige) Determinante die zukünftige Rentabilität eines Marktes. Auch hier spielt die Demografie hinein: Eine rückläufige Bevölkerungszahl senkt die Zahl möglicher Konsumenten. Das spiegelt sich in dem Investitionsverhalten der DAX-30-Unternehmen wider. Sie investieren, aber nicht in Deutschland, sondern in zukünftigen Märkten wie Indonesien, Türkei, China oder Indien (der ganze Nachbarkontinent Afrika ist dabei für deutsche Unternehmen bisher wenig im Blickfeld). Hier können Deutschland und Europa attraktiv sein, indem sie den europäischen Binnenmarkt in vollem Umfang nutzen, zum Beispiel in den Bereichen Dienstleistungen und Energie sowie durch die Vollendung eines transatlantischen Handelsplatzes. Auch dieser Weg ist politisch nicht einfach, die Schaffung eines echten Binnenmarktes bei Dienstleistungen erfordert die Überwindung der vested interests bisher geschützter Berufe wie Notar oder Apotheker. Ein erster Schritt könnte ein von Deutschland und Frankreich angeführter wirtschaftspolitischer Schengenraum sein, wie ihn Henrik Enderlein und Jean Pisany-Ferry vorgeschlagen haben.
Wer nur auf Sicht fährt, läuft auf Grund
Der dritte Einflussfaktor jedes Wachstumsmodells ist die verwendete Technologie oder einfacher: die Produktivität. Das Produktivitätswachstum in Deutschland ist seit Jahren gering, der Trend sogar rückläufig. Die Ursachen sind auch nach vielen wissenschaftlichen Studien nicht eindeutig geklärt. Diese Abschwächung des Produktivitätstrends ist wie die Investitionsschwäche kein deutsches Phänomen, sondern Teil eines globalen Trends, der besonders in entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten ist. Liegt es daran, dass die sechste oder zehnte Version eines iPhones nicht mehr den Quantensprung an Fortschritt bringt wie die erste Version? Wird es im Zuge des digitalen Wandels technologische Quantensprünge vergleichbar mit der Dampfmaschine als Grundlage für die erste industrielle Revolution geben? Wie bleibt eine alternde Gesellschaft als Ganzes innovativ, wo doch jeder Einzelne mit zunehmendem Alter – zumindest im Durchschnitt – risikoaverser wird?
Was bedeutet die Notwendigkeit der Stabilisierung des Wachstumspotenzials für die Politik? Wie Peer Steinbrück jüngst richtigerweise (in Heft 2/2015 der Berliner Republik) festgestellt hat, ist die SPD eine strukturkonservative Partei geworden. Was müssen wir tun, um uns wieder dem Morgen zuwenden zu können? Um wieder auf der Höhe der Zeit zu sein? Um nicht nur die Partei der Transferempfänger und über 60-Jährigen zu sein? Um die Frage der arbeitenden Mitte und vor allem ihrer Kinder und Kindeskinder zu beantworten: Wovon wollen wir morgen leben? Das Leitmotiv dafür hat niemand griffiger formuliert als Anthony Giddens: „The whole point of the revised European social model is to combine economic dynamism with social justice.“ Dazu sollten wir einen offenen Diskurs führen, statt in Angststarre vor der Demografie und der Digitalisierung zu verfallen. Andere Staaten haben einen solchen Diskurs begonnen, so Frankreich mit den Arbeiten von France Stratégie und dem Bericht „Quelle France dans dix ans?“, veröffentlicht im Juni 2014.
Der Slogan von Willy Brandt aus dem Bundestagswahlkampf 1972 bleibt unverändert richtig: „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.“ Es lohnt sich, für eine progressive europäische politische Kraft zu arbeiten, die dem Modell einer offenen Gesellschaft folgt. Die SPD kann ein Teil davon sein.«