Vor der Hacke ist es duster

Die Zukunft der Sozialdemokratie ist offen, ihr Niedergang nirgendwo historisch vorbestimmt. Aber wenn die SPD in den kommenden Jahren noch einmal erfolgreich ins Rollen kommen will, muss sie wieder mehr Enthusiasmus für Neues entwickeln - und ihre Kompetenz auf dem Feld der Ökonomie ausbauen

Wahlforscher belegen nicht erst seit gestern, dass die SPD in der Wahrnehmung der Bürger auf kaum einem anderen Feld so sehr das Nachsehen hat wie bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist nicht neu und den Sehtüchtigen in der SPD auch hinlänglich bekannt. Deshalb gibt es in unregelmäßigen Abständen einzelne Stimmen, die dies kritisch aufspießen – und dann verhallen. Einige fähige Wirtschaftspolitikerinnen und -politiker der SPD haben sich darüber frustriert zurückgezogen oder sind in die Wirtschaft abgewandert. Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab: Präsentation ernüchternder Kompetenzwerte, Ansage eines massiven Korrekturbedarfes, vereinzeltes Kopfnicken bei zahlreichen Ermahnungen, die sozialpolitische Kernkompetenz dürfe aber nicht infrage gestellt werden, und dann wird weitergemacht wie bisher – bis die nächste demoskopische Erhebung einschlägt.

Kein Nachholbedarf beim Sozialen

Die jüngsten Einlassungen, die Wirtschaftskompetenz der SPD zu steigern, kamen von Parteichef und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann, dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und dem hessischen Landesvorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel. Die Stichworte klingen vielversprechend: Digitalisierung der Wirtschaft, leistungsfähige Infrastruktur, Fachkräftequalifizierung, wettbewerbsfähige Standortkosten, neues Wachstum und Innovation, ein positives Bild von Selbständigkeit und Gründungen. Die Nagelprobe anlässlich konkreter Entscheidungen auch im Widerstreit mit bisherigen Positionen steht allerdings aus. Ebenso die nötige moralische, formale und politische Unterstützung derjenigen, die neues Denken mitbringen und sich von den Statthaltern sozialdemokratischer Gewissheiten nicht beeindrucken lassen.

Die SPD hat auf dem sozialpolitischen Feld keinen Nachhol- und Nachhilfebedarf. Umso mehr schwächelt sie auf dem zweiten Feld, auf dem Wahlen gewonnen werden: bei der wirtschaftlichen Kompetenz. Hier vor allem muss sie ihr Profil stärken, und dazu will ich mit einem kleinen Katalog von Beispielen beitragen. Initiativen zur fachlichen Qualifizierung angesichts eines um sich greifenden Fachkräftemangels sind ebenso richtig und hochwillkommen wie Initiativen zum Erhalt und Ausbau der Infrastruktur (Breitband), zur Verbesserung der Erwerbstätigkeit (und gleichen Bezahlung) von Frauen, zur sicheren und bezahlbaren Energieversorgung oder zum Transfer von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in die Wirtschaft. Aber mehr noch muss die SPD an einem wirtschaftlichen »Überbau« arbeiten, um aufzuschließen. Damit meine ich eine generelle Wertschätzung und Anerkennung von Unternehmertum, beruflicher Selbständigkeit und Existenzgründungen. Wenn ein SPD-Politiker einen Existenzgründer trifft, sollte er ihn weniger nach seiner Selbstausbeutung und Altersversorgung, nach Sozialräumen und Arbeitszeitregelungen als vielmehr nach Gründungskapital, bürokratischen Auflagen und dem Steuervollzug fragen.

Partei der digitalen Aufklärung

Die Würdigung eines unternehmenden Unternehmertums darf sich selbstredend nicht auf Reden bei der örtlichen Industrie- und Handelskammer oder vor der Handwerkskammer beschränken. Sie muss konkret werden:

•    beispielsweise in einem erleichterten Steuervollzug für 4,4 Millionen Selbständige;

•    beispielsweise in der Förderung von Existenzgründern, von unternehmungslustigen und kreativen Jungunternehmern, die zum Vorbild für die nächste Generation werden könnten;

•    beispielsweise durch eine (erneute) an der Betriebspraxis orientierte Durchforstung investitionshemmender Auflagen;

•    beispielsweise durch eine hohe ordnungspolitische Verlässlichkeit bei der Rahmensetzung, um so für mehr Investitionssicherheit zu sorgen;

•    beispielsweise in der Abwehr europäischer Auflagen und Standards, die unnötig wie ein Kropf kostensteigernd und wettbewerbsverzerrend sind (weil der Ehrgeiz in Europa, sie um- und durchzusetzen, unterschiedlich ausgeprägt ist);

•    beispielsweise durch ein Energie- und Rohstoffprogramm, das der deutschen Industrie mittelfristig Perspektiven gibt;

•    beispielsweise durch eine Steuerpolitik, die das Betriebsvermögen des deutschen Mittelstandes und der vielen Familienunternehmen im Vererbungsfall schont und von einer Substanzbesteuerung frei hält.

Die Umsetzung solcher und weiterer Maßnahmen wäre für die deutsche Wirtschaft wichtiger als die eine oder andere entlastende Drehung an der Steuerschraube oder die Bewilligung von Zuschüssen.

Von zentraler Bedeutung für die künftige Einschätzung ihrer wirtschaftlichen Kompetenz wird die Positionierung der SPD in der vierten industriellen Revolution sein. Die digitale Technik wird nicht nur die industriellen Kernbereiche erfassen und durchdringen, sie wird die gesamte Arbeitswelt fundamental verändern. Die damit verbundenen Chancen und Risiken in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zu durchschauen setzt ein Verständnis der digitalisierten, von Algorithmen gesteuerten Prozesse, ihres Charakters und ihrer Potenziale voraus, das über die bisherigen Anforderungen an den politischen Sachverstand weit hinausgeht. Nur eine Partei, die in diesen Fragen geeignete Bewertungsmaßstäbe findet, darf sich als Partei der Aufklärung verstehen.

Verliert die SPD den Anschluss?

Noch ein Wort zur Finanzpolitik. Für die meisten Wähler ist der solide Umgang mit den Staatsfinanzen – und damit den Steuern der Bürger – ein wichtiges Kriterium für ihre politische Präferenz. Eine Partei, die sich dem Verdacht aussetzt – und die SPD gerät eher in diesen Verdacht als die Union –, man wolle von den grundgesetzlich und in den Ländern verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremsen Abstand nehmen, dürfte politisch abgestraft werden. Die Flucht aus Verteilungskonflikten in weitere Verschuldung ist nicht mehrheitsfähig; in den Augen vieler Bürger wäre dies eine (weitere) Verletzung der Generationengerechtigkeit. Im Übrigen hat die Verschuldungspolitik der vergangenen zwanzig Jahre unsere Gesellschaft keineswegs gerechter gemacht. Seit dem Mauerfall hat die Ungleichheit in Deutschland trotz einer Steigerung der ausgewiesenen Staatsverschuldung von 600 Milliarden Euro (1991) auf 2 000 Milliarden Euro (2013) zugenommen.

Vielen erscheint die SPD nicht mehr avantgardistisch, fortschrittlich und modern, sondern sozial- und strukturkonservativ, eher an den Risiken als an den Chancen orientiert. So pauschal trifft das sicher nicht zu. Aber das Substrat solcher Vorwürfe ist ernstzunehmen: Der SPD fehle der Enthusiasmus und der Unternehmungsgeist für Neues. Sie käme häufig verspätet in den sich ändernden Realitäten an, ihr drohe deshalb der Anschluss an die Gesellschaft verlorenzugehen. Ihr Held sei nicht der Minister, Bürgermeister oder Landrat mit einer klaren Grammatik des Handels, sondern der Idealist auf dem Parteitag – gesinnungsstark, aber unrealistisch, wie Peter Glotz schon vor Menschengedenken treffend formulierte.

Noch bleiben zweieinhalb Jahre

Einige Genossinnen und Genossen in tiefroten Parteizirkeln, auch in den höheren Gremien, glauben, dass die Spitzenkandidaten und Führungspersönlichkeiten der SPD den mehrjährigen Praxistest als lupenreine Sozialdemokraten bestanden haben müssen – linientreue Zehnkaräter, bibelfest und im Milieu zu Hause, eingeschworene Parteisoldaten eben. Das ist ein fundamentaler Irrtum! Politik wird heute mehr denn je über Personen vermittelt. Sie müssen glaubwürdig, souverän und emphatisch wirken. Die Chancen dafür steigen, je weniger sie vom Wähler als Funktionäre wahrgenommen werden. Für eine eingewurzelte Programmpartei wie die SPD ist das schwer zu akzeptieren. Wenn die SPD in Bund und Ländern aber keine kantigen, selbstbewussten Spitzenkandidaten oder -kandidatinnen mehr zu präsentieren vermag und lieber durch den Partei-TÜV zertifizierte Vertreter ins Rennen schickt, dann braucht sie gar nicht erst anzutreten – es sei denn, sie will gar nicht auf den Fahrersitz.

Die Personalrekrutierung der SPD wird sich ändern müssen. Mehr Eigenschaften, die dem Wähler imponieren, statt solcher, die in der Parteiorganisation ankommen. Mehr Berufserfahrung in der Breite als klassische Karrieren im Apparat. Mehr Präsenz in gesellschaftlichen Organisationen aller Art als auf Delegiertenkonferenzen und Partei-Workshops. Wie jedes Unternehmen, das im Wettbewerb steht, wird auch die SPD eine Abteilung „Human Resources“ aufbauen müssen. Es ist ein gefährlicher Irrtum, zu glauben, Führungspersonal müsste vor allem sozialdemokratisch sozialisiert sein und von unten rekrutiert werden nach dem Motto: Jeder Ortsverein benennt die Kandidaten mit dem schönsten Adolf-Kolping-Lächeln.

Nichts steht geschrieben, und vor der Hacke ist es duster. Was im Bergmannsjargon so viel heißt wie: Niemand kann wissen, was passiert. Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es voraussichtlich zweieinhalb Jahre. Viel Zeit für die SPD, ihre Chancen in der dritten Großen Koalition zu nutzen. Unter der Führung von Sigmar Gabriel hat sie bisher bereits gute Arbeit geleistet. Sie kann viele vernünftige Initiativen starten und durchsetzen, die für sich genommen hohe parteiübergreifende Zustimmung erfahren. Sie kann mit ihrer Kabinettriege glänzen. Insbesondere auf dem Gebiet der Außenpolitik muss sie der Garant für Vernunft bleiben. Und wenn sie auch als Partei bis zum Ende der Legislaturperiode weiterhin geschlossen auftritt, wird das ihre Chancen, 2017 besser abzuschneiden als beim letzten Mal, deutlich erhöhen.

Fortschritt durch Augenhöhe

Trotzdem besteht die Gefahr, dass die SPD bei der nächsten Bundestagswahl mit einem Plus von vielleicht zwei bis drei Prozentpunkten bei nur 27 bis 28 Prozent landet. Manche regionalen und organisatorischen Schwächen sind bis dahin möglicherweise nicht zu beheben. Eine wichtige Rolle wird spielen, wen CDU /CSU ins Rennen schicken und ob gegebenenfalls die Aura von Frau Merkel, wenn sie denn wieder kandidieren sollte, bis dahin nicht einen gewissen Überdruss weckt. Von ausschlaggebender Bedeutung aber wird das Kompetenzprofil der SPD auf dem zentralen Feld der Wirtschafts- und Finanzpolitik sein. Hier muss sie es zumindest auf Augenhöhe mit der Union bringen.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Vertagte Zukunft: Die selbstzufriedene Republik“, das gerade im Hoffmann und Campe Verlag erschienen ist. Es hat 304 Seiten und kostet 22,00 Euro.

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