Was haben wir morgen vor?
Laut einer aktuellen Infratest-Umfrage ist eine große Mehrheit der Deutschen für Steuererhöhungen. Derselben Umfrage zufolge glaubt eine große Mehrheit zugleich, dass genau diese Forderung dem rot-grünen Wahlkampf schadet. Wie bitte? Nein, wir Deutschen sind nicht schizophren – wir haben uns nur auf die falsche Debatte eingeschossen.
Angstvoll schauen nicht wenige mit dem Mikroskop auf den eigenen Steuerbescheid statt mit dem Fernglas auf die Ziele, die hinter Steuererhöhungen stehen. Die Fernglas-Perspektive lautet: Eine Gesellschaft, die sich gemeinsam etwas vornimmt, kann Großes erreichen. Die Geschichte ist reich an stolzen Vorbildern: das Projekt Europa etwa, die deutsche Wiedervereinigung, Amerikas New Deal oder John F. Kennedys „Man to the Moon“-Projekt. In diesen Sternstunden war es niemals nur ein Einzelner – kein genialer Forscher, kein unerschrockener Unternehmer, kein charismatischer Politiker, kein tüchtiger Arbeiter –, sondern immer eine Gemeinschaft mit ihren tausend Einzelleistungen, die sich etwas zugetraut hat. Als Kennedy das Apollo-Projekt der Nasa besuchte, ging er auf einen Mitarbeiter zu, der gerade den Boden des Labors kehrte. Kennedy fragte ihn: „Und, was ist Ihr Job?“ Der Mann antwortete: „Mister President, I am helping to put a man on the moon.“ Genau diesen Geist meint die SPD mit dem Satz „Das Wir entscheidet“.
Durchsichtiger Alarmismus ist kein Argument
Das ist die Perspektive, für die wir mehr öffentliche Investitionen brauchen – Investitionen, die solide finanziert sind. Ein ehrlicher und unaufgeregter Blick durch das Mikroskop zeigt: Was die SPD konkret plant, passt tatsächlich auf einen Daumennagel. Wir wollen den Spitzensteuersatz auf 49 Prozent erhöhen, ab 200.000 Euro zu versteuerndem Einkommen für Verheiratete. Das betrifft weniger als fünf Prozent der Steuerzahler. Wir wollen die Kapitalertragssteuer von 25 auf 32 Prozent erhöhen und eine Finanztransaktionssteuer einführen, die zu 85 Prozent Geschäfte zwischen Finanzinstitutionen betrifft. Wir wollen eine Vermögenssteuer erheben – und zwar ausschließlich auf sehr hohe private Millionenvermögen, nicht aber auf die Substanz von Unternehmen. Und wir wollen die von der Regierung Merkel gewährten Subventionen abbauen – allen voran werden wir mit der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns die größte Einzelsubvention beenden, nämlich das amtliche Aufstocken von Niedriglöhnen. Nicht mehr und nicht weniger. Alle anderslautenden Rechenmodelle, die mittlere Einkommensbezieher und mittelständische Unternehmen mit der vermeintlichen kalten sozialistischen Hand erschrecken sollen, sind Wahlkampfgeklingel. Im Übrigen lenkt dieser durchsichtige Alarmismus von der statistisch belegten Drift in der Einkommens- und Vermögensverteilung zugunsten der oberen Etagen ab.
Was die Kita um die Ecke möglich macht
Mehreinnahmen fordern wir nicht aus einem sozialdemokratischen Robin-Hood-Komplex heraus, sondern weil eine Gesellschaft, die etwas vorhat, auf mehr öffentliche Investitionen angewiesen ist. Auf meinen Bundesreisen der vergangenen Monate habe ich unzählige Menschen getroffen, die sich etwas vornehmen. Zum Beispiel die Unternehmensgründerin in Leipzig, die 30 Arbeitsplätze geschaffen hat, während sie zugleich mit ihrem berufstätigen Mann Zwillinge großzieht. Oder die Metallarbeiter im Siegerland, deren Walzwerke in die ganze Welt exportiert werden. Die beiden Theatermacher in Saarbrücken, die auf ihrer freien Bühne Begegnungen zwischen Menschen ermöglichen, die sich sonst nie treffen würden. Der Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover, der mit seinem Team ein Hörimplantat entwickelt hat, mit dessen Hilfe ein von Geburt an taubstummer Junge heute einer der besten Vorleser seiner Klasse ist.
Alle diese Menschen haben mir gesagt: Ohne öffentliche Investitionen schaffen wir es nicht. Die Unternehmerin erzählte, dass ihre eigene Erfolgsgeschichte nur wegen der Kita um die Ecke möglich war. Heute aber hat sie wegen fehlender Kitaplätze zunehmend Schwierigkeiten, junge Mütter und Väter einzustellen. Die Metallarbeiter sagten, sie müssten ganze Chargen wegschmeißen, weil sich wegen mangelnder Netzinvestitionen die Stromausfälle häuften. Und dass sie Sorgen hätten, ihre schweren Walzwerke zum Export zu kriegen, weil auf der Sauerlandlinie A45 fast 80 Brücken baufällig sind. Die Theatermacher berichteten, dass die Stadt vor Jahren anderthalb Millionen Euro in eine neue Spielstätte investiert habe – aber heute ist die Stadtkasse überschuldet. Der Professor klagte über mangelnde Forschungs- und Hochschulinvestitionen, während die Zinslast des Schuldenbergs einen immer größeren Teil des Bundeshaushaltes und der Länderhaushalte auffrisst.
Diese Erfahrungen sind in den Statistiken glasklar belegt.
— Bei der Bildung: Im Vergleich zum OECD-Durchschnitt investieren wir jedes Jahr über 20 Milliarden Euro zu wenig.
— Bei der Infrastruktur: Im Verkehrsnetz fehlen 7 Milliarden Euro allein zur Instandhaltung, und beim Internet-Breitbandausbau sowie in der Internetgeschwindigkeit liegt Deutschland hinter Rumänien.
— Bei den Städten und Gemeinden: Wegen kommunaler Überschuldung herrscht ein Investitionsstau von 100 Milliarden Euro.
— Beim Schuldenmachen: In vier Jahren hat Schwarz-Gelb ohne Not 100 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen und den folgenden Generationen als Wackersteine ins Gepäck gelegt.
Ich verpflichte mich, dass eine von mir geführte Regierung Steuermehreinnahmen vollständig in diese vier Ziele stecken wird: in die Bildung, in die Infrastruktur, in unsere Städte und Gemeinden sowie in die Einhaltung der Schuldenbremse. Wir werden jedes Jahr nachweisen, dass unsere Steuerpolitik in diese öffentlichen Güter und nur in diese fließt. Denn sie sind das Fundament einer Gesellschaft, die sich etwas vornimmt. Und Steuern – so hat es Franklin D. Roosevelt, der Vater des New Deal, ausgedrückt – sind nun einmal der „Mitgliedsbeitrag einer organisierten Gesellschaft“, die solche öffentlichen Güter bereitstellt – und Schulden reduziert.
Gleichzeitig sind Steuern mehr als ein Mitgliedsbeitrag. Sie geben einer Gemeinschaft überhaupt erst Gestaltungskraft. In einer Demokratie erfüllt sich die revolutionäre Parole „No taxation without representation“: Wir entscheiden gemeinsam, hinter welchem großen Projekt wir uns versammeln und wofür wir Steuern erheben. Das haben wir Deutschen bereits bewiesen: mit dem Aufbau der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Krieg, mit dem europäischen Projekt, und mit unserer Wiedervereinigung. Und heute, nach der Zäsur der Finanzkrise, zwischen den ideologischen Polen eines exzessiven Finanzkapitalismus und eines chinesischen Staatskapitalismus, können wir der Welt eine freie und solidarische Alternative des 21. Jahrhunderts bieten.
Ökonomisch richtig – und sozial gerecht
Diese Alternative ist eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft, in der wirtschaftlicher Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe kein Widerspruch sind, sondern einander bedingen. Diese Wechselbeziehung wird unser Regierungshandeln durchziehen: Aufstiegschancen durch Bildung sind ökonomisch richtig, weil sie dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Aufstiegschancen durch Bildung sind sozial gerecht, weil es nicht sein darf, dass die soziale Herkunft den Lebensweg junger Menschen vorherbestimmt. Investitionen in Infrastruktur sind ökonomisch richtig, weil sie die Grundlagen für neues Wachstum sind, aber von privaten Märkten allein nicht gestemmt werden. Investitionen in Infrastruktur sind sozial gerecht, weil sie Lebensqualität und Berufschancen für alle verbessern, in der Stadt wie auf dem Land. Die Bändigung der Finanzmärkte ist ökonomisch richtig, weil Finanzmärkte für reale Wertschöpfung und nicht zur Spekulation da sind. Die Bändigung der Finanzmärkte ist sozial gerecht, weil es einfach nicht sein darf, dass Gewinne privatisiert und Verluste vergemeinschaftet werden.
Für diese Neuverortung der Sozialen Marktwirtschaft dient mir persönlich als ethischer Kompass ein Bibelwort aus dem fünften Buch Mose: dass du aus Brunnen trinkst, „die du nicht gebaut hast“, und von Ölbäumen erntest, „die du nicht gepflanzt hast“. Wirtschaftlicher Erfolg erwächst nie aus der Leistung des Einzelnen allein, sondern immer auch aus einem dichten Netz gesellschaftlicher Voraussetzungen: den „Brunnen“ einer soliden Infrastruktur etwa oder den „Ölbäumen“ guter Bildung. Auf dieser Einsicht gründet das Bündnis zwischen Starken und Schwachen und mit ihm das Fundament gemeinsamer Vorhaben. Und genau darüber, und nicht mit dem engen Blick durch das Ego-Mikroskop, sollten wir in der Steuerfrage debattieren: Was haben wir eigentlich morgen vor? Ich freue mich auf diese Debatte, denn ich will Politik machen für alle Menschen in unserem Land, die etwas vorhaben.