Gute sozialdemokratische Politik
Damals mussten wir Sozialdemokraten wegräumen, was Union und FDP seit dem Sturz Helmut Schmidts im Jahr 1982 an Erblasten angehäuft hatten: Nicht nur mental einen Zustand des quälenden Reformstaus, sondern handfeste Negativrekorde bei den Arbeitslosenzahlen (2,4 Millionen mehr Arbeitslose als 1982), historische Höchststände bei der Steuer- und Abgabenbelastung (insgesamt 20 Steuererhöhungen, allein je dreimal Mehrwertsteuer und Mineralölsteuer, Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge von 34 Prozent auf über 42 Prozent), Rekorde bei der Staatsverschuldung (viermal höher als 1982), Minusrekorde beim Wirtschaftswachstum, viel zu geringe Investitionen in Zukunftsbereiche, eine verfallende Infrastruktur, hinterste Plätze in den internationalen und europäischen Standortrankings – und so weiter. Auch wenn Vieles davon das Ergebnis falscher wirtschaftspolitischer Weichenstellungen nach der Wiedervereinigung war, bleibt doch festzuhalten: Das Land der sozialen Marktwirtschaft war in den internationalen und nationalen Kommentaren vom weltweit viel beachteten Vorbild zum kranken Mann Europas abgestiegen.
So sehr dies das Selbstbewusstsein vieler Deutscher bedrückte, alarmierender war für uns Sozialdemokraten die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft immer schärfer spaltete in eine Minderheit, die von den herrschenden Verhältnissen profitierte, und in eine wachsende Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern bis tief in die Mittelschichten, die zwar immer höhere Steuern und Abgaben zahlen mussten, deren Arbeitsplätze und Lebensentwürfe aber zunehmend unsicherer wurden. Wir hatten es vor zehn Jahren also mit einer Gesellschaft zu tun, in der die Teilhabechancen immer kleiner und die Lebensrisiken immer größer wurden – und das beileibe nicht nur in Ostdeutschland. An diesen prekären Zustand unseres Landes sollten wir (uns) erinnern, wenn Bilanz gezogen wird über zehn Jahre sozialdemokratischer Beteiligung an der Bundesregierung.
Schwieriger Start nach 16 Jahren Kohl
Nun will ich keineswegs behaupten, dass wir Sozialdemokraten und auch die Grünen damals einen guten Start hingelegt hätten. Wir haben einiges verstolpert, manche Chance nicht genutzt und auch manche unangenehme Erkenntnis (Stichwort demografischer Wandel!) zunächst nicht in Regierungshandeln umgesetzt. Auch mussten wir nach 16 Jahren Opposition schlicht und einfach das Regierungshandwerk wieder erlernen – und das mit einer Ministerialbürokratie, die in großen Teilen schwarz-gelb sozialisiert worden war.
Dennoch: Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist uns Vieles gelungen – für die Menschen und das Land. Nur ein Beispiel: Wie sah es denn Ende der neunziger Jahre mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus? Stockduster! Gerade in den unionsregierten Bundesländern war die Betreuungsinfrastruktur unterentwickelt. Bis heute bestimmt ein traditionelles Familienbild die Familienpolitik in einigen unionsgeführten Ländern. Uns ging es damals zunächst um den Ausbau der Ganztagsbetreuung, später um den Ausbau der Kinderbetreuung der unter 3-Jährigen oder um das Elterngeld, das die Regierung Gerhard Schröder im Bundeskanzleramt und im Ministerium von Renate Schmidt entwickelte. Seit 1998 hat sich gerade in diesem für die Gleichberechtigung, für die Integration und für die Bewältigung des demografischen Wandels so ausgesprochen wichtigen Feld vieles eindeutig verbessert. Für uns Sozialdemokraten ist die Familienpolitik ein Kernbereich guter sozialdemokratischer Politik.
Im Rückblick ziemlich erfolgreich
Darauf können wir stolz sein – und auf vieles mehr: Wir haben Deutschland seit 1998 mit einer Reihe mutiger Schritte und Reformen in das 21. Jahrhundert geführt – auch schon vor der Agenda 2010. Im Rückblick betrachtet waren wir bei allem, was es zu bemängeln und zu bemäkeln gibt, ziemlich erfolgreich. Und zwar für die Menschen, für die wir in den Jahren 1998, 2002 und 2005 angetreten sind. Zum ganzen Bild gehört aber auch, dass wir Sozialdemokraten in dieser Zeit auf der Länderebene bis auf einige glänzende Ausnahmen – Brandenburg mit Matthias Platzeck, Rheinland-Pfalz mit Kurt Beck – als Partei wenig erfolgreich waren. Wir haben wichtige Wahlen und frühere Stammländer verloren und mussten die Entstehung der Linkspartei hinnehmen. Die Niederlage in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, in dem wir seit 1969 zum Teil mit absoluten Mehrheiten stärkste politische Kraft waren, hat das sozialdemokratische Selbstbewusstsein, ja unsere politische Seele zweifellos am schwersten getroffen. Das war und ist gerade auch für mich nicht einfach.
Aber war unsere Politik deswegen falsch? War es falsch, einen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs zu halten, den wir als richtig und notwendig erkannt haben? Einen Kurs, der Millionen von Menschen – vor allem Jüngeren, Älteren, Langzeitarbeitslosen und Frauen – wieder Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe verschafft hat, und das, obwohl sich die Veränderungsgeschwindigkeit der Globalisierung noch beschleunigt hat? Nein, der Kurs stimmte. Wir haben uns nicht populär oder gar populistisch verhalten. Wir haben uns niemals unter Wert verkauft. Ja, wir haben teures Lehrgeld bezahlen müssen, manches hätten wir besser machen können. Nur: Who’s perfect?
Damit sind wir beim schwierigsten und offensichtlichsten Problem der deutschen Sozialdemokratie nach zehn Jahren in der Bundesregierung: der eigenen mentalen Verfassung. Ja, es kommt vor, dass wir Erwartungen nicht erfüllen können – vor allem aber auch deshalb, weil wir sie selbst zu hoch schrauben und weil wir in einer Großen Koalition nicht die Richtlinienkompetenz besitzen. Selbst das wird gelegentlich vergessen.
Was eigentlich bedeutet heute „gerecht“?
Ich meine vor allem die kaum zu erfüllende sozialdemokratische Erwartungshaltung, durch Regierungshandeln stets für mehr Gerechtigkeit in Deutschland und der Welt zu sorgen. Dabei gibt es nicht einmal eine gemeinsame Definition von Gerechtigkeit, schon gar keine einvernehmliche Antwort auf die entscheidende Frage, welcher Begriff von Gerechtigkeit tatsächlich auf der Höhe der Zeit ist, was eigentlich heute, unter dem Druck des demografischen Wandels, unter dem Druck der Globalisierung und einer zu hohen Staatsverschuldung „gerechte Politik“ heißt.
Manche setzen mehr Gerechtigkeit immer noch mit höheren Transferleistungen und höheren Steuern für Spitzenverdiener gleich – egal, ob dadurch Hürden zur aktiven Teilhabe am Wirtschaftsleben geschaffen werden oder Investoren und Vermögende ihr Geld ins Ausland „exportieren“. Andere verstehen unter einer Politik für mehr Gerechtigkeit vor allem bessere Bildungs- und Betreuungsangebote, um mehr soziale und materielle Aufstiegsmöglichkeiten, mehr Chancen zur Teilhabe und zu einem selbstbestimmten Leben zu eröffnen. Angesichts knapper öffentlicher Kassen entzünden sich innerparteiliche Diskussionen immer wieder an der Alternative, entweder kurzfristig mehr konsumtive Leistungen auszuzahlen (zum Beispiel für höhere Renten) oder langfristig stärker in Zukunftsfelder zu investieren (zum Beispiel in Forschung, Hochschulen, Infrastruktur, Bildung oder Betreuung). Was ist gerechter: Menschen, die in einer sozialen Notlage sind, dauerhaft auf möglichst hohem Niveau zu alimentieren? Oder sie viel stärker als bisher zu befähigen, ihr Leben aus eigener Kraft zu meistern und sich auf neue Lebensumstände einzustellen?
Das Notwendige tun, weil es richtig ist
„Hartz IV“ ist ein Synonym für soziale Kälte und Ungerechtigkeit geworden, und wir haben uns dieses Etikett anpappen lassen. Warum eigentlich? Bedeutete es denn soziale Wärme, dass Sozialhilfeempfänger früher nicht rentenversichert waren, dass sie nicht in Arbeit vermittelt wurden, dass es echte Chancen zum sozialen Aufstieg anstelle von – zum Teil generationenübergreifenden – Sozialhilfekarrieren nicht gab? Das war doch das exakte Gegenteil von Gerechtigkeit, jedenfalls in einem sozialdemokratischen Verständnis! Und da lassen wir uns vorwerfen (und nicht wenige von uns glauben das), dass wir den Sozialstaat abbauen? Rein fiskalisch gesehen – und das unterstreiche ich fünffach – ist Hartz IV mit 12 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr im Vergleich zum Status quo ante das größte Sozialaufbauprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Bis heute machen die Sozialausgaben rund drei Viertel aller staatlichen Ausgaben aus. Von jedem eingenommenen Steuereuro des Bundes werden 70 Cent sozialen Zwecken zugeführt. Das ist die Realität, alles andere ist Propaganda.
Unser Land braucht eine SPD, die mutig und selbstbewusst Politik zuerst für die Menschen macht. Dafür stand die SPD in den vergangenen zehn Jahren, mit allen Nebenwirkungen für uns selbst. Wir haben das Notwendige getan, weil es richtig war. Das zahlt sich inzwischen aus, wenn auch zunächst nur für die Menschen und noch nicht für die Partei. Daran müssen wir arbeiten!
Sozialdemokratie für das nächste Jahrzehnt
Unser Land braucht Politiker, die den Kopf auch für unangenehme Entscheidungen hinhalten, die den Menschen nichts vormachen, die ihnen die Wahrheit sagen und auch klar erläutern, was nicht geht. Das können wir – und das machen wir immer wieder. Auch nach zehn Jahren kann die SPD mit einem Pfund wuchern, das andere Parteien so nicht besitzen: mit einer erfolgreichen Riege erfahrener Bundesministerinnen und Bundesminister. Soweit wir es in der Bundesregierung durchsetzen können, steht die SPD im Bund für eine Politik, die dazu beiträgt, dass die Freiheit des Einzelnen zu selbstbestimmtem Leben und zur Teilhabe in materieller, kultureller und demokratischer Hinsicht verbessert wird. Sie steht für eine solidarische Politik, die auf einem starken, politisch handlungsfähigen Staat und einer selbstbewussten Zivilgesellschaft beruht. Und sie steht für eine gerechte Politik, die über mehr und bessere Bildung und Kinderbetreuung, über gezielte Steuer- und Abgabensenkungen mehr Teilhabe organisiert und diese gerechter finanziert.
Die SPD will Anwalt jener Menschen sein, die unter Ungerechtigkeiten etwa aufgrund ihrer Herkunft, ihres Familienstandes, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht oder ihrer materiellen Lage zu leiden haben – und die ohne die Unterstützung durch eine starke politische Kraft niemals eine faire Chance bekommen würden. Und die SPD will Anwalt der Mittelschichten sein, die über ihren Einsatz und ihre steuerliche Leistungsfähigkeit dieses Land zusammenhalten. Sich um alle diese Menschen zu kümmern, das ist gute, gerechte, nachhaltige Politik. Das ist sozialdemokratische Politik auch für das nächste Jahrzehnt.