Die weiße Glut der digitalen Revolution
I n seinem letzten Buch Ill Fares the Land schrieb der Historiker Tony Judt, wir seien in ein Zeitalter der Angst eingetreten: Angst vor dem unkontrollierbaren Tempo des Wandels, Angst um den Arbeitsplatz, Angst vor dem Zurückfallen hinter andere angesichts wachsender Ungleichheit, Angst vor dem Verlust der Kontrolle über unser tägliches Leben. Und vor allem geht es um die Angst, dass vielleicht nicht nur uns selbst, sondern dass auch den gesellschaftlichen und staatlichen Eliten die Kontrolle über die Verhältnisse entglitten sein könnte.
In dieser Lage entschied sich Judt für die Position einer defensiven Sozialdemokratie. Diese solle auf der Seite der Bedrängten stehen und sich für Bewahrung einsetzen. Diese Haltung spiegelt die Debatten vieler Parteien der linken Mitte wider – aber sie steht im Widerspruch zu Joseph Schumpeters Einsicht in die Voraussetzungen von Wachstum. Die Schumpetersche Logik ist zentral dafür, die anämische Produktivität in Europa wieder in Gang zu bringen und die Potenziale der digitalen Wirtschaft zu nutzen.
Was wird aus den Arbeitsplätzen der Mittelschicht?
In vielen Kreisen steht man der proaktiven Hinwendung zu Informations- und Kommunikationstechnologien über allen Sektoren hinweg skeptisch gegenüber. Arbeitsplatzvernichtende Technologien zählen in Debatten über wachsende Ungleichheit zu den großen Bösewichten. Diese Tendenzen könnten sogar in dem Maße noch zunehmen, wie die Digitalisierung weiter mit der Globalisierung verschmilzt und nicht mehr nur gering qualifizierte Tätigkeiten negativ betrifft, sondern auch die Arbeitsplätze der Mittelschicht weiter oben in der Wertschöpfungskette.
Damit müssen die Parteien der linken Mitte wählen: Sie können langfristige Perspektiven ignorieren und sich auf die Protektion bestehender Branchen und Wählergruppen konzentrieren – oder sie können zu der Einsicht gelangen, dass der technologische Fortschritt neue Möglichkeiten eröffnet, Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Neu gestaltet wird unsere Welt nicht durch die angeblich intrinsische Zerstörungskraft von Technologien, sondern durch gesellschaftspolitische Entscheidungen. Genau hier liegt die Aufgabe der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Sie muss dazu beitragen, die Entfesselung dieser neuen Kräfte zu erleichtern und so zu steuern, dass deren geregelter Einsatz soziale Vorteile nach sich zieht, die allen Menschen zugutekommen.
Erst Rezession, dann goldene Ära
Seit der industriellen Revolution im 18. Jahrhundert hat es fünf große technologische Umwälzungen gegeben. Wie Carlota Perez gezeigt hat, kam es dabei jedes Mal zu großen Wellen sehr ungleichmäßiger Entwicklungen, die in Rezessionen mündeten. Danach aber setzte jeweils eine „goldene Ära“ ein – deshalb so genannt, weil nun Innovationen, Investitionen, Arbeitsplätze und Expansion über alle Bereiche der Wirtschaft hinweg entstanden. In diesem Sinn vertreten Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee die These, dass die entwickelten Volkswirtschaften derzeit gerade erst beginnen, die transformativen Vorteile der Digitaltechnik zu erleben, und dass die neue Welle der Digitalisierung nicht zu neuer Arbeitslosigkeit führen werde, da die zusätzlichen Erträge der Technologie ganz einfach eine Veränderung (also keinen Rückgang) der Nachfrage nach Arbeit verursachen würden – so wie dies auch in der Vergangenheit bereits geschah.
Keine Frage, sofern progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht regulierend eingreift, wird sich die Polarisierung zwischen gering qualifizierten, schlecht bezahlten Jobs und gut bezahlter Qualitätsarbeit weiter verschärfen, werden Automatisierung und technologischer Wandel die Ungleichheit verstärken. Aber daraus folgt gerade nicht, dass Progressive eine Politik des Ausweichens betreiben sollten, die sich um den Wandel herumdrückt oder versucht, den technologischen Fortschritt aufzuhalten (was unter den Bedingungen einer offenen globalen Ökonomie ohnehin aussichtslos ist). Für Progressive kommt es vielmehr darauf an, Menschen mit der notwendigen Ausrüstung auszustatten und neue Rahmenbedingungen zu schaffen, die Innovation, sozialen Fortschritt und gerechtes Wachstum befördern.
Sozialdemokraten fällt dies schwer. Die neuen tektonischen Verschiebungen in Ökonomie und Gesellschaft stellen langjährige Wählerkoalitionen zur Disposition. Die Wählerschaft wird sich immer stärker entlang der Frage aufsplittern, ob Menschen meinen, vom technologischen Wandel zu profitieren oder nicht. Zugleich werden es die Volksparteien immer stärker mit aufstrebenden neuen Parteien zu tun bekommen, die einfache Lösungen für die Probleme versprechen, die sich aus dem technologischen Wandel ergeben. Auch Technopopulisten werden das Spielfeld betreten. Es wird zu intergenerationelle Spannungen kommen, bei denen junge digital natives und bisherige Außenseiter des Arbeitsmarktes zulasten älterer Arbeitsmarktinsider Boden gutmachen. Andere zuvor wirtschaftlich randständige Gruppen wie vor allem Frauen verändern ihre politischen Präferenzen in dem Maße, wie wir das klassische, männlich dominierte Arbeits- und Familienmodell hinter uns lassen. Die Flexibilität der neuen sharing economy bietet gerade Frauen deutlich verbesserte Perspektiven.
Auch »geschützte« Wähler gehen auf Distanz
Auch hochqualifizierte Arbeitskräfte könnten sich zunehmend von den Parteien der linken Mitte abwenden. Untersuchungen belegen, dass Teile einst geschützter und komfortabler Professionen wie Lehrer, Naturwissenschaftler, Ingenieure oder Buchhalter, obgleich noch immer vergleichsweise gut bezahlt, im Zeitverlauf deutliche Gehaltseinbußen erlebt haben. Auch viele andere Sektoren weiter oben in der Wertschöpfungskette werden von Automatisierungsprozessen bedroht. Die Folge ist, dass diese Wählergruppen aufgrund ihrer Sorgen über Wettbewerbsfähigkeit und Einkommensentwicklung auf Distanz zu den sozialstaatlichen Konzepten der Besteuerung und Umverteilung gehen könnten. Umgekehrt ist ebenso denkbar, dass Teile dieser Gruppen anfälliger für Parteien mit protektionistischer und populistischer Agenda werden. Aber das Festhalten am Status quo wird die langfristigen Aussichten der etablierten politischen Parteien nicht verbessern. Wie Moses Naim dargelegt hat, erleben wir derzeit überall, wie Macht zerfasert und sich verlagert – das betrifft Großunternehmen ebenso wie öffentliche Plätze. Und wir erleben auch den Niedergang gewohnter Machtverhältnisse. Neue politische und wirtschaftliche Formen erwachsen aus dem zunehmenden Individualismus der Menschen in Europa, besonders der jungen. In seinem Buch Small is Powerful beschreibt Adam Lent, wie sich Millionen von Menschen dafür entscheiden, ihre eigenen kleinen Unternehmen zu gründen, statt für Großorganisationen zu arbeiten. Politischer und gesellschaftlicher Wandel entsteht zunehmend aus vielen kleinen Initiativen und Kampagnen heraus und nicht mehr aufgrund der Tätigkeit großer Parteien. Und mehr denn je treffen Menschen ihre eigenen Entscheidungen darüber, wie sie ihr Leben leben wollen, während die Wegweisungen großer religiöser oder ziviler Organisationen immer weniger beachtet werden.
Die Welten der Arbeit und der Arbeitsmärkte verändern sich ebenfalls grundlegend. Daten aus den Vereinigten Staaten zeigen, dass dort inzwischen jeder dritte Berufstätige (und ein noch höherer Anteil der jüngeren Menschen) freiberuflich arbeitet. Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird sehr stark von Konkurrenz geprägt sein, und der Anteil der Menschen in langfristigen Arbeitsverhältnissen wird weiter sinken. Marktanteil und Wachstum kleiner und mittlerer Unternehmen sind gestiegen, und junge Menschen mit digitalen Kompetenzen streben zunehmend an, eigene Unternehmen oder Non-Profit-Initiativen zu gründen.
Wie also sollten Progressive reagieren? Erstens müssen sie sich positiv auf die Potenziale von Innovation und technologischem Wandel einlassen. Natürlich melden sich die kurzfristigen Verlierer von Veränderungsprozessen lautstark zu Wort, doch zugleich kann der Wandel weit größeren Teilen der Gesellschaft zugutekommen und positive Langfristentwicklungen in Gang setzen. Politiker müssen ihren Wählern reinen Wein darüber einschenken, dass der Prozess des Wandels sowohl positive als auch negative Folgen haben wird. Und sie sollten sich nicht im Namen einer vermeintlichen sozialen Gerechtigkeit auf die Seite der bisherigen Insider schlagen.
Zweitens wird ein radikal erneuertes soziales Sicherheitsnetz für das 21. Jahrhundert gebraucht. Regierungen, Gewerkschaften und Wirtschaft müssen hinsichtlich neuer Formen von sozialem Schutz zusammenarbeiten, ebenso mit Blick auf Flexibilität und lebenslanges Lernen. Neue Formen der sozialen Investition in Bildung und Kompetenzen sind erforderlich, damit die Menschen das Potenzial der Technologie nutzen und den Anforderungen der sich rasch verändernden Arbeitsmärkte gerecht werden können. Entscheidend dabei ist, dass auch neue Formen der dezentralen sozialen Unterstützung gefunden werden müssen, da die Mikro- und Regionalebenen besser zu Zeitalter und Zeitgeist passen.
Progressive Politik setzt auf Hoffnung
Drittens müssen Sozialdemokraten mehr denn je auf internationale Kooperation und Offenheit setzen, denn auch die moderne Technologie sowie die durch sie ermöglichten Unternehmen sind durch und durch international. Neue Institutionen, neue Formen der Regulierung und veränderte Steuersysteme werden benötigt, die ins digitale Zeitalter passen, aber damit diese auch wirksam sein können, müssen sie international abgestimmt und vereinbart werden.
Innovation bedeutet ständige Transformation von Ökonomie und Institutionen. Damit ist klar, dass immer einige Branchen und Unternehmen in dem Maße ins Hintertreffen geraten werden, wie neue Herausforderer mit höherer Produktivität und besseren Ideen auftauchen, die neue Arbeitsplätze und größere Wertschöpfung schaffen. Sozialdemokraten sollten nicht versuchen, diesen ewigen Sturm zu stoppen. Stattdessen liegt ihre wichtigste Aufgabe darin, den Übergang zu neuer Arbeit und neuem sozialen Schutz zu organisieren. Progressive Politik setzt auf Hoffnung, nicht auf Angst.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr