Die Zukunft der Gerechtigkeit
Reformen sind weder selbstverständlich noch Zweck an sich. Denn sie kosten etwas, beispielsweise Anstrengung, Geld und Kämpfe. Sie sind oft schmerzlich; neben Gewinnern haben sie meist auch Verlierer. Man muss sie begründen können: einerseits als Mittel zur Erreichung von Zielen, als Schritte auf dem Weg zu einer zukünftigen besseren Gesellschaft, auf deren Wünschbarkeit man sich einigt, oder für deren Wünschbarkeit man wirbt; andererseits als notwendig angesichts tatsächlicher Entwicklungen, die, ließe man sie gewähren, von jenem gewünschten gesellschaftlichen Sollzustand radikal wegführen würden.
Zur Begründung braucht man Normen. Von Grundwerten spricht man in der Sozialdemokratie, man beschäftigt dafür eine eigene Kommission. In einer langen, ehrwürdigen Tradition steht, worauf sich Grundwertekommission, Parteiprogramm, Grundsatzreden und theoretische Texte der Sozialdemokratie seit langem und immer wieder berufen: Freiheit - Gerechtigkeit - Solidarität.
Auf die Französische Revolution weist das zurück, auf die Aufklärung, auf Humanismus und christliche Ethik. Vielerorts werden diese Grundwerte geteilt, sie finden Zustimmung weit über die Sozialdemokratie hinaus, sie sind auch mit den Menschen- und Bürgerrechten, den Menschen- und Bürgerpflichten des Grundgesetzes verwandt. In der Tat verdienen sie Zustimmung, gerade in ihrer Kombination.
Denn verknüpft mit Gerechtigkeit und Solidarität bedeutet Freiheit nicht nur Abwesenheit von Zwang, sondern auch Abwesenheit von Not, nicht nur individuelle Handlungs-, sondern auch gemeinsame Gestaltungsfreiheit. Gerechtigkeit heißt im sozialdemokratischen Sinn nicht bloß Rechtsgleichheit und nicht bloß Gleichheit der Startchancen, sondern auch Gleichheit der grundlegenden Lebenschancen. Aber verbunden mit Freiheit ist Gerechtigkeit nicht identisch mit Gleichheit und Gleichmacherei, sondern mit bestimmten Arten von Ungleichheit durchaus vereinbar, ja notwendig verbunden. Solidarität bedeutet die Bereitschaft, über Rechtsverpflichtungen hinaus füreinander einzustehen, bedeutet Verantwortung für die Entwicklung des Ganzen, bedeutet Gemeinsinn, Engagement und Teilhabe. Die Verknüpfung der drei Grundwerte ist entscheidend, führt übrigens auch zu Spannungen zwischen ihnen und verlangt immer erneut den Ausgleich zwischen ihnen in praktischer Politik.
"Nur wenig ist von Dauer. Darum besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll", sagte Willy Brandt 1992. Das heißt, dieselben sozialdemokratischen Grundwerte sind heute etwas anderes als vor hundert, fünfzig oder auch zwanzig Jahren. Will man sie nicht nur abstrakt und luftig, sondern konkret und verbindlich, muss man sie im Blick auf die heutigen realen Bedingungen neu ausbuch- stabieren.
Dies ist noch nicht hinreichend geschehen, jedenfalls nicht hinreichend bewusst. Man muss dazu auf die Herausforderungen und Chancen blicken, die neu sind, und die unsere heutige Zeit von der Zeit vor zwanzig, fünfzig, hundert Jahren unterscheiden. Es sind drei Bündel von Veränderungen, die nicht unbekannt sind. Ich nenne sie im Telegrammstil:
Erstens - Herausforderungen, die neu sind oder sich dramatisch zuspitzen: Globalisierung, die neue Arbeitswelt in der digitalen Revolution, eine alternde und schrumpfende Bevölkerung, Wertewandel mit zunehmender Tendenz zur Individualisierung, aber im deutschen Fall auch: erhebliche, finanzpolitisch noch nicht bewältigte Folgelasten der Wiedervereinigung.
Zweitens werden Defizite bisheriger Problemlösungen klar, und zwar doppelt. Der Siegeszug des Kapitalismus - weltweit und bis in die innersten Bereiche unseres Lebens hinein - macht unübersehbar, dass der Marktmechanismus allein nicht ausreicht, um bestimmte Probleme zu lösen, etwa Probleme der globalen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Andererseits ist ebenso klar, dass "Big Government", der ausgedehnte, bürokratisierte Interventions- und Regelungsstaat seine sozialen Ziele teilweise verfehlt hat und teilweise zu ungewollten, problematischen Nebenfolgen geführt hat. Die Zunahme schwer zu legitimierender Ungleichheit hat er nicht verhindert, andere Probleme hat er durch Überregulierung und Verkrustung verschärft, sich insgesamt in vielem übernommen. Nachlassende Dynamik, abflauendes Wachstum und enorme Arbeitslosigkeit sind Probleme, die durch ihn verschärft wurden, wenngleich sie auch andere Ursachen haben. Es sind Probleme, die sich kontinuierlich weiter verschärfen werden, wenn man nicht umsteuert.
Drittens gibt es aber auch neue Chancen. Im Vergleich zu früher haben Wohlstand und Bildungsstand der Bevölkerung stark zugenommen. Wir verfügen über mehr Zeit, mehr Wissen und bessere Kommunikationsmittel als frühere Generationen. In der Konsequenz ist die Fähigkeit der Gesellschaft zur Selbstorganisation - Stichwort soziale Bürgergesellschaft oder Zivilgesellschaft - ganz erheblich gewachsen. Anders als zur Zeit, als der Sozialstaat entstand, aber auch anders als in der frühen Bundesrepublik, als er kräftig ausgebaut wurde, können heute die Einzelnen, kann heute die Gesellschaft in eigener Regie vieles an Initiativen und Daseinsvorsorge leisten, was früher "von oben" oder gar nicht geschah. Von den Einzelnen ist heute an Eigenverantwortung, Initiative und Selbstbeteiligung sehr viel mehr zu erwarten als früher.
Kurz: Neue Herausforderungen definieren die heutige Situation, die wie eine Zeitbombe wirken. Aber es gibt auch neue Ressourcen, die helfen könnten, sie zu entschärfen.
Viel für die Alterssicherung, wenig für die Bildung - ist das gerecht?
Einiges ist heute im Prinzip nicht anders als früher. Beispielsweise gehört zur sozialen Gerechtigkeit weiterhin, Armut zu bekämpfen. Armut zu vermeiden oder doch ganz gering zu halten, ist weiterhin ein Grundelement sozialer Gerechtigkeit, wenngleich nirgendwo völlig eingelöst und international hoffnungslos fern. In anderer Hinsicht führen aber die neuen Herausforderungen und neuen Chancen dazu, dass soziale Gerechtigkeit heute und auf absehbare Zukunft anders ausbuchstabiert werden muss als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dazu drei Thesen:
Erstens, Geschlecht. Zur sozialen Gerechtigkeit gehört heute und zukünftig die Gleichstellung der Geschlechter. Das ist nicht wirklich neu, sondern als Problem seit ein paar Jahrzehnten zunehmend bewusst, auch immer mehr Realität, obwohl noch längst nicht erreicht. Ich erwähne das aber, weil in der klassischen Arbeiterbewegung, zur Zeit Bebels, Eberts und auch noch Schumachers, auch die sozialdemokratische Definition von sozialer Gerechtigkeit im Wesentlichen geschlechtsblind war. Heute ist das anders, woraus sich übrigens ergibt, dass neue Entwicklungen im Verhältnis von Arbeitswelt und Familie wie im Verhältnis von Erwerbsarbeit und anderen Formen der Arbeit bejaht und beachtet, nicht aber abgeblockt und missachtet werden sollten: Neue, flexible, "untypische" Arbeitsverhältnisse können sowohl im Interesse sozialer Gerechtigkeit wie im Interesse an wirtschaftlicher Leistungskraft wünschenswert sein.
Zweitens, Nachhaltigkeit. Dazu gehört sehr vieles, vor allem auch mit Bezug auf die weiterhin ungelösten Probleme der Ökologie. Ich will aber unter dem Gesichtspunkt Nachhaltigkeit jetzt nur eines betonen, nämlich, dass soziale Gerechtigkeit heute eine intergenerationelle Komponente haben muss. Zur sozialen Gerechtigkeit gehört Gerechtigkeit für die nächste Generation. Die Haushalte müssen aus vielen Gründen konsolidiert werden, aber die öffentlichen Schulden können auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit nicht unbegrenzt ausgedehnt werden, denn sie bedeuten Last und Einschränkung für die nächste Generation, die sich nicht wehren kann und auf die wir unsere Probleme nicht einfach verschieben dürfen.
Ich finde es sozial extrem ungerecht, wenn im Namen sozialer Gerechtigkeit nach milliardenschweren Ausgabeprogrammen gerufen wird, solange man nicht gleichzeitig sagt, wie sie ohne weitere Verschuldung finanziert werden sollen. Ich finde es auch problematisch, dass unser Sozialstaat, vergleicht man sein Ausgaben-Mix mit dem anderer Sozialstaaten, proportional sehr viel mehr für die Alterssicherung, dagegen proportional sehr viel weniger für Bildung und Erziehung ausgibt, viel für das Heute und wenig für das Morgen. Im Interesse an der Generationengerechtigkeit sind auch nach der im Prinzip richtigen Riesterschen Rentenreform weitere Umsteuerungen nötig.
Zwischen Bedürfnissen der Gegenwart und Anrechten der Zukunft besteht oft Spannung. Ohne Verzicht und Einschränkung in der Gegenwart wird man die Zukunft nicht sichern. Definitionen sozialer Gerechtigkeit ohne solche intergenerationelle Komponente verdienen die Bezeichnung nicht, sind vielmehr generationsegoistische Mogelpackungen. Das gilt erst recht für das Reden von Solidarität.
Es mag trotzdem notwendig sein, in wirtschaftlichen Krisen heute und morgen die Schulden zu erhöhen, doch muss man einen Plan mit Selbstverpflichtung dafür haben, wie sie wieder abgebaut werden sollen. Der Keynesianismus ist meistens nur halb angewandt worden: als deficit spending in rückläufiger Konjunktur, aber nicht - was notwendig dazu gehört - als freiwillige Nichtausschöpfung der finanziellen Spielräume im Aufschwung. Unsere politische Ordnung scheint dafür weder die Kraft noch die Verfahren zu besitzen. Brauchen wir eine grundlegende Reform unseres Verfassungssystems?
Drittens, Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose. Erwerbsarbeit ist nicht alles und sie ändert sich. Aber jetzt und auf absehbare Zeit ist Erwerbsarbeit das zentrale Mittel für die Einzelnen und die Familien, um dazuzugehören. Erwerbsarbeit bringt ökonomischen Verdienst, soziale Anerkennung, Selbstwertgefühl, Lebenssinn und Lebensdisziplin, Kommunikation mit anderen, Inklusion. Es ist gerade nach den Debatten der letzten Jahre nicht zu erkennen, was an die Stelle der Erwerbsarbeit treten könnte. Erwerbsarbeitslosigkeit ist deshalb auch dann, wenn sie dank sozialer Absicherung nicht zu direkter wirtschaftlicher Verarmung führt, eine tiefe Einbuße, eine Deprivation, ein starkes Stück sozialer Ungerechtigkeit. Gerade in einer Partei müsste das verständlich zu machen sein, die als Arbeiterpartei entstand und immer wieder ihr Selbstbewusstsein, ihre Ansprüche, ihren Stolz über die Würde und den Wert der Arbeit begründet hat.
Noch nie war die Arbeitslosigkeit so lange so hoch
Unsere Arbeitslosigkeit ist hoch, sie wächst seit Jahrzehnten mit kurzen Unterbrechungen, sie droht weiter zu wachsen, sie ist höher als in den meisten anderen vergleichbaren Ländern. Noch nie seit Beginn der Industrialisierung ist Arbeitslosigkeit so lange so hoch gewesen wie heute. Als der klassische Kanon sozialdemokratischer Grundwerte formuliert wurde, im letzten Drittel des 19. und im frühen 20. Jahrhundert, war die Arbeitslosigkeit jedenfalls nicht das Problem. Sie war es auch nicht in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als der heute existierende Sozialstaat festgezurrt wurde. Sieht man Massivität, Zähigkeit und Zukunftsbedrohlichkeit der heutigen Arbeitslosigkeit zusammen, handelt es sich um ein neues Phänomen, das im übrigen viele verschiedene Gründe hat, von denen einige durch die Politik der Staaten kaum beeinflusst werden können. Aber die Arbeitslosigkeit ist die zentrale Herausforderung für jede heutige Politik, die sich sozialer Gerechtigkeit verpflichtet weiß.
Das bedeutet, dass jeder Tarifabschluss, jede sozialpolitische Maßnahme, jedes Stück Arbeitsmarktpolitik, jedes neue Steuergesetz öffentlich und dringlich mit der Testfrage zu konfrontieren ist, was daraus für die Arbeitslosigkeit folgt. Dabei ist ernst zu nehmen, dass die Interessen der Arbeitsplatzbesitzer und die Interessen der Arbeitslosen nicht identisch sind. Jene sind wohl organisiert, diese nicht. Eine Politik, die sich an sozialer Gerechtigkeit orientiert, muss mit dieser Asymmetrie umzugehen lernen.
Die Rolle der Gewerkschaften rückt damit ins Blickfeld. Ihr eingeschliffenes Verhalten hat oftmals Konsequenzen, die unter heutigen Bedingungen sozialer Gerechtigkeit widersprechen. Wie weit kann man sie überzeugen, sich auf die neue Situation umzustellen? Wie weit können sie es, ohne sich selbst aufzugeben? Was muss man möglicherweise an den gesetzlichen Rahmenbedingungen ändern, um wahrscheinlicher zu machen, dass ihr resolutes Eintreten für die Lohn- und Sicherheitsinteressen ihrer Mitglieder (dafür sind sie ja schließlich da) nicht zu Lasten der Arbeitslosen, der Arbeitslosigkeit und des Gesamtsystems führt? Vieles spricht für konsequente Dezentralisierung der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei Absicherung effektiver Mitbestimmung in den Unternehmen. Die Gewerkschaften erinnern den Historiker heute an die Handwerkerzünfte des späten 18. Jahrhunderts. Die versuchten mit aller Kraft, alte Besitzstände zu verteidigen und die sich ankündigende Marktwirtschaft zu verhindern. Doch am Ende blieben sie selbst auf der Strecke, und das Neue setzte sich durch.
In den letzten Monaten und Wochen wird auch im sozialdemokratischen Bereich manches offen diskutiert, was früher tabu gewesen ist. Ich fürchte, die Enttabuisierung hat erst begonnen. Ein gründlicher Umbau des Sozialstaats und der Arbeitsmarktpolitik ist notwendig, gründlicher als es die bisherigen Pläne der rot-grünen Regierung vorsehen.
Kein wirksamer Umbau ohne Geduld und strategische Orientierung
Solcher Umbau steht an, obwohl man weiß, dass die meisten notwendigen Maßnahmen nur langfristig wirken. Es braucht Geduld und strategische Orientierung, gegen die Flüchtigkeit der Mediendemokratie und die Kurzatmigkeit des politischen Betriebs. Wenn man an Stellschrauben jetzt dreht, merkt man die Konsequenzen vielleicht erst nach Jahren. Solcher Umbau steht an, obwohl man weiß, dass auch die klügste und konsequenteste Reform der Steuern, des Sozialstaats und der Arbeitsmarktpolitik niemandem hundertprozentige Sicherheit geben und wohl kaum Vollbeschäftigung im früheren Sinn wieder herstellen kann. Deshalb ist auch ein Stück Bescheidenheit angesagt. Man darf die Erwartungen an die Politik und das, was sie kann, nicht überhöhen, die allfällige Enttäuschung wird sonst zu gefährlich. Der Umbau steht trotzdem an, weil die soziale Gerechtigkeit es verlangt, und weil ohne den Umbau die realen Verhältnisse immer ungerechter würden.
Eigentlich wäre jetzt eine vierte, fünfte und sechste These anzufügen. Ich müsste über den engen Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Bildung/Ausbildung sprechen, ein Zusammenhang, der heute - im Zeitalter der Wissensgesellschaft - enger und zwingender ist als je. Investitionen in Bildung und Ausbildung sind heute vorrangig, auch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit.
Ich müsste etwas zur internationalen Dimension der sozialen Gerechtigkeit sagen, die heute viel aktueller ist als jemals zuvor und gleichzeitig in besonderem Maß defizitär. Ohne legitime und durchsetzungsfähige internationale politische Strukturen - von denen sind wir weit entfernt - lässt sich zugunsten sozialer Gerechtigkeit international wenig tun. Am ehesten dürfte eine faire, sich öffnende Handelspolitik helfen.
Schließlich wäre über das Verhältnis von sozialer Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum zu reden. Wachstum ist Mittel, nicht Ziel, und nicht jedes Wachstum ist gleich wünschenswert. Aber ohne kräftiges Wachstum sind die meisten Probleme sozialer Ungerechtigkeit erst recht nicht zu bekämpfen, jedenfalls nicht in offenen, freiheitlich verfassten Systemen. Und die anderen schaffen es noch weniger, wollen es meist auch nicht. Was immer man im Interesse von sozialer Gerechtigkeit beschließt und tut, es wirkt letztlich kontraproduktiv, wenn es die Dynamik der Märkte erstickt und - wie bei uns heute teilweise der Fall - im internationalen Vergleich zu deutlich nachhinkendem Wachstum führt. Umgekehrt setzt aber Wachstum sozialen Zusammenhalt voraus, der ohne soziale Gerechtigkeit schwer zu haben ist: ein delikates Wechselverhältnis.
Wolfgang Merkel, der Heidelberger Politikwissenschaftler, hat kürzlich eine Prioritätenliste der Gerechtigkeitsziele vorgelegt. Daran lehnt sich der folgende Vorschlag für Handlungspräferenzen einer Politik im Interesse sozialer Gerechtigkeit an:
An erster Stelle rangiert die Verhinderung oder doch die radikale Reduzierung der Armut im engeren Sinn, als Not und Verelendung verstanden.
An zweiter Stelle steht die Garantie sozialer Sicherheit für alle auf der Ebene eines (schwer zu definierenden, letztlich wohl auszuhandelnden) Grund- oder Mindestbestands. Das bezieht sich auf die Basis-Absicherung bei Krankheit, im Alter und in anderen Lebenskrisen. Darüber hinausgehende Absicherung ist langfristig der individuellen, betrieblichen oder genossenschaftlichen Vorsorge zu überlassen.
Ebenso wichtig ist drittens die Inklusion in die Erwerbsarbeit, auch wenn dies die Absenkung hoher sozialer Sicherungsstandards verlangt. Überhaupt geht es sehr stark um breite Einbeziehung, Teilhabe, Mitwirkung, um Demokratie als Lebensform, die gesetzlich zu ermöglichen und zu stärken sind.
Ganz zentral ist viertens die Sicherung bestmöglicher Bildung, Ausbildung und Zugänglichkeit dazu. Hierbei scheint mir zusätzliche öffentliche Verschuldung am ehesten zu rechtfertigen zu sein, denn es geht um die Zukunft und eine entscheidende Stellschraube für die Vergrößerung sozialer Gerechtigkeit.
Für viel weniger wichtig halte ich fünftens die Umverteilung zugunsten größerer Einkommens- und Vermögensgleichheit als solcher.
Kann Ungleichheit gerecht sein?
Hier liegt ein Problem. Traditionell hat soziale Gerechtigkeit viel mit Gleichheit zu tun. John Rawls, der kürzlich verstorbene liberale Sozialphilosoph, meint beispielsweise, und das ist eine moderate, nicht allzu egalitäre Sicht, dass mit sozialökonomischer Gerechtigkeit nur solche Ungleichheiten vereinbar sind, die "zu jedermanns Vorteil dienen". Auch andere halten soziale Ungleichheiten nur insofern für vereinbar mit sozialer Gerechtigkeit, als sie sich rechtfertigen lassen im Hinblick auf übergeordnete Kriterien wie Produktivität, gesellschaftliche Entfaltung, individuelle Freiheit und allgemeines Wohl. Auch von sozialdemokratischen Grundwerten her wird so argumentiert, beispielsweise von Thomas Meyer. Wenn man es so oder so ähnlich sieht, fällt es zweifellos schwer, die in unseren Gesellschaften und international zu beobachtende wachsende Ungleichheit der Einkommens-, Vermögens- und Lebenschancenverteilung als gerecht zu begreifen. Gerade wenn man den kleinen Leuten Einschränkungen zumutet, verlangt es die soziale Gerechtigkeit, auch der schmalen Schicht der Begüterten Einschränkungen zuzumuten. Vermögens- und Luxussteuer haben ihren Gerechtigkeitswert, auch wenn sie finanziell nur wenig einbringen.
Trotzdem: eine moderne Gerechtigkeitspolitik sollte Umverteilung mit dem Ziel größerer ökonomischer Gleichheit klein schreiben. Erstens lässt sich das Ziel bei Aufrechterhaltung der Freiheit nur schwer erreichen, erst recht unter Bedingungen der Globalisierung und der immer möglichen Abwanderung großer Vermögen ins nächste Land. Zweitens kann die Verfolgung des Gleichheitsziels die Erreichung der anderen, vorher genannten, vorrangigen Gerechtigkeitsziele erheblich erschweren oder gar unmöglich machen. Und drittens scheint mir wichtiger, dass es allen besser geht, als dass die Unterschiede zwischen ihnen verringert werden. Ungleichheit auf hohem und wachsendem Gesamtniveau scheint mir menschenfreundlicher als Gleichheit auf tiefem, stagnierenden Niveau. Zum Sozialstaat gehört zwar immer ein Stück Umverteilung dazu. Doch der moderne Sozialstaat sollte primär nicht auf größere Gleichheit der Lebensbedingungen zielen, sondern auf die soziale Einbeziehung, die Teilhabe aller.
Die hier vorgeschlagene Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit grenzt sich nach zwei Seiten hin ab. Für gescheitert halte ich die Visionen von sozialer Gerechtigkeit, die primär auf staatlich gewährleistete Sicherheit, Durchorganisation und Gleichheit abzielen. Sie scheitern, weil sie zuviel staatliche Gängelung implizieren und entweder zum Abbau der Freiheit oder zur Erstickung der gesellschaftlichen Dynamik oder zu beidem führen. Sie verlangen mehr vom Staat, als er kann. Sie widersprechen dem Leitbild des mündigen Bürgers, der mündigen Bürgerin im Sinn von citoyen und citoyenne.
Für unzureichend halte ich andererseits die Vision, gemäß der sich soziale Gerechtigkeit aus einer Vielzahl individueller Entscheidungen und Handlungen auf Märkten ergäbe. Die auf individuellem Vorteil, Tausch und Kalkül gegründete Rationalität des Marktes reicht weit. Doch sie führt zu unakzeptablen Ungleichheiten in und zwischen den Gesellschaften. Sie verbürgt weder Nachhaltigkeit noch Solidarität. Sie setzt gesellschaftlichen Zusammenhalt voraus, aber sie schafft ihn nicht selbst. Zur Begründung und Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit reicht der Markt allein nicht aus.
Wer Gerechtigkeit will, kommt ohne einen Schuss Utopie nicht aus
Der starke Staat als Sozialstaat ist nötig - wie andererseits der Markt und seine Dynamik unersetzbar sind. Aber zwischen beiden gibt es ein Drittes, die Zivilgesellschaft, die soziale Bürgergesellschaft. Ihre Logik unterscheidet sich von der Logik des Marktes wie von der Logik staatlicher Herrschaft. Für die soziale Bürgergesellschaft sind die Selbständigkeit und das Engagement der Einzelnen und Gruppen, sind Initiativen, Netzwerke, Bewegungen und Organisationen zwischen Wirtschaft und Staat zentral. Sie funktioniert durch Konflikt und Kooperation, Streit und Verständigung. Öffentlichkeit ist für sie konstitutiv. Wer zivilgesellschaftlich handelt, kümmert sich, mischt sich ein, nimmt Probleme selbst in die Hand, allein und mit anderen, blickt über den Tellerrand des privaten Interesses hinaus und nimmt teil an den allgemeineren Dingen. Denn das Prinzip der Zivilgesellschaft betont zwar das Recht der Einzelnen, ihrer Interessen und ihrer Zusammenschlüsse, doch verlangt sie deren Verantwortung, Engagement und Gemeinsinn. Auf ihre Freisetzung und Aktivierung kommt es an, um die nötige Dynamik zurückzugewinnen. Zivilgesellschaft braucht Staat und Markt, darf nicht im Gegensatz zu beiden definiert werden; doch sie geht über beides hinaus. Sie entspricht dem Leitbild des mündigen Bürgers und dem hier skizzierten Begriff sozialer Gerechtigkeit.
Im Vergleich zur Realität in Deutschland und anderswo fehlt es der hier entwickelten Zukunftsvorstellung nicht an utopischen Momenten. Es ist aber eine Überlebensfrage, ob es gelingt, sich ihr weit genug anzunähern. Dies ist nicht nur eine Frage der Politik, sondern auch der Mentalität. Beides lässt sich nur zusammen verändern.
Der Essay basiert auf einem Vortrag, gehalten am 13.3.2003 auf Einladung der Bundestagsabgeordneten des Netzwerks Berlin im Reichstagsgebäude.