Morgen ist auch noch ein Tag

Die sozialdemokratische Programmatik bedarf der "Verzeitlichung"

Nachhaltigkeit“ ist lange vor allem mit Bezug auf ökologische Probleme und im Blick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt thematisiert worden. Angesichts des sich bedrohlich zuspitzenden Klimawandels ist dies weiterhin notwendig und dringlicher denn je. Aber die Sorge um „Nachhaltigkeit“ hat jetzt auch das Soziale erfasst, die Gesellschaft selbst, einschließlich ihrer Politik, Ökonomie und Kultur. „Nachhaltigkeit“ wird dabei immer häufiger durch „Zukunftsfähigkeit“ ersetzt. Die Zukunftsfähigkeit wird zum zentralen Politikkriterium. Damit findet eine Verzeitlichung der Reformdiskussion statt. Woran liegt das?

 

Je mehr sich das Bewusstsein verbreitet, dass unsere Wirtschafts- und Lebensweise endliche Ressourcen verbraucht, ohne neue hinreichend zu produzieren – von Rohstoffen und Energie über den sozialen Zusammenhalt bis zum Klima und anderen natürlichen Bedingungen unserer Existenz –, desto unvermeidlicher wird es, bei Diskussionen über heute notwendige oder zu vermeidende Veränderungen Zukunft mit zu bedenken. Andererseits zwingt der demografische Wandel – die Erfahrung des Alterns und die Erwartung des Schrumpfens der Bevölkerung – zum Blick in die Zukunft. Denn dieser demografische Wandel bringt Gefahren und Chancen, Zumutungen und Möglichkeiten mit sich, die man in Rechnung stellen muss, wenn man heute verantwortlich handeln will. Er wird ein anderes Verhältnis zwischen den Generationen erzwingen, wenngleich die Art dieses Verhältnisses noch unklar ist und in Grenzen gestaltbar. Er verlangt die Verzeitlichung des in Reformdiskussionen gern verwendeten Begriffs der „sozialen Gerechtigkeit“, seine intergenerationelle Uminterpretation mit entschiedener Berücksichtigung der Interessen der nächsten Generationen.

Unter welchen Bedingungen lassen sich heute Lebenschancen herstellen?

Schließlich ist zu beobachten, dass sich im Wandel der letzten Jahrzehnte neben der Leitfrage nach gerechter Verteilung der erarbeiteten Chancen, Leistungen und Produkte die Leitfrage nach den Bedingungen ausreichender und verbesserter Herstellung der zu verteilenden Chancen, Leistungen und Produkte nach vorne geschoben hat. Unter verschärften globalen Wettbewerbsbedingungen ist solche Herstellung alles andere als selbstverständlich. Sie hängt von sehr vielen, auch kulturellen, Voraussetzungen ab. Die damit einhergehende Frage nach der Kraft unserer Gesellschaft zur Erbringung von Leistungen und Ergebnissen, von Wohlstand und Zivilität drängt den Blick viel entschiedener zur Vorsorge für die Zukunft, als es die Frage nach der gerechten Verteilung allein je täte.

 

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, des Landes, unserer Wirtschafts- und Lebensweise hat Konjunktur. Zukunftsfähigkeit meint die Fähigkeit, anstehende und neu aufkommende Probleme unter Berücksichtigung weiterer Kriterien nachhaltig, das heißt dauerhaft beziehungweise mittel- bis langfristig zu lösen, unter Berücksichtigung der Handlungsspielräume und voraussichtlichen Bedürfnisse nachfolgender Generationen. Wie steht es damit in Deutschland?

Im internationalen Vergleich zeigt sich: Deutschland ist oft nur Mittelmaß

Das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) hat sich mit der Frage beschäftigt und in seinem gerade veröffentlichten Jahrbuch 2006 darüber berichtet. Es ergibt sich ein gemischtes, durchwachsenes Bild. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Bundesrepublik auf vielen Gebieten nicht mehr als Mittelmaß bietet. Das politische System leidet unter einer ungewöhnlich großen Zahl von „Vetospielern“ und starken Reformblockaden, wenngleich nicht an Bewegungslosigkeit. Gemessen an den Kriterien Zukunftsorientierung, Gerechtigkeit und Finanzierbarkeit hängt der deutsche Sozialstaat hinter anderen Sozialstaaten Europas zurück. Die deutsche Außenpolitik erhält bessere Noten, doch fehlt es ihr an Verwurzelung in der Bevölkerung und selbst in der „politischen Klasse“. Das für Deutschland typische „Produktionsmodell“ – das „Modell Deutschland“ – fußt auf hohen Löhnen, hoher Arbeitsqualität, Sozialpartnerschaft, institutioneller Verflechtung und viel Regulierung. Es stammt aus besseren Zeiten, es knirscht und bremst, die international verstärkte Konkurrenz stellt es auf den Prüfstand. Doch inzwischen ändert es sich eher unbemerkt, ist flexibler, als man oft liest. Gemessen an den Gesamtausgaben für Erziehung, Bildung, Forschung und Entwicklung, nimmt Deutschland keinen Spitzenplatz ein. Was seine Kraft zur demografischen Reproduktion angeht, sind in Europa nur einige Länder im Osten und Süden noch schlechter aufgestellt. Deutschland ist kein Land der Zuversicht und Risikofreude. „Angst“ dringt als deutsches Fremdwort in andere Sprachen ein. Vielleicht wirkt hier die Geschichte der Deutschen im 20. Jahrhundert nach, die Erfahrung von Diktatur und Krieg, von selbst begangenen Verbrechen und erlittenen Verletzungen. Am meisten Mut macht gleichwohl die offensichtlich zunehmende Energie der Zivilgesellschaft, das selbst organisierte, verantwortliche, bürgerschaftliche Engagement zwischen Staat und Markt.

Vom Konsumieren zum Investieren – nicht nur im ökonomischen Sinn

Wer mehr Zukunftsfähigkeit will, muss viele kleine Schritte gehen – von der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen über die Erhöhung der staatlichen Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sowie die Armutsbekämpfung zu Hause und in der Welt bis hin zur Stärkung direktdemokratischer Momente im politischen System. Das ist hier im Einzelnen nicht auszuführen. Prinzipiell aber gilt, dass die Prioritäten verschoben werden müssen, von der Gegenwart hin zur Zukunft, vom Konsumieren zum Investieren, und zwar nicht nur im engen ökonomischen Sinn. Der gängige Investitionsbegriff ist auszuweiten. Mehr Zukunftsorientierung wird benötigt. Erst ein Stück Verzicht auf Bedürfnisbefriedigung in der Gegenwart wird zusätzliche Chancen für das Gelingen der Zukunft eröffnen.

Was intern gerecht zu sein scheint, muss es international nicht sein

Was könnte daran sozialdemokratisch sein? Eine Partei, die Gerechtigkeit und Solidarität so groß schreibt, wie die Sozialdemokratie es tut, wird sich nicht davor drücken können, diese Grundwerte intergenerationell auszubuchstabieren. Vier weitere Antworten seien kurz angedeutet.

 

Erstens: Die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik wurde in den letzten Jahren verbessert, und dies auch durch eine Politik, die sozialdemokratisch geleitet oder mitgeprägt worden ist. Unter der zweiten Regierung Schröder wurden die notwendigen Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen angegangen, eine fortschrittliche Familienpolitik konzipiert, verantwortliche Außenpolitik ermöglicht und die staatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung – in Umkehr des Trends – kräftig erhöht. Die stark sozialdemokratisch geprägte Große Koalition setzt diese Politik fort und erweitert sie, nicht ohne Erfolg. Die Konsolidierung des Haushalts geschieht – gegen viele Begehrlichkeiten und mit dem Rückenwind der Konjunktur – unter Regie eines sozialdemokratischen Ministers, der Kurs zu halten versucht. Über die Jahre hat die Sozialdemokratie diese Zukunftspolitik betrieben, auch wenn sie in den eigenen Reihen oft unpopulär war, die parteipolitische Basis vor eine schwere Zerreißprobe stellte und nunmehr von einer die Zukunft ignorierenden Linkspartei mit populistisch-verantwortungslosen Versprechungen weiter erschwert wird. Zukünftige Geschichtsschreibung wird dies als große Leistung sozialdemokratischer Politik für das Land erkennen. Nur schade, dass viele Sozialdemokraten das selber nicht richtig einsehen und mit sich uneins sind, statt daraus Selbstbewusstsein und Stolz zu gewinnen.

 

Zweitens: Es ist unübersehbar, dass die Umorientierung der Politik in Richtung größerer Zukunftsfähigkeit durch die sehr ungleiche Verteilung von Chancen und Lasten in der Gegenwart behindert wird. Wer auf ein Stück gegenwärtig möglichen Konsum zugunsten zukunftsorientierter Investitionen verzichten soll, wird dafür eher Verständnis aufbringen, wenn die damit einhergehenden Lasten gerecht verteilt werden. Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft hängt deshalb sehr mit ihrem Verhältnis zur Gerechtigkeit in der Gegenwart zusammen. Dies aber ist ein Kernthema der Sozialdemokratie, für dessen Bearbeitung sie besonders kompetent ist und an dessen praktischer Umsetzung sie ihr Profil schärfen kann.

Der zukunftsfähige Sozialstaat darf nicht schwächer sein – im Gegenteil

Drittens: So zentral nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit und damit marktwirtschaftliche Kompetenz für die Zukunftsfähigkeit des Landes sind, so sehr ist, um Volker Hauff zu zitieren, die Herstellung der Zukunftsfähigkeit eine Lebensbereiche übergreifende „Querschnittsaufgabe“, die vom Markt allein nicht bewältigt werden kann. Dafür braucht es zugleich das „Management der öffentlichen Dinge“. Auch das führt auf ein Gebiet besonderer sozialdemokratischer Zuständigkeit. Es wird nötig sein, den Sozialstaat von vorherrschender Gegenwarts- auf mehr Zukunftsorientierung umzupolen, schwächen oder gar abbauen darf man ihn nicht. Hinzukommen muss die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, das nicht der Logik des Marktes folgt, sondern der Logik selbst organisierter Solidarität und der Orientierung am Gemeinwohl.

Keine transnationale Zukunftspolitik ohne internationale Sozialdemokratie

Viertens: Der Übergang von der Sorge um die Zukunft des Landes zur Sorge um die globale Zukunft ist eine große Herausforderung der Gegenwart. Das geht nicht ohne Brüche und Widersprüche. Denn was intern gerecht zu sein scheint, muss es international nicht sein. Interessen stoßen aufeinander. Man sieht es an der Klima-, an der Handels-, an der Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik. Die Sozialdemokratie muss das austarieren, so schwierig es ist. In Theorie und Praxis verfügt sie über eine ausgeprägte internationale Tradition. Daran knüpft sie in vielfacher Weise an. Ohne ihren Beitrag wird die notwendige transnationale Erweiterung der Zukunftspolitik nicht gelingen.

Dieser Text erschien zuerst in dem von Matthias Platzeck, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück herausgegebenen Buch „Auf der Höhe der Zeit. Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert“, Berlin: vorwärts buch Verlag 2007.

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