Kein Grund zur Entwarnung
Deutschland ist nicht Amerika. Trotz stürmisch voranschreitender Globalisierung unterscheidet sich der „Rheinische Kapitalismus“ mit seinen korporatistischen Elementen und seiner sozialstaatlichen Abfederung weiterhin deutlich vom liberaleren angelsächsischen Modell, das dem Markt vorbehaltloser vertraut und für seine große Dynamik mit ausgeprägter Ungleichheit zahlt. Der Ausgang der Bundestagswahl lässt vermuten, dass die deutsche Politik auch zukünftig dafür sorgt, dass hierzulande das britische Modell keine Chancen hat, vom radikaleren amerikanischen ganz zu schweigen. Wer gewinnt, wer verliert im Wettbewerb der Systeme?
Was die Beschreibung der deutschen Verhältnisse betrifft, herrscht weitgehend Einigkeit. Seit dem 19. Jahrhundert betont das deutsche Industriesystem die Produktion vor den Dienstleistungen und die hoch diversifizierte Qualitätsarbeit auf der Basis des dualen Ausbildungssystems vor der Massenproduktion mit billigen Löhnen und Preisen. Schon im Kaiserreich bildeten sich Elemente des „organisierten Kapitalismus“ heraus. Dazu gehörten die von Managern geleiteten Großunternehmen und ihre Zusammenschlüsse, die enge und langfristige Kooperation von Industrie und Banken bei relativ geringer Marktkapitalisierung sowie die große Rolle von Verbänden bei der Regelung der industriellen Beziehungen und der Interessenvertretung im Staat.
Konsens und Veränderungsunlust
Seit dem Ersten Weltkrieg kam mit der Anerkennung starker Gewerkschaften die innerbetriebliche beziehungsweise unternehmensinterne Kooperation dazu, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Mitbestimmung, überbetrieblichen Tarifverträgen und Sozialpartnerschaft ausgebaut wurde. Mit einem dicht regulierenden Arbeitsrecht, vielfältigen Subventionen und expandierenden Sozialleistungen stützt der Staat seit den 1950er Jahren dieses System kräftig ab. Während die Wirtschaftspolitik zunehmend auf EU-Ebene zentralisiert wurde, blieb die Sozialpolitik Sache der Nationalstaaten und damit unterschiedlich. Nach wie vor ist das deutsche System vergleichsweise stark auf Organisation, Konsens und Langfristigkeit hin orientiert. Dem entsprechen die in der letzten Bundestagswahl erneut bestätigte Veränderungsunlust der politischen Institutionen und eine Kultur, in der Sicherheit und soziale Gerechtigkeit hohe, Risiko und Dynamik dagegen geringere Wertschätzung genießen.
Bei der Bewertung dieses Systems scheiden sich die Geister, auch in der Wissenschaft. Es gibt Experten wie den Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser oder den englischen Ökonomen David Soskice aus dem Wissenschaftszentrum Berlin, die von der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Modells überzeugt sind. Sie wissen, dass jedes Wirtschaftssystem von historisch verankerten Sozial- und Kulturbedingungen abhängt, die von Land zu Land stark variieren. Deshalb sei das angelsächsische Modell nicht auf Deutschland zu übertragen. Sie sind von den Stärken des deutschen Systems beeindruckt, die sich in den unbestreitbaren Exporterfolgen permanent zeigen. Vor allem aber können sie mit vollem Recht darauf verweisen, dass sich die deutschen Verhältnisse in den vergangenen Jahren trotz ihrer Überstabilität und mangelnden Dynamik erheblich geändert haben, mit dem Ergebnis gestiegener Leistungsfähigkeit.
Einerseits hat im Industriesystem Entflechtung stattgefunden: Die Bindung von Industrieunternehmen und Banken ist stark gelockert, die Marktorientierung der großen Unternehmen hat zugenommen, und die oft mit Personalabbau bezahlte Rationalisierung hat ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit gestärkt. Andererseits sind – und dies ist besonders wichtig – die Lohnstückkosten in der deutschen Industrie anders als in Frankreich, Italien und Spanien in den letzten sechs Jahren gesunken, wozu die zurückhaltende Lohnpolitik der Gewerkschaften beigetragen hat. Im Gegensatz zu ihrer den Status quo vehement verteidigenden Rhetorik haben die deutschen Gewerkschaften überdies eine tief greifende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit getragen – oder nicht verhindern können. Die weitgehende Auflockerung des Flächentarifvertrags ist längst Realität.
Von den Rändern in die Mitte
Etwa ein Drittel aller Betriebe haben bereits ein betriebliches Bündnis für Arbeit, das vom Tarifvertrag abweicht. Das „Aushandeln von Ausnahmen“ ist zur Regel geworden. Die Löhne und Arbeitszeiten variieren heute viel stärker als vor zehn oder zwanzig Jahren. Fast jeder zweite Arbeitnehmer arbeitet unregelmäßig, akzeptiert zum Beispiel Schicht- und Wochenendarbeit – und dies mit steigender Tendenz. Der relativ rigide Kündigungsschutz, den die Gewerkschaften zäh verteidigen, kommt nur einem abnehmenden Teil der Arbeitnehmer zugute. Der Beschäftigungszuwachs der vergangenen Jahre hat vor allem bei Arbeitnehmern mit Zeitverträgen, in Zeitarbeitsagenturen und in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen stattgefunden. Fast sieben Millionen Beschäftigte haben einen Mini-Job.
Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Anke Hassel schreibt zu Recht: „Die Deregulierung breitet sich von den Rändern in die Mitte des Arbeitsmarkts aus, und die Gewerkschaften haben wenig Macht, daran etwas zu ändern. Vielmehr vollzieht sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein Prozess, der sich in den achtziger Jahren auch auf den Arbeitsmärkten Großbritanniens und der USA vollzogen hat und dort bereits früher zur Verunsicherung der Arbeitnehmer beigetragen hat: ein Trend zu flexiblen und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. In den angelsächsischen Ländern wurde diese Entwicklung durch eine aktive politische Bekämpfung der Gewerkschaften durchgesetzt. Im rheinischen Kapitalismus vollzieht sie sich schleichend innerhalb der bestehenden Institutionen.“
Die Regierungspolitik der letzten Jahre hat das erleichtert. So unsicher und halbherzig sie war, die Steuerpolitik hat die Reform des Industriesystems unterstützt, und die Arbeitsmarktreform beginnt, erste Früchte zu tragen. Jedenfalls wächst die Arbeitslosigkeit derzeit nicht. Die übergeneröse Frühverrentungspolitik früherer Jahre ist revidiert worden. Das tatsächliche Renteneintrittsalter ist gestiegen, bei Männern im Durchschnitt von 62 auf 63 Jahre (zwischen 1997 und 2004). Neben der Außenpolitik werden künftige Historiker im Rückblick den Einstieg in die notwendige Politik sozialökonomischer Reformen als größte Leistung der Regierung Schröder erkennen.
Kein Grund zur Entwarnung
Doch die Mehrzahl der Sozialwissenschaftler sieht keinen Grund zur Entwarnung. Auch wer nicht gleich wie Meinhard Miegel den Niedergang des gesamten Westens am Horizont drohen sieht, kann die Augen nicht davor verschließen, dass Deutschland in Bezug auf Wachstum und Arbeitslosigkeit zu den Schlusslichtern der wirtschaftlich entwickelten Welt gehört, dass die Staatsverschuldung galoppiert und die EU zu sprengen droht, dass die deutsche Dynamik gerade in den zukunftsträchtigsten Sparten lahmt, und dass die Sozialversicherungssysteme in keiner Weise für den demografischen Wandel der nächsten Jahrzehnte gewappnet sind, der als Überalterung falsch und als Unter-Jüngung (nebst Schrumpfung) richtig beschrieben ist. Die Weltbank gibt regelmäßig eine Liste heraus, die Länder nach dem Grad ihrer Attraktivität für Unternehmensgründer und Investoren reiht und dabei die Rigidität des Arbeitsmarktes und die Höhe der bürokratischen Hemmnisse misst. Deutschland steht hier auf Platz 95 von insgesamt 144 Staaten.
Viele Institutionen des „Modells Deutschland“ erodieren, so auch das System der dualen Ausbildung. Die großen Verbände einschließlich der Gewerkschaften verlieren an Bindungskraft. Die mangelnde Zukunftsfähigkeit des Landes ist – nicht nur im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern, sondern auch im Vergleich zu den skandinavischen Sozialstaaten und Frankreich – eklatant: zu wenig Kinder, zu geringer Anteil der Ausgaben für Bildung und Wissenschaft, überhaupt zu wenig Zukunftsinvestitionen, dagegen die Verschiebung der wachsenden Schuld auf die nächste Generation. Dafür haben wir weniger Ungleichheit, höhere Pensionen und mehr organisierten Konsens als die meisten anderen Länder Europas. Doch der sozialen Gerechtigkeit dient das nicht. Erfahrene Sozialwissenschaftler wie Wolfgang Streeck vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung glauben deshalb, dass die goldene Zeit des „Rheinischen Kapitalismus“ vorbei ist und mittlerweile manches zur Belastung geworden ist, was in früheren Jahrzehnten von Vorteil war.
Die Ersetzung des deutschen Kapitalismus durch ein marktradikales Modell nach angelsächsischem Muster dürfte weder möglich noch wünschenswert sein. Aber die gründliche Fortsetzung seiner Reform ist nicht nur dringend nötig, sondern auch möglich, wie die Entwicklung der vergangenen Jahre gezeigt hat. Es gibt zwar nicht nur eine „best practice“, wie der Marktliberalismus meint, sondern immer mehrere Möglichkeiten, sehr gut zu sein, je nach historischer Prägung und sozialer Kultur. Aber das deutsche Modell bleibt derzeit weit hinter seinen Möglichkeiten zurück und gefährdet dadurch langfristig seine Existenz. Die Krise reicht tief. Die nächste Regierung wird daran zu messen sein, ob sie dies erkennt und entsprechend handelt, und zwar mit Augenmaß, Energie und Effekt.