Die Zukunft des Dagegenseins
Das verfassungsmäßig gewährleistete Recht auf Opposition gehört zu den Wesensmerkmalen der freiheitlichen Demokratie westlicher Prägung. Die Ausübung dieses Rechts erfolgt zum einen in institutionalisierter Form im engeren Kern des Regierungssystems, wobei unter „Opposition“ in der Regel diejenigen Parteien oder politischen Kräfte verstanden werden, die nicht oder nur mittelbar an der Regierung beteiligt sind. Zum anderen bezieht sich der Oppositionsbegriff aber auch auf Gegenpositionen zur offiziellen Regierungspolitik, die Personen oder gesellschaftlichen Gruppen im weiteren Kontext des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses einnehmen. Durch Garantien der Meinungs-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit verbürgt, konstituieren diese Formen jenes pluralistische Kräftespiel, das den Grundcharakter unserer liberalen Gesellschafts- und Staatsordnung umschreibt.
Die nicht-institutionalisierte Opposition wird in der Bundesrepublik bisweilen mit dem Begriff „außerparlamentarisch“ belegt. Dies ist deshalb unglücklich, weil es den fälschlichen Eindruck erweckt, es handele sich um prinzipiell systemfeindliche und mithin unerwünschte Gegenpositionen. Sinnvoller wäre es, die nicht-institutionalisierten Formen unter den weiteren Begriff der politischen Partizipation zu fassen und innerhalb dieses Spektrums zwischen legitimen (verfassungskonformen) und nicht-legitimen Zielen und Mitteln zu unterscheiden. Dasselbe gilt für den institutionalisierten Bereich, wo es ja ebenfalls vorkommen kann, dass Parteien oder Gruppen die Grenze zur Systemfeindlichkeit überschreiten. Insofern ist es nicht sehr überzeugend, wenn manche Autoren die Zugehörigkeit zur Opposition an der Bereitschaft einer Partei messen, selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen. Umgekehrt schließt die Zugehörigkeit zur Opposition eine mehr oder weniger direkte Einbindung in den Regierungsprozess nicht aus, wenn das Institutionensystem eine solche Einbindung erzwingt oder ermöglicht.
Regierungswillige und Regierungsunwillige
Die Unterscheidung zwischen institutionalisierter und nicht-institutionalisierter Opposition ist wichtig, weil beide Formen in einer Austauschbeziehung stehen. Je besser es den parlamentarischen Vertretern gelingt, die gesellschaftlichen Gegenpositionen zur Regierung zu repräsentieren, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese auf außerparlamentarischem Wege Bahn brechen. Dies gilt für das gemäßigte und das radikale Spektrum gleichermaßen. Eine vergleichbare Austauschbeziehung besteht innerhalb des institutionalisierten Bereichs zwischen den regierungswilligen und -unwilligen Kräften. Geben letztere ihre Verweigerungshaltung auf und werden sie von der Konkurrenz als potenzieller Koalitionspartner betrachtet, droht die Gefahr, dass andere, radikalere Kräfte in das entstehende Vakuum hineinstoßen und ihnen einen Teil der vormaligen Wählerunterstützung entwinden. Ein ähnliches Dilemma entsteht, wenn die reguläre (gemäßigte) Opposition in das Regierungsgeschehen materiell eingebunden ist. Eine allzu starke und konstruktive Mitwirkung könnte hier zur Vernachlässigung ihrer eigentlichen Funktionen führen, die in der Politikwissenschaft gemeinhin mit der Trias „Kritik, Kontrolle und Alternative“ umschrieben werden.
Formen und Funktionsweise der institutionalisierten Opposition hängen von den verfassungsrechtlichen Vorgaben und deren Umsetzung in der Verfassungspraxis ab. Für letztere ist vor allem die Entwicklung des Parteiensystems maßgeblich, dessen Struktur die Wettbewerbsbeziehungen und Regierungsformate prägen. Fasst man beide Faktoren zusammen, so kann man mit dem niederländischen Politikwissenschaftler Arend Lijphart eine Grundunterscheidung der demokratischen Regierungsformen in Mehrheits- oder Konsenssysteme vornehmen. Die Mehrheitsdemokratie stellt eine Abstraktion des britischen Westminster-Modells dar. Ihre Hauptmerkmale sind zum einen die Realisierung des Prinzips der alternierenden Regierung auf der Basis eines gegnerschaftlich ausgerichteten, dualistischen Parteienwettbewerbs, und zum anderen der Umstand, dass Kabinett und Premierminister über weit reichende Handlungsmacht verfügen, da sie im Parlament in der Regel eine große zahlenmäßige Mehrheit hinter sich wissen und ihre Kreise nicht durch Mitregenten oder sonstige verfassungsrechtliche Gegengewichte gestört werden. Die Opposition ist in diesem System ganz auf ihre Kritik- und Alternativfunktion zurückgeworfen, die sie mit dem Ziel wahrnimmt, bei der nächsten Wahl selbst Regierung zu werden.
Konsens und Konflikt
Demgegenüber orientiert sich die Konsensdemokratie am Prinzip der Machtteilung. Diese kann institutionell auf unterschiedliche Weise realisiert werden. In den so genannten Konkordanzsystemen findet sie bereits auf der parlamentarischen Ebene statt. An die Stelle des bipolaren Wettbewerbs treten hier Verfahren der „gütlichen“ Konfliktregelung, in die nach Möglichkeit alle relevanten Parteien und Gruppen einbezogen werden. Unter den Regierungsformaten dominieren dementsprechend zentristische oder Große Koalitionen, die im Parlament über breite Unterstützung verfügen. Aktuelle Beispiele sind Belgien oder die skandinavischen Länder. Stark ausgeprägte Konkordanzstrukturen waren in der Vergangenheit auch in Österreich, in den Niederlanden und Italien anzutreffen, deren politische Systeme sich inzwischen jedoch in Richtung Wettbewerb geöffnet haben. Dies gilt in begrenztem Maße selbst für die Schweiz, die mit ihrer Proporzregierung bis heute den Extremtypus der Konkordanzdemokratie verkörpert.
Konsenszwänge entstehen auch dann, wenn die Regierungsmacht von Verfassungs wegen auf mehrere Organe verteilt ist. Handelt es sich dabei um demokratisch konstituierte Organe, deren Repräsentanten der gleichen oder teilweise gleichen Wählerschaft verantwortlich sind, treten häufig Situationen des divided government auf, in denen die verschiedenen Regierungszweige von unterschiedlichen Parteien kontrolliert werden. In der Praxis ergeben sich daraus allerdings ganz verschiedene Konsequenzen, wie ein Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten (Präsident und Kongress) und der Bundesrepublik (Regierung und Bundesrat) deutlich macht. In den USA befördert die präsidentielle Regierungsform einen starken Konsensualismus auf der parlamentarischen Ebene, der im parteipolitisch undisziplinierten Abstimmungsverhalten der Abgeordneten und Senatoren Ausdruck findet. Eine zusammenhängende Regierungsmehrheit ist hier ebenso wenig vorhanden wie eine geregelte Opposition. Diese wird lediglich fallweise ausgeübt, indem sich die Legislative den Vorschlägen des Präsidenten verweigern und der Präsident umgekehrt die Gesetzesbeschlüsse des Kongresses mit seinem Veto belegen kann. Dieses System der Gewaltenverschränkung sorgt dafür, dass die Institutionen produktiv zusammenwirken, obwohl das amerikanische System im Übrigen fast alle typischen Attribute einer Mehrheitsdemokratie aufweist.
Eine deutsche Fehlkonstruktion
In der Bundesrepublik besteht demgegenüber das Problem, dass der vom Vetospieler Bundesrat ausgehende Konsensbedarf im parlamentarischen Rahmen nur unzureichend befriedigt werden kann, weil die Wettbewerbsorientierung dort unvermindert dominiert und Regierung und Opposition sich als fest gefügte Blöcke antagonistisch gegenübertreten. Dies bedeutet nicht, dass Blockade und Stillstand im deutschen „Parteienbundesstaat“ an der Tagesordnung wären. Von der Kohl-Waigelschen Steuerreform im Jahre 1997 über das Zuwanderungsgesetz im Jahre 2002 bis hin zu der von Rot-Grün im selben Jahr vorgeschlagenen Streichung von Steuersubventionen lassen sich jedoch allein aus der letzten Dekade mehrere Beispiele nennen, wo einschneidende Reformvorhaben von der oppositionellen Mehrheit im Bundesrat blockiert worden sind, weil diese sich davon eine Verbesserung ihrer Position im Parteienwettbewerb versprach. Die Kombination von mehrheitsdemokratischem Parlamentarismus und föderativer Aushandlung wird deshalb von manchen Kritikern als institutionelle Fehlkonstruktion bezeichnet, die dringend der Korrektur bedürfe.
Die Reformer haben immer Heil gesucht
Rein theoretisch bieten sich zwei Auswege an: eine Rückführung der zu stark gewordenen Beteiligungsposition des Bundesrates oder eine „Mäßigung“ der Parteienkonkurrenz, um konsensuale Entscheidungsmechanismen bereits auf der parlamentarischen Ebene zu etablieren. In der Bundesrepublik haben die Reformer das Heil bisher fast ausschließlich in der zuerst genannten Richtung gesucht. Entsprechend verfolgten die Mitglieder der im Jahre 2003 eingesetzten Bundesstaatskommission den ehrgeizigen Plan, die Quote der zustimmungspflichtigen Gesetze von heute rund 60 Prozent um die Hälfte zu reduzieren. Nimmt man die nunmehr von der Großen Koalition im Regierungsprogramm festgeschriebenen Eckpunkte der Reform, wird dieses Ziel nicht ganz erreichbar sein. Und selbst dann könnten die Ministerpräsidenten auf vielen Politikfeldern immer noch gleichberechtigt mitwirken – besonders wo es um finanzielle Fragen geht. Zudem wäre die Wahrscheinlichkeit abweichender Mehrheitsverhältnisse vermutlich nicht geringer als heute, da die über die Zusammensetzung des Bundesrates entscheidenden Landtagswahlen weiterhin stark von bundespolitischen Themen beeinflusst würden.
Von daher drängt sich die Frage auf, ob man dem Problem nicht besser von der anderen Seite beikommen müsste: durch eine Abschwächung des gegnerschaftlichen Wettbewerbs. Die Hinwendung zu einem stärker konsensorientierten Regierungsstil könnte sich durchaus auf die deutsche Verfassungstradition berufen, die seit jeher vom konstitutionellen Gleichgewichtsdenken geprägt war und das auf dem Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition basierende britische Westminster-Modell nur unvollständig rezipiert hatte. Die Verfassungsgeber bahnten zwar 1948 der parlamentarischen Regierungsform den Weg, blieben aber bei der Normierung des „neuen“ Dualismus gleichsam auf halbem Wege stecken. Symptomatisch dafür ist, dass das Vorhandensein und die verfassungsrechtliche Funktion der Opposition im Grundgesetz an keiner Stelle festgeschrieben sind. Auch den Begriff der „Fraktion“ sucht man in der Verfassung vergeblich:
Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass sich das parlamentarische System in der Bonner Republik binnen kurzem zu einer Kanzlerdemokratie ähnlich dem britischen Prime Ministerial Government entwickelte. Die Basis dafür schuf das Parteiensystem, das 1949 noch weitgehend in der Tradition von Weimar gestanden hatte, sich dann aber rasch in Richtung einer stabilen Zweieinhalb-Parteien-Struktur veränderte. Diese Struktur hatte über die gesamten sechziger und siebziger Jahre hinweg Bestand. Sie begründete das Standardmodell der „Kleinen Koalition“, dem die jeweils andere Volkspartei als annähernd gleich starke Opposition gegenüberstand. Die FDP übernahm dabei die Rolle eines Scharniers, das den Wechsel von der einen zur anderen Seite ermöglichte. Lediglich die Jahre 1966 bis 1969 bildete hiervon eine Ausnahme.
Am Dualismus änderten die Grünen nichts
Auch wenn das Parteiensystem keinen perfekten Dualismus etablierte, sorgte es doch dafür, dass sich die Bundestagswahlen zu quasi-plebiszitären Regierungs- oder Kanzlerwahlen herausbildeten. Union und SPD trugen dem Rechnung, indem sie die Wahlen zu einer grundlegenden Richtungsentscheidung stilisierten und ihre jeweiligen Kanzlerkandidaten prominent hervorhoben. Daran änderte sich auch nach dem Aufkommen der Grünen in den achtziger Jahren nichts. Der Dualismus wurde durch die vierte Partei sogar weiter verstärkt, weil sich die Grünen koalitionspolitisch einseitig in Richtung SPD orientierten, während die ihrer Scharnierfunktion beraubten Liberalen im Gegenzug noch enger an die Union gebunden wurden. Auf diese Weise konnte 1998 zum ersten Mal ein kompletter Regierungswechsel ausschließlich von Wählerhand herbeigeführt werden.
Wie die PDS alles durcheinander brachte
Spätestens seit dem Hinzutreten der PDS im Zuge der deutschen Vereinigung sind die Grundlagen dieses Regierungsmodells brüchig geworden. In den Jahren 1994, 1998 und 2002 blieben die Postkommunisten noch zu schwach, um das Zustandekommen einer Kleinen Koalition zu vereiteln, was aber schon hier nur um Haaresbreite gelang. Die erfolgreiche Kandidatur einer gesamtdeutschen Linkspartei führte schließlich dazu, dass es bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 für keines der beiden Lager mehr zur Mehrheit reichte. Konsequenz war die Bildung einer Großen Koalition, in die sich die Volksparteien im Unterschied zu 1966 jedoch nur widerstrebend fügten. Wie schwer ihnen die Abkehr vom dualistischen Modell fiel, zeigte sich daran, dass am Wahlabend auch über anderweitige Regierungsformate offen spekuliert wurde. Diese waren zuvor noch mit einem Tabu belegt worden, weil sie der Stabilitätsorientierung des parlamentarischen Systems scheinbar widersprachen. Auch auf der Länderebene hatte man sie nirgendwo mit Erfolg ausprobiert.
Die Fixierung der bundesdeutschen Verfassungspraxis auf das Westminster-Modell kann an den nachträglich eingefügten Oppositionsklauseln in den Länderverfassungen abgelesen werden, die implizit alle von einer Einparteienregierung oder Kleinen Koalition als Regierungsmodell ausgehen. So wird die Opposition in den Verfassungen von Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein scheinbar eindeutig als derjenige Teil des Parlaments definiert, der die Regierung nicht „stützt“ beziehungsweise „trägt“. Die Verfassungen von Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein enthalten darüber hinaus eine Rollenbeschreibung, welche die Opposition als „Alternative“ zur Regierungsmehrheit ausweist. Das Problem dieser Klauseln liegt darin, dass sie abweichende Formate wie Minderheitskabinette oder Große Koalitionen nicht adäquat erfassen. Im ersten Falle wird ja die Regierung durch einen Teil des Parlaments lediglich „toleriert“, im letzteren Falle kann die Opposition ihrer Alternativfunktion schon aus arithmetischen Gründen nicht genügen. Vergleichende Untersuchungen zeigen, dass solche Abweichungen in den westlichen Demokratien durchaus üblich sind und mit über 60 Prozent sogar die Mehrheit aller Fälle umfassen. In der Bundesrepublik werden sie hingegen allenfalls als Notlösung akzeptiert (so bei der Großen Koalition) oder als „Sündenfall“ des parlamentarischen Systems prinzipiell verworfen (so im Fall der Minderheitsregierung).
Die Große Koalition als tiefer Einschnitt
Das erzwungene Zusammengehen der beiden Volksparteien im Bund bedeutet insofern für den bundesdeutschen Parlamentarismus einen tiefen Einschnitt, der das Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation im Regierungsprozess auf lange Sicht verändern könnte. Die Große Koalition verschiebt die Parameter in dieser Hinsicht gleich in mehrfacher Hinsicht:
- Erstens unterminiert sie das Prinzip der alternierenden Regierung durch ihre schiere zahlenmäßige Übermacht. Diese geht soweit, dass die Opposition noch nicht einmal über das volle Arsenal parlamentarischer Kontrollrechte verfügt.
- Zweitens hat sie zur Folge, dass sich der Parteienwettbewerb tendenziell in die Regierung selbst verlagert, in der sich Union und SPD weiterhin als Rivalen begegnen. Die Konflikte werden deshalb weniger diskret ausgetragen als in einer Kleinen Koalition, was zu Blockierungen führen kann, unter Transparenzgesichtspunkten aber durchaus lobenswert ist.
- Drittens verändert sich das Verhältnis der Regierung zu den Mehrheitsfraktionen. Der Handlungsspielraum der Regierung wächst, weil sie aufgrund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse potenzielle Abweichler nicht fürchten muss. Auf der anderen Seite werden Rebellionen gerade dadurch wahrscheinlicher. Der Parlamentarismus könnte aus diesem Grund an Lebendigkeit sogar gewinnen.
- Viertens schließlich wird das Problem der föderativen Mitregierung entschärft. Die Große Koalition verfügt zwar im Bundesrat zurzeit nur über eine knappe Mehrheit. Im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen kann sie jedoch damit rechnen, diese Mehrheit zu halten oder sogar noch zu vergrößern – wenn nämlich der bekannte Zwischenwahleffekt eintritt und die beiden großen Parteien bei den Landtagswahlen Stimmen verlieren. In einem solchen Fall gibt es zur Bildung weiterer Großer Koalitionen entweder keine Alternative, oder die Parteien entschließen sich aus freien Stücken dazu, um die Länderpolitik mit der Bundespolitik „gleichzuschalten“. Die bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt werden dafür ein erster Testfall sein.
Über die elektoralen Konsequenzen der Großen Koalition kann man von heute aus nur begründete Mutmaßungen anstellen. Gewiss lässt es sich theoretisch leicht begründen, dass ein Zusammengehen der beiden Großen zu einem weiteren Ausfransen des Parteiensystems führen werde. Die regulären Oppositionsparteien könnten ebenso profitieren wie die Extreme an den Rändern. Der fortbestehende immanente Wettbewerb zwischen den Regierungsparteien macht einen solchen Effekt aber nicht zwingend. Dies gilt zumal, wenn es der Großen Koalition gelingt, eine Stimmungswende einzuleiten und die Reformen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme zum Erfolg zu führen. In keinem Fall darf es zu einer Entwicklung kommen, bei der sich die Große Koalition – mangels Alternative – als Regierungsmodell selbst perpetuiert. Österreich bietet hierfür das mahnende Beispiel schlechthin. Deshalb ist es wichtig, über andere Koalitionsformate nachzudenken und ihnen auf der Länderebene den Weg zu bereiten. Von rot-gelb-grünen oder schwarz-gelb-grünen Dreier-Bündnissen über geduldete Minderheitsregierungen bis hin zu Koalitionen mit der Linkspartei gibt es hier eine breite Palette von Möglichkeiten.
Die Abkehr vom bipolaren Modell, die eine Verbreiterung der wechselseitigen Koalitionsmöglichkeiten nach sich ziehen würde, hätte für die Funktionsweise des parlamentarischen Systems positive Folgen. Die Parteien könnten sich dann nicht mehr so feindselig begegnen, einseitig auf ihren eigenen Wettbewerbsvorteil setzen und eine Regierung unter Beteiligung des anderen kategorisch ausschließen; stattdessen wären sie zur Zusammenarbeit in der Sache gezwungen. Der Übergang zu einem kooperativeren Regierungsstil würde der Tatsache Rechnung tragen, dass sich das gegnerschaftliche Prinzip in den Zeiten der „post-parlamentarischen“ Demokratie ohnehin überlebt hat. Einerseits konkurrieren die Parteien heute verstärkt um dieselben Wählergruppen, sie stehen also nicht mehr nur für die Interessen ganz bestimmter Bevölkerungsteile. Andererseits verfolgen sie ähnliche Ziele und Lösungsstrategien, nachdem die großen ideologischen Konflikte der Vergangenheit angehören und die autonomen Handlungsspielräume des Nationalstaates geschrumpft sind. Beides verschärft den Wettbewerb um die Wählerstimmen, führt aber zugleich dazu, dass sich dieser Wettbewerb mangels realer Basis zunehmend in Scheingefechten ergeht und auf die Ebenen der Personalisierung, Inszenierung und bloßen Symbolpolitik verlagert. Dies droht die Parteiendemokratie im Ganzen zu delegitimieren.
Die Kehrseite der Konsensdemokratie
Die Kehrseite der Konsensdemokratie besteht darin, dass sie zwangsläufig die Bedeutung der Wahlen vermindert. Die Wähler könnten keine Richtungsentscheidung mehr treffen und müssten von den Parteien über die erwünschten oder wahrscheinlichen Koalitionsoptionen vorab im Unklaren gelassen werden. Wie die Erfahrungen aus Österreich oder den Niederlanden lehren, kann ein übertriebener Konsensualismus populistische Protestreaktionen auf den Plan rufen, die das etablierte Parteiensystem von außen herausfordern. Deshalb stellt sich die Frage, ob man das demokratische Defizit nicht durch anderweitige Formen der Bürgerbeteiligung auffangen könnte. Das naheliegende Beispiel liefert die Schweiz, wo das nahezu vollständige Fehlen von Parteienwettbewerb auf der Regierungsebene und die weit ausgebauten plebiszitären Entscheidungsrechte zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Analog dazu könnte man auch für die Bundesrepublik überlegen, das bisher ausschließlich repräsentative System um Elemente der Direktdemokratie zu ergänzen. Dies gilt umso mehr, als im Moment von den Regierungsfraktionen ernsthaft über eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre nachgedacht wird.
Was der Blick über den Tellerrand lehrt
Ein realistisches und systemverträgliches Konzept der direkten Demokratie setzt freilich voraus, dass man die einseitige Fixierung auf die Volksgesetzgebung (mit der Volksinitiative als Herzstück) aufgibt. Diese Fixierung hat die Debatte um die Plebiszite hierzulande in die Sackgasse geführt. Nicht von ungefähr wird ein solches Modell, bei dem das Volk in Konkurrenz zum parlamentarischen Gesetzgeber tritt, nirgendwo im nationalen Rahmen praktiziert. Der Blick über den Tellerrand zeigt, dass auch von einem einfachen Referendum oder einer „Vetoinitiative“ beträchtliche Wirkungen auf den politischen Prozess ausgehen. Dies gilt gerade für die Vetoinitiative, die als Zustimmungsvotum zu einem bereits beschlossenen Gesetz ein potenzielles Instrument in den Händen der Opposition darstellt. Wenn ein neuer Anlauf für die Aufnahme direktdemokratischer Elemente ins Grundgesetz gelingen soll, gilt es, sich an diesen Varianten zu orientieren. Die Große Koalition mit ihrer verfassungsändernden Zwei-Drittel-Mehrheit böte dazu eine gute Gelegenheit.