Die Zukunft gehört der linken Mitte
Die Bundestagswahl 2005 hat den Deutschen ein Parlament beschert, das in seiner Komplexität seit Einführung der bundesweiten Fünf-Prozent-Hürde 1953 ohne Vorbild ist. Die traditionellen Lager Schwarz-Gelb und Rot-Grün haben keine eigenständige Mehrheit im Bundestag, denn mit nahezu neun Prozent an Zweitstimmen ist eine Partei in den Bundestag eingezogen, die vorgibt, die einzig wahre Alternative zu sein und die sich auf Bundesebene als Fundamentalopposition gebärdet.
Auf der anderen Seite steht ein Lager aus CDU, CSU und FDP, das sich inhaltlich in den Jahren der rot-grünen Bundesregierung immer weiter in die neoliberale Ecke bewegt hat. Diese drei Parteien haben nach der Wahl nicht erkannt, dass ihr Politikansatz ohne soziales Profil im Wahlvolk keine Mehrheit gefunden hat. Bei der Bundestagswahl am 18. September ging es aber nicht nur um links oder rechts, sondern auch um gestern oder heute.
Von gestern ist eine Union, die hinter die Idee der sozialen Marktwirtschaft zurückfällt. In ihrem Wahlkampf kaschierte sie mit dem Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ eine Politik, die sich von dem sozialen Konsens abwendet, der an der Wiege der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte stand. Die Berufung Paul Kirchhofs in das Merkelsche Kompetenzteam machte dies schlagartig klar. Die Union trat offen dafür ein, die soziale Symmetrie zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verschieben, aber auch zu Ungunsten ihrer eigenen Klientel, dem „alten“ Mittelstand. Denn noch vor den Verbrauchern würden der Einzelhandel und das Handwerk mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Kasse gebeten. Die Bundestagswahl hat gezeigt: Die Union mit ihrer liberalen Vorsitzenden und Kanzlerkandidatin Angela Merkel hat ihren Charakter als Volkspartei aufgegeben. Deswegen steht der Partei nach der Wahl eine grundsätzliche Debatte bevor: Was ist eigentlich christdemokratische Politik im 21. Jahrhundert?
Von gestern – wenn nicht von vorgestern – ist die Linkspartei, mit der die PDS ihren zweiten Versuch der Westausdehnung unternimmt. Im Westen arbeitet die PDS mit einem Treibsand politischer Aktivisten zusammen, die nicht selten mehrere Parteikarrieren abgebrochen haben. Die neu gegründete WASG hat sich nach der Listenvereinigung mit der PDS bereits wieder überflüssig gemacht. Dies zeigte sich auch im Wahlkampf: Die alte PDS gab die Richtung vor. Das Wahlprogramm war das der PDS, sie organisierte den Wahlkampf. PDS/ML, PDS mit Lafontaine – das ist kein billiges Wortspiel, sondern eine treffende Zustandsbeschreibung. Schwerer jedoch wiegt, dass die so genannte Linkspartei die Fragmentierung der politischen Linken betreibt. Die gesellschaftliche Mehrheit diesseits der CDU kann so nicht regierungsfähig werden.
Kenntlich wird das Antlitz einer alten Braut
All dies ist nicht wirklich neu. Man muss dabei nicht gleich Weimarer Verhältnisse heraufbeschwören, doch an sie erinnern darf man schon. Es ist nämlich bemerkenswert, wie rasant sich die Union von den Erkenntnissen und Forderungen der katholischen Soziallehre und den Traditionen der katholischen Zentrumspartei fortbewegt hat und dies von Zeit zu Zeit mit einem aufgesetzten christlich-abendländischem Patriotismusdiskurs zu kaschieren suchte. Dabei machte gerade die bundesrepublikanische Synthese aus Zentrumstradition und bürgerlichen Interessenparteien die Union zur Volkspartei. Inzwischen läuft sie geradewegs in eine längst für überwunden gehaltene Vergangenheit zurück. Zerreißt der aus wahltaktischen Gründen aufgelegte Schleier, dann wird unter ihm das Antlitz einer alten Braut kenntlich – das zerfurchte Gesicht der liberal-konservativen, nationalistisch aufgeladenen Deutschen Volkspartei der Weimarer Republik. Oder anders gesagt: einer großen schwarzen FDP.
Ist gerecht, wenn alle gleich wenig haben?
Die sich nun Linkspartei nennende PDS verfolgt zwei Ziele, die ihren rein populistischen Charakter offenbaren: Sie möchte möglichst viele Protestwähler von rechts und links an sich binden, und sie möchte in keinem Fall Regierungsverantwortung tragen. Das Schüren des Ressentiments, der Vorwurf des Wahlbetrugs und Verrats sind die Mittel der Agitation, die Lafontaine beherrscht. Verrat am Volk im Allgemeinen wirft er den Parteien summarisch vor, Verrat an den „kleinen Leuten“ der SPD im Besonderen. Waren es dazumal die „Systemparteien“, so sind es heute die „neoliberalen Parteien“, gegen die das vermeintlich ungehörte, „von oben“ geknebelte Volk in Stellung gebracht wird. Von der SPD verlangt Gysi sibyllinisch, sie möge wieder „sozialdemokratisch“ werden. Soll heißen: Sie soll werden, wie die PDS bereits ist. Ernst gemeint ist dies nicht, denn die Sozialdemokratie ist ja der eigentliche politische Konkurrent der PDS. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die PDS/Linkspartei die SPD als die gefährlichste neoliberale Partei bekämpft, weil diese ihren vermeintlich unsozialen Charakter am besten kaschiere. Auch dies wäre kein neuer Vorwurf: In den Jahren der Weimarer Republik verunglimpfte die KPD die SPD als sozialfaschistische Partei. Eine positive Vision hat die PDS/Linkspartei dagegen nicht anzubieten: Soziale Gerechtigkeit mündet bei ihr geradewegs in das gleiche Verteilen des immer kleiner werdenden Kuchens. Die Kritik gerät so unter der Hand zur negativen Vision.
Berlin ist nicht Weimar. Eine Politik der linken Mitte muss gegenüber den neoliberalen Zumutungen von rechts und den populistischen Attacken von gestern den Dritten Weg gehen, der eng mit dem „Europäischen Traum“ verbunden ist, den Jeremy Rifkin beschrieben hat. Dieser Europäische Traum beruht zuerst auf einem spezifischen Verständnis von Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit des Einzelnen liegt nicht in persönlicher Autonomie, sondern in gemeinschaftlichen Beziehungen. Frei zu sein heißt, teilhaben zu können. Nur gleichberechtigte Teilhabe schafft Freiheit und Sicherheit. Das ist der Sinn einer sozialdemokratischen Politik des Förderns und Forderns. Das Problem der SPD liegt darin, dass sie diese Politik zu sehr auf die depravierten Unterschichten bezogen hat und nicht genügend auf die Oberschichten, die sich von der bundesdeutschen Gesellschaft abgelöst haben und ihre Verantwortung für das Gemeinwesen scheuen. Fördern und fordern muss hier deshalb heißen: runter mit den Unternehmenssteuern auf ein westliches Niveau, aber rauf mit den Steuern für die sehr gut Verdienenden – ebenfalls auf ein Niveau, das zum Beispiel dem der Vereinigten Staaten entspricht.
Fortschritt statt Gegenwartverweigerung
Eine Politik der linken Mitte muss auch weiterhin auf die mühsame Arbeit der Aufklärung setzen und sich gegen neoliberalistische und populistische Heilsversprechungen gleichermaßen wenden. Sie kann sich nur in einer „zupackenden und deshalb optimistischen Auseinandersetzung mit dem dynamischen Wandel der Welt“ (Tobias Dürr) bewähren. Denn die SPD hat in ihrer Geschichte eines lernen müssen: Stumpfsinniges Festhalten am Vergehenden oder starrsinnige Gegenwartsverweigerung sind die Feinde des sozialen Fortschritts. Oder einfacher gesagt: Das wäre Leistungsverweigerung gegenüber den neuen Herausforderungen der Zeit.
Nachdem die Parteien ihre Vorstellungen von der zukünftigen Gestaltung Deutschlands in ihren Wahlprogrammen festgehalten haben, lassen sich auf vier zentralen Politikfeldern die unterschiedlichen Standpunkte benennen und der Dritte Weg der linken Mitte besser ausleuchten: Es geht erstens um die Zukunft des staatlichen Handelns, zweitens um eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik angesichts einer lahmenden Binnenkonjunktur, drittens um eine nachhaltige Sozialpolitik unter den Bedingungen der Globalisierung und viertens um eine europäische Außenpolitik.
Nationalismus von rechts und von links
Grundlegend für das Politikverständnis einer Partei ist ihre Haltung zum demokratischen Staat. Die Union hat ihre Einstellung zum Staat in den vergangenen Jahren deutlich geändert. War es früher ihr Ziel, den Staat zu erobern und in ihrem Sinne zu gestalten, möchte sie ihn heute unter dem Schlagwort des „Bürokratieabbaus“ noch weiter verschlanken. Ankündigungen in ihrem Wahlprogramm wie „Wir bauen staatliche Aufgaben ab“ oder „Der Staat muss sich auf seine Kernaufgaben beschränken“ deuten dies an. An die Stelle einer vermeintlichen „Gängelung der wirtschaftlichen Betätigung durch Rechtsvorgaben des Bundes“ will sie eine möglichst liberale Marktordnung setzen.
Dahinter steckt eine Verschiebung des Kräftegleichgewichts zwischen Marktkapitalismus und Staat: Nicht der demokratische Staat reguliert den Markt, sondern die Wirtschaft bestimmt den Rahmen staatlichen Handelns. Die größte Gefahr für effektives staatliches Handeln droht freilich durch eine neoliberale Steuerpolitik. Durch weitere Kürzungen auf dem Gebiet der Einkommenssteuer werden die öffentlichen Hände weiter in die Verschuldungsfalle gejagt – und der Staat Schritt für Schritt handlungsunfähig. So wird die Verfassung umgeschrieben. Artikel 20 des Grundgesetzes müsste demnach lauten: „Alle Staatsgewalt geht vom Markt aus!“
Umgekehrt ist die Politik der PDS/Linkspartei durchsetzt mit der Forderung von Aufgaben, die der Staat zusätzlich übernehmen soll. Sie präsentiert eine geradezu naive neue Staatsgläubigkeit und weckt die Sehnsucht nach dem starken, schützenden Nationalstaat. Nationalismus kann man von rechts und von links betreiben. Lafontaine betreibt ihn von links. Nur: Damit war die Linke immer auf der Verliererstraße. Die SPD versucht demgegenüber die Maxime „so viel Staat wie nötig mit so wenig Bürokratie wie möglich“ zu vertreten. Der Staat soll nicht zur Magd der Wirtschaft werden. Dass „Geld die Welt regiert“ will sie nicht akzeptieren. Zu Recht wird „der Primat der Politik“ reklamiert, denn Demokratie ist ohne einen handlungsfähigen Staat nicht zu haben. Um gesellschaftliche und politische Ordnungen gestalten zu können, bedient sich demokratische Politik des Staates.
Hier Marktkräfte, dort Nationalwirtschaft
In der Wirtschaftspolitik liegen die Positionen der drei Parteien ebenfalls auseinander. Hier baut die Union unter dem Motto „Vorfahrt für Arbeit“ auf eine angebotsorientierte Politik. „Weniger Vorschriften, mehr Freiheit“ – schon dieses Versprechen zeugt von der Grundannahme der CDU, dass bereits das möglichst ungehinderte Wirken der Marktkräfte für Wachstum, Arbeit und Wohlstand sorgen werde. Damit macht sich die Union die Globalisierung zum eigenen Programm und erklärt den Wettbewerb zum Ziel der Wirtschaftspolitik. Demgegenüber traut wiederum die PDS/Linkspartei dem freien Markt rein gar nichts zu. Sie setzt auf Nachfragepolitik durch Staatskredite und auf nationalwirtschaftliche Konzepte, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Recht aufgegeben wurden.
Beiden Positionen widerspricht die SPD. Sie warnt vor einer weiteren Liberalisierung der Märkte, weil diese zu „mehr Ungerechtigkeit plus mehr Unsicherheit“ führe, und sie setzt sich für eine Mischung aus angebots- und nachfrageorientierter Politik ein, um die Herausforderungen der Globalisierung anzunehmen. Seit Karl Schiller weiß die Partei (oder müsste sie wissen): Wettbewerb ist kein Ziel, sondern ein Mittel der Wirtschaftspolitik, um Wohlstand für alle zu erreichen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die SPD weiß auch, was Sozialpartnerschaft und sozialer Friede bedeutet. Wer jedoch wie die Union die Tarifautonomie aushöhlt, verlagert den Lohnkampf in die Betriebe – und öffnet im Übrigen den Agitatoren der PDS/Linkspartei die Tore zu neuen Spielwiesen.
Zwischen Amerikanismus und Isolationismus
Auch in der Sozialpolitik hatten die Wählerinnen und Wähler die Wahl: Während die Union die Privatisierung von Lebensrisiken vorantreibt und das Paritätsprinzips bei der Finanzierung der Sozialversicherungen (Stichwort: Gesundheitsprämie/Kopfpauschale) aufgibt, Schutz- und Arbeitnehmerrechte aufweichen will, träumt die PDS/Linkspartei von der Renaissance des Sozialstaats der siebziger Jahre.
Die SPD sucht dagegen nach einem beschäftigungs- und sozialpolitisch gleichermaßen ausgewogenen Konzept der nachhaltigen Sicherung der Sozialversicherungen und des Sozialstaats. Dafür stehen sowohl größere Anstrengungen zur Eigenverantwortung wie die Idee der Bürgerversicherung. Während bei der PDS/Linkspartei alle Einkommensarten lediglich in die gesetzlichen Krankenversicherungen einbezogen werden sollen, möchte die SPD gesetzliche und private Krankenversicherungen in einem Wettbewerb auch weiterhin bestehen lassen. Als Bemessungsgrundlage will sie Löhne, Gehälter, Renten und zu einem gewissen Anteil auch Kapitalerträge heranziehen. Mieten und Pachten sollen beitragsfrei bleiben.
Auch in der Außenpolitik markierten die Wahlprogramme deutliche politische Unterschiede. Die Union setzt auf eine transatlantische Politik und fordert „nicht Abgrenzung zu den USA“, sondern ein gemeinsames Engagement „beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus“. Die PDS/Linkspartei forderte das Gegenteil und eine deutliche Abkehr von der derzeitigen Außenpolitik. Eine zentrale Aussage in ihrem Programm lautet: Keine Beteiligung der Bundeswehr mehr an internationalen Einsätzen. Die Haltungen beider Parteien laufen auf eine bilaterale Außenpolitik hinaus. Die einen wollen im Windschatten der Washingtoner Außenpolitik segeln, die anderen vertreten unmögliche isolationistische Positionen.
Die SPD dagegen zeichnet ihre Außenpolitik weiter: Multilateralismus, stärkere Elemente der vorausschauenden Friedenspolitik („Konfliktprävention, Krisenbewältigung und Friedenskonsolidierung“), die Stärkung der Vereinten Nationen und eine deutlichere Positionierung Europas „in Sachen Frieden und Sicherheit“.
Gegen die Rückkehr der großen Dogmen
Der alte Antikapitalismus war eine Weltanschauung. Die PDS/Linkspartei versucht, diese Weltanschauung gegen jene des neuen Kapitalismus zu revitalisieren, den in reinster Form die FDP vertritt. Es wäre fatal, wenn beide Ideologien unser Leben und Denken beherrschen würden. Die Alternative zur Rückkehr der großen Dogmen bildet das offene und wandlungsfähige Konzept der sozialen Demokratie, das die SPD anbietet und weiter entwickeln muss. Reformpolitik mit Leidenschaft, mit Augenmaß und in sozialer Verantwortung kann nur gelingen, wenn die Idee der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit immer wieder gegen die ungerechten Zustände der Gegenwart erneuert wird. Dies ist und bleibt der Auftrag der Sozialdemokratie. Sie muss ihn jetzt offensiv annehmen.