Dieser Tee ist auch unser Bier
In den Wochen vor den Wahlen zum amerikanischen Senat und Repräsentantenhaus konnten sich progressive Kommentatoren noch einmal so richtig in Rage schreiben angesichts des bevorstehenden Durchbruchs der Tea-Party-Bewegung. Schrill, hasserfüllt, eigentlich rechtsextrem, dazu ziemlich dümmlich und auf jeden Fall nicht ernstzunehmen – so lautete ihr Verdikt. In Wirklichkeit ist dieses pauschale Urteil nicht nur unzutreffend. Es verhindert zugleich das Verständnis eines Phänomens, das auch in Europa um sich greift und von dem die Parteien der linken Mitte besonders betroffen sind. Schließlich hat sich die Krise der Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren eher noch verschärft, just in einer Periode also, in der sich vor allem ihr linker Flügel angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrisen und des weit verbreiteten Unmutes über gierige Banker einen kräftigen Aufwind erhofft hatte. Das Gegenteil trat ein: Quer durch Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten und Australien, verloren progressive Parteien weiter an Zustimmung.
Nein, die Essenz dessen, was die Tea Party ausmacht, stellt eine ernstzunehmende Herausforderung für die etablierten Parteien jeglicher Couleur dar. Und die Motive, die diese Rebellion beflügeln, sind auch in Europa vorhanden, bei allen Unterschieden der politischen Kulturen dies- und jenseits des Atlantiks. Jimmy Carter, demokratischer one term-Präsident der Vereinigten Staaten zwischen 1976 und 1980, widersprach dem gängigen Urteil europäischer Intellektueller über die Tea Party: In einem Interview mit dem Fernsehsender CNN vertrat er die Auffassung, dass sich in dieser Bewegung die gleichen Kräfte äußerten, die ihn, den Außenseiter aus Georgia, im Jahr 1976 zur Präsidentschaft verholfen hätten. Carter war damals als Anti-Establishment-Kandidat angetreten, als Politiker, der in Opposition stand zum politischen Betrieb in Washington mit all seinen Bürokraten, Lobbyisten und seiner bürgerfernen politischen Elite.
Auch Barack Obama hat seine Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten und seinen Wahlsieg im Jahr 2008 zu einem Gutteil einer Rhetorik zu verdanken, die verblüffende Ähnlichkeit mit den Reden aufweist, die die Herzen der Tea-Party-Bewegten erfreuen. Washington sei ein Ort, sagte Obama im Wahlkampf 2008, „wo Politik ein Geschäft statt eine Mission geworden ist, wo sich Zyniker und Lobbyisten tummeln. Sie schreiben die Schecks, ihr zahlt, sie haben Zugang zur Macht, während ihr bloß Briefe schreiben könnt. Sie benehmen sich, als gehörte ihnen die Regierung. Aber wir sind da, um die Regierung zurückzuholen“. Jetzt ist Obama selbst „Washington“ geworden. Die rhetorischen Mittel, die er einsetzte, um die Macht zu gewinnen, werden nun gegen ihn selbst eingesetzt.
Der Aufstand der Tea-Party-Bewegung knüpft an die Tradition früherer Rebellionen an, die in Amerika in mehr oder minder regelmäßigen Abständen ausbrachen und das Establishment in Unruhe versetzten. Man könnte es eine „Revolte gegen die Eliten“ nennen. Die Bürger wehren sich gegen den mutmaßlich ausgreifenden, oftmals als übergriffig empfundenen modernen Staat und die Herrschaft der technokratischen Eliten.
Ähnliches vollzieht sich derzeit in Europa. Der niederländische Soziologe Paul Scheffer von der Universität Amsterdam sieht in der Flutwelle des Populismus, die durch Amerika wie Europa rast, gar den Anfang vom „Ende der liberalen Epoche“ heraufziehen. Der Pessimismus, der in dieser Schlussfolgerung anklingt, mag von dem schmerzlichen Verlust an politischer Macht und Einfluss geprägt sein, den progressive Kräfte, nicht zuletzt die holländischen Sozialdemokraten, hinnehmen mussten, während die antiislamistische Partei von Geert Wilders an Macht gewann. Dennoch spricht einiges für Paul Scheffers These. Der liberale Konsens ist zerbrochen, der viele Dekaden dominierte und zu dessen wesentlichen Elementen die prinzipielle Befürwortung umfangreicher Einwanderung und des Multikulturalismus zählte.
Bereits in den späten achtziger Jahren sah der amerikanische Historiker Christopher Lasch eine Gegenentwicklung heraufziehen. In seinem Buch The True and Only Heaven – Progress and its Critics beschrieb er die wachsende Skepsis der amerikanischen blue collar class, der breiten unteren Mittelschicht von Arbeitern und Angestellten gegenüber dem Fortschrittsbegriff der kosmopolitischen Eliten. Einige Jahre später warnte er in seinem letzten Werk vor der „Revolte der Eliten“.
Gemeint war die Herausbildung einer transnationalen Klasse, einer „entwurzelten, staatenlosen Schicht“, die sich als Elite versteht: Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen, Film- und Kulturgrößen, Banker und Medienmagnate. Diese würden ihr Leben losgelöst von nationaler, regionaler und lokaler Verankerung gestalten, nicht auf die nationalstaatlich organisierten gesellschaftlichen Einrichtungen angewiesen sein und wenig, wenn überhaupt noch etwas, mit der Masse der Menschen zu tun haben.
Jetzt hat eine Gegenrevolte gegen diese Eliten begonnen. Gewiss setzt sich der Zorn der Bürger auf „die da oben“ in den Vereingten Staaten schneller durch als auf unserem Kontinent. Auch sind uns Europäern die rapiden personellen Konsequenzen unbekannt, die das politische System Amerikas ermöglicht, weil es durchlässiger und basisdemokratischer angelegt ist. Die Dominanz der Parteihierarchien kann von unten leichter aufgebrochen werden; selbst lang etablierte Governeure, Senatoren und Abgeordnete werden leichter abgewählt und durch unbekannte Greenhorns ohne jede politische Erfahrung abgelöst.
Doch die Instinkte und Aspirationen dieses Protestes gleichen in vieler Hinsicht denen in Europa. Allerdings sollte man der Versuchung widerstehen, Populismus automatisch mit einer rechten Gesinnung gleichzusetzen. In Wahrheit ist der Populismus jenseits von links und rechts angesiedelt, wie nicht zuletzt die zu nicht unerheblichen Teilen zustimmende Reaktion der sozialdemokratischen Basis in Deutschland auf die Ansichten von Thilo Sarrazin belegen.
Generell gesprochen haben die politischen wie ökonomischen Eliten an Glaubwürdigkeit verloren. Sie stoßen auf Ablehnung, wenn nicht gar auf Verachtung. Die Politiker seien schlechter und raffgieriger geworden, so meinen viele, vom Image der schamlosen Banker und Wirtschaftsführer mit ihren exorbitanten Gehältern und Boni ganz zu schweigen. Diese Einstellungen haben Folgen für die Projekte der Eliten, die von der Mehrheit der medialen und kulturellen Klassen unterstützt und oft genug gegen den erklärten Willen der Bevölkerungsmehrheit verwirklicht wurden.
Umso schlimmer, dass sich in diesen krisenhaften Zeiten herausstellt, wie unausgereift, voreilig oder gar untauglich viele dieser Elitenprojekte leider angelegt waren. Das trifft auf den Euro zu, den eine Mehrheit der Deutschen nie wollte, und ebenso auf die Konstruktion der Europäischen Währungsunion. Deren strukturelle Mängel (unter anderem ein einheitlicher Leitzins für einen Kontinent mit völlig unterschiedlichen ökonomischen Kulturen und extrem unterschiedlichen Schuldenständen) waren schon vor der Gründung klar erkennbar, sie wurden von den Eliten aber geflissentlich ignoriert.
Ähnliches gilt für den Multikulturalismus, wie ihn Teile der europäischen Eliten eine Zeitlang als gesellschaftliches Leitbild propagierten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Idee nun nochmals für gescheitert erklärt – dem Unmut Rechnung tragend, der sich auch in Deutschland bemerkbar macht. Tatsächlich hatten Linksliberale und Wirtschaftsvertreter die Einwanderung jahrzehntelang ohne allzu große Sorgen um deren Risiken und Nebenwirkungen befürwortet. So vermochten beide Gruppen ihre Vorstellungen zu verfolgen, in denen der Nationalstaat eigentlich nur noch als Relikt der Geschichte auftaucht, das letztlich einer kosmopolitischen Zukunft zu weichen habe.
Big Business braucht immer willige, billige, oft gut ausgebildete Arbeitskräfte – die in den Staaten Westeuropas offenkundig nicht mehr in genügend großer Zahl vorhanden sind, weil unsere Gesellschaften altern und schrumpfen, aber auch weil sich viele Menschen aus der Arbeitswelt verabschiedet und im Wohlfahrtsstaat eingerichtet haben. Kein Wunder, dass im öffentlichen Diskurs nun wieder das Begriffspaar der deserving und undeserving poor auftaucht.
Eine komplizierte Gemengelage hat sich herausgebildet: Die sozialen und kulturellen Spannungen haben in den multiethnischen Gesellschaften des Westens zugenommen, der Wunsch nach Sicherheit und Bewahrung nationaler Identitäten ist spürbar stärker geworden – während zugleich die Gegensätze zwischen kosmopolitischen Eliten und den nationalstaatlich verhafteten breiten Mittelschichten schärfer zu Tage treten. Diese Spannungen konnten die großen Volksparteien lange erfolgreich überbrücken, ob Sozialdemokraten oder Christdemokraten, ob Progressive oder Konservative.
Hinzu gesellt sich ein weit verbreiteter Ärger über zu viel Staat, zu viele Abgaben, zu viel Mikroregulierung des Alltags. Zwei Beispiele aus Großbritannien: Aus Angst vor Pädophilen hat die britische Polizei rund 20 Millionen Erwachsene überprüft, die beruflich mit Kindern zu tun haben. Und Bestimmungen zum Schutz vor Unfällen machen Schulreisen mancherorts beinahe unmöglich. Über die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen wacht ein Heer von Wichtigmachern, die in wuchernden Bürokratien sitzen und tendenziell nach mehr Einfluss streben. Dieses „eherne Gesetz der Oligarchie“ hat der deutsche Soziologe Robert Michels schon Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben. Selbst in Zeiten der Austeritätspolitik, die angesichts der staatlichen Verschuldung in nahezu allen Ländern unabdingbar geworden ist, sitzen Staatsdiener zumeist auf gutdotierten, sicheren Arbeitsplätzen mit großzügigen Pensionsregelungen, was zu einer neuen Frontstellung von „privat“ gegen „staatlich“ führt.
Die Politik ignoriert diese Entwicklungen auf eigene Gefahr, wobei der Unmut der Wähler sich auch gegen die „politisch korrekte“ Sprache der Politiker richtet. Vor lauter Furcht, Sensibilitäten zu verletzen oder durch Formulierungen Anstoß zu erregen, haben sie weitgehend den Mut, wenn nicht gar die Fähigkeit verloren, die Dinge klar beim Namen zu nennen. Deshalb kommen viele von ihnen ängstlich und verhuscht daher, so dass man ihnen eigentlich nicht mehr zuhören möchte.
Die Revolte ist eine Revolte jenseits von links und rechts, so wie viele der drängenden Probleme und Herausforderungen das traditionelle Muster von rechts und links transzendieren – etwa die Spannungen zwischen der Vielfalt der multiethnischen Einwanderungsgesellschaften Europas und Nordamerikas und wohlfahrtsstaatlich garantierter Solidarität. Diese Spannungen machen selbst gut organisierten Sozialstaaten zu schaffen. Davon kann in Deutschland aber nicht die Rede sein. Eine Reform des Sozialstaates ist überfällig, weil er auswucherte, zu viele „perverse“ Anreize schuf, die staatlich subventionierte Untätigkeit befördert, und weil er schlicht unbezahlbar geworden ist. Sozialausgaben verschlingen etwa die Hälfte des gesamten Bundeshaushaltes und sind maßgeblich für die strukturellen staatlichen Defizite verantwortlich, die sich herausgebildet haben. Es ist ein Menetekel, dass Deutschland in diesem Jahr trotz kräftigen Wachstums und reichlich sprudelnder Steuereinnahmen des Staates neue Kredite in Höhe von rund 50 Milliarden Euro aufnehmen muss. Schon heute zahlt der Bund jährlich an die 38 Milliarden Euro allein für Zinsen. Kein einziger Cent fließt in die Schuldentilgung.
Allerdings: Durch revolutionären Elan, wie von vielen Linken erhofft, zeichnet sich dieser Aufstand der Massen nicht aus. Die sozialistische Utopie besitzt keine Strahlkraft mehr. Die Wähler haben begriffen, dass es zur Marktwirtschaft keine Alternative gibt, wie groß der Unmut über die kapitalistischen Exzesse auch sein mag. Sie trauen linken, auch sozialdemokratischen Parteien offenkundig umso weniger über den Weg, je stärker diese glauben, die Rettung liege in einer Wendung nach links. Die Lage der SPD, die auf Distanz ging zu ihren insgesamt erfolgreichen wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, ist ein Indiz dafür.