Don’t cry. Act!
Während das Fundament der europäischen Einigung langsam ins Rutschen gerät, kann die Bundesregierung ihr Glück kaum fassen: Das Auge des Sturms, der seit nunmehr drei Jahren über Europa hinweg fegt, fällt mitten in den deutschen Wahlkampf. Die gigantischen Rettungsschirme haben die klammen Krisenstaaten fürs erste mit ausreichend Kapital versorgt. Die Marktakteure trauen sich nicht mehr, auf ein Ende der gemeinsamen Währung zu wetten, seit die Europäische Zentralbank angekündigt hat, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen. Mit dem Fiskalpakt sowie weiteren Vertragsinitiativen scheinen die „konsumfreudigen Südländer“ nun endlich an die Leine deutscher Stabilitätspolitik genommen worden zu sein.
Kein Wunder, dass Union und FDP wieder auf das setzen, was sie am besten können: das Simulieren von Regieren. Die Bundesregierung veranstaltet einen Gipfel nach dem anderen und verabschiedet inhaltsarme Papiere und Erklärungen. Dafür werden Probleme wie die Jugendarbeitslosigkeit oder die institutionelle Prägung der Eurozone eilig ins Rampenlicht gerückt und dann wieder in die Kulisse geschoben.
Doch wie das so ist mit dem Auge des Sturms, die Ruhe ist trügerisch. Die Fülle an Initiativen und Gipfeln verschleiert das Problem, dass Europa einer substanziellen Lösung der Eurokrise bislang kaum näher gekommen ist. Viel spricht dafür, dass uns die Dynamiken der Krise auf absehbare Zeit immer wieder einholen werden. Für alle politischen Kräfte, die an einem Europa der Solidarität, der Solidität und der Nachhaltigkeit interessiert sind, wird es deshalb Zeit, die nächsten Schritte des Integrationsprozesses konkret vorzudenken und offensiv zu vertreten.
Erstens ist festzustellen, dass sich der deutsche Krisendiskurs von der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger in den anderen europäischen Ländern stark entkoppelt hat. Während die Strategie der Bundesregierung, die instabile Architektur der Währungsunion durch einen Export der deutschen „Stabilitätskultur“ auf die europäische Ebene zu retten, hierzulande überwiegend auf Zustimmung stößt und Angela Merkel wechselweise mit Bismarck oder Thatcher verglichen wird (aus progressiver Sicht sicher keine Komplimente), gefährden die Auswirkungen dieser Politik zunehmend den gesellschaftlichen Frieden in den südlichen Ländern Europas. Griechenland, Portugal oder Italien haben im Zuge der Krise bereits heute sämtliche Wohlstandsgewinne der vergangenen zehn Jahre verloren. Die massive Arbeitslosigkeit vor allem der jungen Bevölkerung erzeugt erschreckende Verarmung und einen Mangel an Verwirklichungschancen, der in Europa schon lange überwunden zu sein schien.
Sozialsysteme vor dem Kollaps
Die Sozialsysteme stehen, wie in Griechenland, praktisch vor dem Kollaps. Die Veränderungen in den politischen Systemen dieser Länder lassen sich kaum vorhersagen. Sowohl in Italien als auch in Griechenland sind Extremisten und Protestparteien nach den jüngsten Wahlen ähnlich stark wie die alten Volksparteien. Die Krisenländer stehen somit vor großen Umbrüchen, die auch die Stabilität der Währungsunion insgesamt bedrohen. Die Jugendarbeitslosigkeit und der Zusammenbruch der öffentlichen Solidarsysteme werden zur Sollbruchstelle der bestehenden Ordnung. Von der deutschen Öffentlichkeit werden diese Entwicklungen wenn überhaupt, dann bestenfalls stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen. Der tief verwurzelte Konsens bundesdeutscher Außenpolitik, sich niemals zu isolieren, schon gar nicht in der EU, ist einem Reflex der Angst um den eigenen Geldbeutel gewichen.
Sogar noch alarmierender – und dies ist der zweite große Krisenindikator – ist jedoch, dass die mit der Brechstange durchgesetzte Austeritätspolitk nicht nur außenpolitisch heikel und unsozial ist. Sie beruht, schlimmer noch, auf einer unzureichenden Analyse. Die Strategie der Bundesregierung sieht den Ausgangspunkt der Krise in der öffentlichen und privaten Verschuldung der südlichen Volkswirtschaften, also in der angeblichen Umgehung der im Stabilitäts- und Wachstumspakt verabredeten Stabilitätspolitik. Dabei ist dies lediglich der Auslöser. Die eigentliche Ursache liegt in dem viel grundsätzlicheren Problem, dass die ökonomische Steuerung der Währungsunion bewusst den Märkten überlassen wurde. Der Geburtsfehler der Währungsunion, eine einheitliche Währung ohne eine politische Union zu etablieren, beruht auf exakt der gleichen Prämisse, mit der seit den neunziger Jahren auch die Finanzmärkte dereguliert wurden: Der freie Markt, so die irrige Annahme, bewerte Risiken und Chancen transparent und sorge deshalb für eine effektive Zuteilung des Faktors Kapital. Entgegen der üblichen Einschätzung, eine gemeinsame Geldpolitik setze eine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik zwingend voraus, argumentierten die Befürworter der jetzigen Gestalt der Währungsunion, die „unsichtbare Hand“ des Marktes werde die Mitgliedsländer automatisch auf den Pfad stabilitätsorientierter Politik führen. Die Märkte würden die weniger nachhaltig wirtschaftenden Länder automatisch mit höheren Zinssätzen für ihre Staatsanleihen sanktionieren und damit auf den Pfad der Tugend einer stabilitätsorientierten Haushaltspolitik zwingen.
Grundpfeiler dieses Ansatzes sind die strikte Neutralität der Zentralbank (die die Preisbildung an den Kapitalmärkten nicht manipuliert) und eine Nobailout-Klausel, also der Ausschluss gemeinsam garantierter Finanzierungsmittel. Die Idee, die Währungsunion auf den Glauben an die Steuerungsfähigkeit der Finanzmärkte zu bauen hat – nun ja – nicht funktioniert. Der Markt war bis zur Krise schlicht nicht in der Lage, die unterschiedlichen Entwicklungen in den Euroländern angemessen abzubilden. Außerdem wirken Zinssätze prozyklisch und nationale Regierungen haben in Zeiten niedriger Zinsen einen starken Anreiz, diese Wirkung zu verstärken. Während man den Finanzmärkten bis zu ihrer Krise Naivität in der Beurteilung der Solidität einiger Länder der Währungsunion unterstellen kann, verfielen sie anschließend in ebenso unangemessene Panik. Wenn unter der Führung der deutschen Bundesregierung die Rückkehr an den Kapitalmarkt als Maßstab für die Reformbemühungen der Krisenländer gemacht wird, dann wiederholt sich dieser Fehler erneut.
Viel Gepolter, wenig Konkretes
Das momentane Krisenmanagement hat den Zusammenbruch der Eurozone bislang zwar verhindern können. Jenseits akuter Rettungsmaßnahmen und abstrakter Vereinbarungen, die – wie im Falle des Fiskalpaktes – den Krisenländern vor allem zur Stabilisierung der deutschen Regierungskoalition abgerungen wurden, ist die Krise allerdings nicht gelöst. Es ist ein Konvolut an Rettungsmechanismen, Vertragsänderungen und Projekten ins Leben gerufen worden, das die Entscheidungen über die Zukunft Europas mehr und mehr in die Konferenzflure des Europäischen Rates verlagert hat. Die Krisenländer sind in eine abrupte Spirale realer Abwertung gezwungen worden, die den Kontinent in die Rezession gestürzt haben. Und mehr noch: Unter maßgeblicher Beteiligung der schwarz-gelben Bundesregierung wurden die zentralen Pfeiler des bisherigen Ordnungsparadigmas, die Unabhängigkeit der Zentralbank und die Nobailout-Klausel, vaporisiert, ohne dass eine Strategie für eine nachhaltige Konvergenz der Eurozone in der Zukunft erkennbar ist.
Wie kann nun die Antwort auf diese Problembeschreibung in Deutschland und Europa aussehen? Der Zusammenbruch des neoliberalen Paradigmas muss aus theoretischer Perspektive nicht bedauert werden – im Gegensatz zu seinen realen Auswirkungen. Angesichts des Bewusstseins, dass im Zeitalter eines globalen Kapitalismus nur ein vereintes Europa einen glaubhaften Gestaltungsanspruch für eine solidarische und demokratische Gesellschaft formulieren kann, verwundert es allerdings, wie zaghaft sich die kritischen Kräfte an die Rettung ihrer Arche machen. Viele Wortmeldungen bleiben der bequemen Status-quo-Kritik verhaftet, erschöpfen sich im Gepolter gegen die Austeritätspolitik der Bundesregierung und in abstrakten Solidaritätsbekundungen. Ein eigener Entwurf, der sich an den Ansprüchen an ein soziales Europa orientiert und an ökonomischen Notwendigkeiten messen lassen kann, ist bislang ausgeblieben. Dabei ist die notwendige Richtung klar: Wir brauchen weitere Integrationsschritte und eine institutionell besser geordnete Union.
Die Gelegenheit, das Einigungsprojekt jenseits der Bedürfnisse des Binnenmarktes zu vertiefen, war nie so günstig wie heute. Fünf Gründe erfordern es, diesen Weg mutig weiterzugehen:
Erstens wird die Währungsunion auf Dauer nur stabil sein, wenn es eine europäische Wirtschafts- und Fiskalpolitik gibt, die eigene Einnahmequellen besitzt und Entscheidungen auch gegen die nationalen Regierungen durchsetzen kann. Das öffentliche Gut stabiler Finanzen und nachhaltigen Wachstums kann in einer Währungsunion nur durch eine Instanz durchgesetzt werden, die sich dem Währungsgebiet insgesamt verpflichtet fühlt. Wir brauchen daher eine echte europäische Regierung und Einnahmequellen, über die sie unabhängig von den Mitgliedsländern verfügen kann.
Ohne Altschuldenlösung geht es nicht
Zweitens: Die Währungsunion wird immer wieder durch konjunkturelle Schwankungen herausgefordert werden. Eine europäische Regierung muss deshalb über Mittel verfügen, um aktive Konjunkturpolitik und wirksame Strukturpolitik betreiben zu können. Europa braucht eine koordinierte Infrastrukturpolitik, die es gemeinsam in ein nachhaltiges Industriezeitalter führt. Die Politik kann so einen Beitrag dazu leisten, Zukunftsökonomien zu befördern und gleichzeitig Rezessionen abzumildern sowie Abschwungphasen zu verkürzen. Eine integrierte Ausgabenpolitik verlangt außerdem eine Harmonisierung der Einnahmeseite der öffentlichen Haushalte. Ein Regime einheitlicher Steuerkorridore und gemeinsame europäische Steuern müssen den Unterbietungswettbewerb besonders bei der Unternehmensbesteuerung beenden.
Drittens ist eine Vergemeinschaftung der Altschulden im Gleichschritt mit der Errichtung einer vergemeinschafteten Wirtschafts- und Fiskalpolitik eine notwendige Voraussetzung dafür, die Krise zu bewältigen. Das Konzept des Sachverständigenrates für einen Altschuldentilgungsfonds ist dafür eine gute Diskussionsgrundlage. Unter der Voraussetzung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Fiskalpolitik sind auch der Einstieg in die Emission von Gemeinschaftsanleihen und eine stärkere gemeinschaftliche Haftung denkbar. Denn: Momentan gibt es für die Krisenländer keine Perspektive, auf einen Pfad stabiler Staatsfinanzen zu gelangen. Sie müssten erhebliche Leistungsbilanzüberschüsse innerhalb der Währungsunion erzielen, um ihr Schuldenniveau deutlich zu senken, was aufgrund der Dominanz des deutschen Exportmodells unwahrscheinlich ist. Ohne eine Perspektive auf solide Staatsfinanzen anzubieten, schaffen die verordneten Sparmaßnahmen aber nicht etwa die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum, sondern legen den Grundstein für eine dauerhafte Krise. Dabei senkt der anhaltende Abschwung das ökonomische Potenzial dieser Länder substanziell.
Viertens bedarf eine auf Dauer stabile Währungsunion einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte. Dies sollte sinnvollerweise einheitlich für die gesamte Eurozone organisiert werden – von einer europäischen Bankenunion über eine gerechte Besteuerung bis hin zur Regulierung von Transaktionen.
Nationale Fundamente tragen nicht
Und fünftens: Eine stückweise Vergemeinschaftung von Schulden setzt eine europäische Regierung mit Kompetenzen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik voraus. Ebenso braucht ein einheitliches Regime zur Regulierung der Finanzmärkte eine direkte demokratische Legitimierung durch die Bürgerinnen und Bürger der Eurozonen-Länder. Die Verantwortung für die Krisenpolitik hat sich zu sehr von den nationalen Parlamenten in die Hinterzimmer nächtlicher Ratspolitik verlagert. Die Parlamentarier sind zu Geiseln einer Politik geworden, auf die sie keinen Einfluss haben, für deren weitreichende Folgen sie jedoch verantwortlich gemacht werden. Gleichzeitig steht das Europäische Parlament am Rand. Es bedarf deshalb einer institutionellen Reform der Eurozone mit einer starken parlamentarischen Vertretung als Gegenspieler zur Exekutive. Dafür ist eine Änderung der Europäischen Verträge notwendig.
Die Europäische Union und die Eurozone als ihr Kern stehen vor großen Entscheidungen. Europa kann den Sprung nach vorne wagen – oder zwei Schritte zurückgehen. Nicht zuletzt die globale Finanzkrise hat gezeigt, wie wenig tragfähig das nationale Fundament für eine Politik ist, die sich als Gegenspieler marktwirtschaftlicher Prozesse begreift. Die Diskussion sollte nicht bei einem abstrakten Lippenbekenntnis für „mehr Europa“ oder eine „weitere Integration“ enden. Es kommt darauf an, konkrete Perspektiven zu bieten, Alternativen zu durchdenken und Streit nicht auszuweichen, sondern ihn konstruktiv zu führen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein weiterer Transfer an Kompetenzen graduell geschehen kann. Viel spricht dafür, dass eine vergemeinschaftete Wirtschafts- und Finanzpolitik einen erheblichen Spillover-Effekt produzieren wird, der eine weitreichende qualitative Veränderung im Gefüge zwischen Nationalstaat und europäischer Ebene nach sich ziehen wird. Einer einheitlichen Politik in Fragen der wirtschaftlichen Steuerung, finanzieller Transfersysteme und gebündelter fiskaler Verantwortung wird zum Beispiel eine einheitliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik folgen müssen.
Den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges folgten in Westeuropa zwei Projekte: Die Befriedung Europas durch seine politische und wirtschaftliche Integration sowie die Befriedung der Gesellschaften durch einen starken Sozialstaat als Korrektiv der Ungleichheit produzierenden Märkte. Nachdem das Feuerwerk neoliberaler Politik mit großem Knall verpufft ist, ist es an der Zeit, sich beider Projekte zu erinnern und sie für unsere Zeit neu zu entwickeln.
Dieser Artikel basiert auf Diskussionen innerhalb der Arbeitsgruppe „Europäische Wirtschafts- und Fiskalpolitik“ des Progressiven Zentrums.