Ein Projekt mit Risiken und Nebenwirkungen
Das Brexit-Votum der Briten am 23. Juni 2016 war für viele in der Europäischen Union eine Überraschung. Noch überraschender – und beunruhigender – ist jedoch das, was sich seither in Großbritannien abspielt.
Auf das Brexit-Votum folgte zunächst eine politische Krise, eingeleitet durch mehrere Rücktritte. Erwartungsgemäß legte Premier David Cameron erst sein Regierungsamt und später auch sein Parlamentsmandat nieder. Der prominenteste Unterstützer der Leave-Kampagne, Boris Johnson, stahl sich zunächst ebenfalls aus der Verantwortung. Die neue Premierministerin Theresa May tauschte das Kabinett fast vollständig aus. Und die Parteiführung der Brexit-Partei UKIP trat zurück. Jetzt ist in London eine neue Führungsmannschaft am Ruder, die den Wählerauftrag erfüllen und den EU-Austritt verhandeln will.
Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie ein tief gespaltenes Land politisch eint. May agiert in einem Kontext, in dem der Zusammenhalt der beiden großen Parteien, Labour und Tories, gefährdet ist. Die tiefen Risse in Großbritanniens politischer Landschaft und in der Gesellschaft lassen sich dabei nicht allein durch die Trennlinie leave versus remain beschreiben.
Mittlerweile ist offensichtlich geworden, dass das Brexit-Lager uneins über das Modell ist, das in den Verhandlungen mit der EU verfolgt werden soll. Dabei geht es nur teilweise um die Frage, wie das zukünftige Verhältnis zur Europäischen Union definiert werden könnte – etwa ob Großbritannien an den europäischen Binnenmarkt und seine Grundfreiheiten angebunden bleiben oder ob es ein pures Freihandelsabkommen anstreben sollte.
Viel grundlegender stellt sich die Frage, für welche sozio-ökonomischen Weichenstellungen Großbritannien nach seinem angestrebten Austritt optiert. Während der Kampagne wurden unterschiedliche Zukunftsvisionen propagiert. Teile von UKIP und der Tories versprachen ein ultraliberales Großbritannien, das sich von den bürokratischen und regulatorischen Fesseln der EU befreit, in einen aggressiven Standortwettbewerb mit Kontinentaleuropa eintritt und die Bindung an die EU durch eine Vielzahl bilateraler Freihandelsabkommen ersetzt.
Andere Brexit-Befürworter, vor allem aus dem linken politischen Spektrum, zeichneten das Bild von einem Großbritannien, das nach dem Rückzug aus der EU einen stärkeren Sozialstaat installiert und wirksame Instrumente gegen die Einwanderung billigerer Arbeitskräfte entwickelt, etwa durch die Einführung von Arbeitserlaubnissen für Kontinentaleuropäer.
Polarisierung und Hassverbrechen
Wahlanalysen zufolge haben für 52 Prozent der Briten die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen sowie die höchst emotionale Ablehnung von Immigration eine große Rolle bei ihrem Stimmverhalten gespielt – und dies nicht nur in Regionen, in denen das Schrumpfen von Bergbau und Industrie in den vergangenen Jahrzehnten zu strukturell hoher Arbeitslosigkeit geführt hat. Vielfach vermischte die Pro-Brexit-Kampagne ihre EU-Kritik mit größeren Themen, nämlich mit einer grundlegenden Globalisierungskritik sowie dem Wunsch, politische Kontrolle wiederzuerlangen und die nationale Identität zu schützen.
Diese Motive einen Brexit-Vertreter von links und rechts, sie hängen allerdings nur sehr bedingt mit der EU zusammen. Die europäische Integration musste in vieler Hinsicht als Sündenbock für Versäumnisse auf nationaler und internationaler Ebene herhalten; die Kampagne war dabei von Kritik am politischen Establishment durchzogen.
Welches Mandat von dem Votum am 23. Juni aber wirklich ausgeht, bleibt in Großbritannien und auf dem Kontinent umstritten. Für das Großbritannien, das wir als der Welt zugewandt, pragmatisch und verantwortungsbewusst kennen, ist dies zu einer existenziellen Frage geworden. Offen sind nicht nur die Zukunft des sozio-ökonomischen Modells, sondern der Zusammenhalt der etablierten Parteien und die Kohäsion einer Gesellschaft, die politisch, regional und nach Altersgruppen tief gespalten ist.
Auf dem Spiel scheint auch die liberale Gesellschaft Großbritanniens zu stehen. Eine massive Polarisierung und der Aufbau von Angst im Wahlkampf vor dem Referendum haben nicht nur den Ton in der Politik verschärft. So genannte hate crimes, Verbrechen aus Hass – etwa der Mord an der Labour-Abgeordneten Joe Cox kurz vor der Abstimmung oder tödliche Übergriffe auf EU-Bürger nach dem 23. Juni – sind Teil der neuen politischen Realität auf der Insel. Genauso beunruhigend sind die sich häufenden – doch politisch kaum thematisierten – Berichte über verbale Anfeindungen gegenüber Nicht-Briten, die teilweise seit Jahren in Großbritannien leben und arbeiten.
Während die politische Führung in Großbritannien weiterhin um die Deutung des Abstimmungsergebnisses ringt, hat die EU deutlich gemacht, dass einmal eröffnete Verhandlungen zunächst auf den kompletten Austritt Großbritanniens abzielen würden, bevor Arrangements einer neuen Anbindung getroffen werden können.
Jenseits der Entwicklung einer Verhandlungsstrategie sollten die 27 verbleibenden EU-Mitgliedsstaaten die Gründe analysieren, die zum Brexit-Votum und den anschließenden Entwicklungen geführt haben. Denn wenngleich es unwahrscheinlich ist, dass in nächster Zeit ein weiteres „Exit“-Referendum in einem anderen EU-Staat stattfindet, sind die politischen und gesellschaftlichen Grundströmungen, die sich vor und nach dem Referendum offenbart haben, keinesfalls singulär britischer Natur. Drei Beobachtungen könnten für diese notwendige Diskussion relevant sein.
Erstens haben der Referendumswahlkampf und die Probleme der Remain-Kampagne vor Augen geführt, wie schwer es ist, in einem hoch emotionalisierten politischen Wettbewerb, bei dem die Akteure mit Identitätsparadigmen operieren und Ängste schüren, mit rationalen Argumenten und einer langfristigen Politikorientierung zu punkten. Vor der Erosion der faktenbasierten Auseinandersetzung und der Gefahr tabubrechender Polarisierung haben viele britische Kommentatoren und Aktivisten früh gewarnt. Dass diese Entwicklung im Wahlkampf dennoch kaum aufzuhalten war, zeigt einmal mehr die Risiken, wenn komplexe politische Fragen in einem Referendum zur Abstimmung gestellt werden.
Die neue Querfront der Neinsager
Zweitens sind die artikulierten Ängste der Bevölkerung und die Kritik an der europäischen Integration dennoch ernstzunehmen. Die Debatte in Großbritannien hat tiefe Sorgen der Bürger um ihre materielle Zukunft und ihren sozialen Schutz offenbart, übersetzt in Forderungen nach einer Begrenzung der Migration von innerhalb und außerhalb der EU. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich auch in anderen EU-Staaten ab und könnten stärker werden, besonders dort, wo neben materiellen Sorgen Terroranschläge die Menschen tief verunsichert haben.
Natürlich entbehrt die im Referendumswahlkampf formulierte Kritik, die EU untergrabe durch ihre Freizügigkeit soziale Mindeststandards, nicht einer gewissen Ironie, da gerade Großbritannien wiederholt Fortschritte auf dem Gebiet des sozialen Europa verhindert hat. Davon abgesehen zeigt das britische Beispiel deutlich, wie sich Sorgen um die eigene Zukunft, nationalistisch-identitäre Töne und eine Ablehnung der als kosmopolitisch kritisierten politischen Elite aufschaukeln können. Dabei ähnelt die Artikulation und Zusammensetzung der Brexit-Koalition in mancher Hinsicht den Protesten gegen Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA. Neben berechtigter Kritik baut sich hier eine Protestfront aus Rechts- und Linkspopulisten auf, die nur Ablehnung formulieren, aber keine konstruktiven Politikvorschläge machen. Beim britischen Referendum haben die lautesten Befürworter des Brexit die Kampagne entschieden – und sich anschließend aus der Verantwortung gestohlen. Es besteht die Gefahr, dass sich dies in anderen Ländern und bei anderen Themen in ähnlicher Weise wiederholt.
Drittens zeugt das Ringen der Briten mit der Frage, welches Großbritannien sie außerhalb der EU anstreben, von den Schwierigkeiten, ein glaubhaftes, zukunftsträchtiges Wirtschafts- und Sozialmodell zu entwerfen – unter den Bedingungen von integrierten Märkten und mobilem Kapital und ohne vergleichbare politische Integration. Die Europäische Währungsunion ist ein Bestandteil der EU, in dem sich diese Frage mit noch größerer Schärfe stellt. Das desintegrative Potenzial einer unzureichenden politischen Architektur zur Begleitung von Wirtschafts- und Währungsintegration darf nicht unterschätzt werden.
Die Verhandlungen werden sich hinziehen
In Reaktion auf das Brexit-Votum wird sich nicht nur Großbritannien wandeln. Auch die Europäische Union wird und sollte sich verändern. Unmittelbar nach der Abstimmung gab es erste Initiativen, etwa der EG-Gründerstaaten, aber auch anderer Gruppen, die Debatte um die Zukunft der EU wiederzubeleben.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich die EU-27 in absehbarer Zeit auf eine große Reform inklusive Vertragsrevision verständigen wird. Doch es sollten – neben konkreten Initiativen etwa im Bereich der Wachstums- und Sozialpolitik oder der inneren und äußeren Sicherheit – auch die großen Fragen der politischen Integration behandelt werden. Viel kann in der Europäischen Union durch bessere Politik verändert werden. Doch an einigen Stellen bedarf es auch institutioneller Reformen, um besseren politischen Output zu gewährleisten.
Es ist anzunehmen, dass die Verhandlungen über Großbritanniens Austritt die zunehmende Differenzierung innerhalb der EU noch verstärken werden. Denn sie finden in einem Kontext statt, der geprägt ist von aufstrebenden populistischen und EU-kritischen Parteien, sinkenden Zustimmungsraten der Bürger zur EU und immer offensichtlicheren Interessensgegensätzen zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten.
Eine differenziertere Europäische Union ist kein Projekt ohne Risiko. Allzu leicht kann Differenzierung zu Desintegration werden, beispielsweise wenn der gemeinschaftliche Rechtsrahmen, die EU-Institutionen und der europäische Gemeinschaftssinn in Politik und Gesellschaft geschwächt werden. Von der doppelten Herausforderung aus Brexit und Vertiefungsnotwendigkeit kann für die EU aber auch eine positive Dynamik ausgehen. Da sich die Brexit-Verhandlungen wohl einige Zeit hinziehen werden, ist nicht auszuschließen, dass sich die EU und Großbritannien in dieser Zeit derart verändern, dass eine Anbindung des Vereinigten Königreichs an das EU-Gefüge wieder möglich wird – in einer heute noch nicht absehbaren Form. Damit es so kommt, muss innerhalb der Europäischen Union und in Großbritannien eine ernsthafte Auseinandersetzung über Reformen und politische Alternativen beginnen.