Ein ruhiges Land
In der Demoskopie gibt es ein eigenartiges Paradox, das in der Öffentlichkeit wenig bekannt ist: Fragt man die Bevölkerung nach der Zukunft, lernt man aus den Antworten vor allem etwas über die Gegenwart. Will man dagegen etwas über die Zukunft lernen, fragt man besser nach der Gegenwart. Der Grund für diesen seltsamen Erfahrungswert liegt in der Tatsache begründet, dass die meisten Menschen nicht gut Auskunft geben können über hypothetische Situationen – etwa über ihr eigenes etwaiges Verhalten in der Zukunft oder über andere zukünftig zu erwartende Dinge – wenn die betreffende Zeitspanne einen sehr überschaubaren Rahmen von wenigen Tagen oder Wochen überschreitet. Aus diesem Grund ist die Geschichte der Sozialwissenschaften gepflastert mit gescheiterten Versuchen, die Befragten als Wahrsager zu engagieren. Beispielsweise fragte das Institut für Demoskopie (IfD) Allensbach im Jahr 1954 westdeutsche Hausfrauen, ob sie sich vorstellen könnten, eine elektrische Heizdecke zu kaufen. Ein Drittel der Befragten zeigte sich interessiert. Das Produkt wurde auf den Markt gebracht – und selbst zehn Jahre später hatte noch nicht ein Prozent der Deutschen eine Heizdecke angeschafft.
Die Zukunft als fortgeschriebene Gegenwart?
So bleiben die Aussagen der Bevölkerung über die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft auch meist merkwürdig blass. Bereits nach wenigen Jahren wird in der Regel deutlich, dass sie der Gegenwart verhaftet waren. Im Jahr 2005 stellte das Allensbacher Institut in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage die Frage „Wie wird es wohl in 10 bis 15 Jahren sein?“. Dazu wurde eine Liste überreicht, auf denen 20 verschiedene Zukunftsszenarien zur Auswahl standen. Unter den am häufigsten ausgewählten Antworten waren „Es wird bei uns noch mehr Arbeitslose geben“, genannt von 55 Prozent, und „Viele deutsche Unternehmen werden ins Ausland abwandern“ (65 Prozent). Heute ist absehbar, dass diese Voraussagen in den verbleibenden 5 bis 10 Jahren nicht eintreffen werden.
Wie schwer es ist, auch mit großem wissenschaftlichem Aufwand Aussagen über zukünftige Entwicklungen zu treffen, belegen regelmäßig die Analysen der großen Wirtschaftsforschungsinstitute. Der Hamburger Sozialwissenschaftler Birger Antholz hat einmal deren Prognosekraft über Jahrzehnte hinweg mit jener der, wie er es nannte, „naiven Fortschreibung“ verglichen. Damit war gemeint, dass man die Wachstumsrate des vorangegangenen Jahres als „Prognose“ für das jeweils kommende Jahr verwendete. Das Ergebnis: Die „naive Fortschreibung“ bot einen verlässlicheren Anhaltspunkt für die Wirtschaftsentwicklung der darauffolgenden Jahre als die aufwändigen Herbstgutachten der Experten.
Am ehesten noch erhält man verlässliche Aussagen über die Zukunft, wenn man gegenwärtiges und vergangenes Verhalten analysiert: Die wahrscheinlichsten Käufer eines neuen Produktes findet man meist unter denen, die bereits ähnliche Produkte besitzen, die neuen Wähler unter denen, die der betreffenden Partei früher schon einmal ihre Stimme gegeben haben. Trendentwicklungen der Vergangenheit können zwar nicht umstandslos in die Zukunft fortgeschrieben werden, bieten aber doch oft Anhaltspunkte, die die Wahrscheinlichkeit künftiger Entwicklungen einschätzen lassen. Aber deshalb muss man als Sozialwissenschaftler das Anliegen, Aussagen über die Zukunft Deutschlands zu machen, nicht rundweg ablehnen. Es gibt immerhin zwei Trendentwicklungen der Vergangenheit, von denen man als sicher annehmen kann, dass sie sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen und die Entwicklung des Landes beeinflussen werden: der demografische Wandel und die sich ändernde Einstellung der Deutschen zur eigenen Nation.
Die alternde Gesellschaft will keine Dynamik
Die wahrscheinlich folgenreichere dieser beiden Entwicklungen ist der demografische Wandel. Sozialwissenschaftliche Grundlagenstudien zeigen deutlich, dass eine alternde Gesellschaft andere Werteprioritäten entwickelt als eine junge Bevölkerung. So hat das Allensbacher Institut gemeinsam mit dem Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG Bonn) festgestellt, dass sich das Streben nach größerem materiellen Wohlstand wesentlich auf die junge Generation beschränkt. Auf die Frage „Wenn Sie einmal daran denken, was Sie alles besitzen. Möchten Sie Ihren Besitz weitgehend so behalten, wie er ist, oder streben Sie danach, mehr zu besitzen, oder wären Sie auch mit weniger zufrieden?“ antworten lediglich die unter 30-Jährigen mit einer deutlichen Mehrheit von 64 Prozent „Ich strebe danach, mehr zu besitzen“. Bereits in der Altersgruppe derjenigen, die zwischen 30 und 44 Jahre alt sind, zeigen sich zwei Drittel mit ihrem Besitz zufrieden (Schaubild 1).
Dieser Befund steht beispielhaft für viele weitere Ergebnisse, die in die gleiche Richtung deuten: Das dynamische Element in der Gesellschaft, die Bereitschaft für den materiellen oder gesellschaftlichen Aufstieg Risiken einzugehen, verliert in einer alternden Gesellschaft an Bedeutung. Stattdessen wird der Wert der Sicherheit wichtiger. Symptomatisch ist hier das Ergebnis der Frage „Wenn Sie sich entscheiden müssten, was wäre Ihnen lieber: ein Leben in bescheidenem Wohlstand, das dafür Sicherheit bietet, oder ein Leben mit großen finanziellen Chancen, das dafür aber auch viele Risiken birgt?“ Mehr als drei Viertel der Deutschen, 78 Prozent, entscheiden sich unter diesen Umständen für das Leben in bescheidenem Wohlstand und Sicherheit, unter den 60-Jährigen und älteren Befragten sind es 89 Prozent, bei den unter 30-Jährigen dagegen „nur“ 62 Prozent. Mit Hilfe von Faktoren- und Clusteranalysen haben das IfD Allensbach und das IWG Bonn die Bevölkerung in fünf Gruppen mit grundsätzlich unterschiedlicher Lebenseinstellung einteilen können. Die dynamischen, leistungsbereiten Bürger machen dabei heute lediglich 16 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, die größte Gruppe bilden mit 39 Prozent die an Geborgenheit und Sicherheit Orientierten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird in den kommenden Jahren die erste Gruppe kleiner, die zweite größer werden.
Heute sind die Älteren aktiver als früher
Diese Entwicklung wird Auswirkungen auf zahlreiche Lebensbereiche haben. Neben den bereits jetzt zunehmenden Problemen im Sozialversicherungssystem sind etwa Veränderungen im Konsumverhalten und in den Schwerpunkten der Politik zu erwarten. Allerdings altert die Bevölkerung mental erheblich langsamer, als man angesichts des Aufbaus der Alterspyramide annehmen könnte. Die heutige ältere Generation ist erheblich mobiler, aktiver und vielseitiger interessiert als es die älteren Generationen früherer Jahrzehnte waren. Der Zeitpunkt, an dem die Menschen ihre Aktivitäten einschränken, verschiebt sich immer weiter nach hinten. Schaubild 2 zeigt ein Beispiel von vielen: Während vor 25 Jahren nur noch eine Minderheit der Menschen ab 50 in ihrer Freizeit zumindest gelegentlich schwimmen ging, besuchen heute zwei Drittel der 60- bis 69-Jährigen Schwimmbäder. Wer heute im siebten Lebensjahrzehnt steht, ist – im Durchschnitt – aktiver und beteiligt sich in vieler Hinsicht intensiver am öffentlichen Leben als diejenigen, die vor 25 Jahren im sechsten Lebensjahrzehnt standen. Die Gesellschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten also zwar biologisch gealtert, in ihrem Verhalten aber eher jünger geworden. Es ist offensichtlich, dass sich diese Entwicklung in Zukunft nicht endlos wird fortsetzen können, doch sie wird die Folgen des demografischen Wandels noch eine Zeitlang abmildern. Und sie ist gewiss auch von erheblicher politischer Bedeutung, beispielsweise im Zusammenhang mit den Diskussionen um das Renteneinstiegsalter.
Die zweite Entwicklung, die Deutschland dauerhaft verändern wird, betrifft das Verhältnis zur Nation: Nach Jahrzehnten der inneren Unsicherheit haben die Deutschen begonnen, sich allmählich mit ihrer eigenen Identität anzufreunden. Für das Ausland deutlich erkennbar war dies während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Am meisten überrascht waren die Deutschen wohl selbst darüber, mit welcher Fröhlichkeit schwarz-rot-goldene Fahnen geschwenkt wurden, und mit welcher scheinbaren Selbstverständlichkeit Zehntausende in den Fußballstadien das Deutschlandlied sangen, dröhnend und deutlich, so dass die Millionen Fernsehzuschauer in aller Welt leicht hätten mitsingen können. Und dies, ohne dass sich dabei ein aggressiver, überheblicher Ton in die Stimmung mischte. Der Kontrast zu früheren Zeiten hätte kaum deutlicher sein können: Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 war das Publikum regelmäßig verstummt, wenn die Nationalhymne erklang.
Politikverdruss als Oberflächenphänomen
In den Umfragen lässt sich die Veränderung anhand einer Vielzahl von Fragen nachzeichnen, am deutlichsten wahrscheinlich anhand einer Trendfrage, die das Allensbacher Institut seit 1951 immer wieder gestellt hat, zuletzt im Jahr 2007. Sie lautet: „Freuen Sie sich, wenn Sie irgendwo die schwarz-rot-goldene Bundesflagge sehen?“ – „Ich freue mich“, sagten 1951 lediglich 23 Prozent der Befragten, deutlich mehr, 33 Prozent, gaben zu Protokoll, dass sie sich nicht freuten. Zwei Jahre später hatten sich die Verhältnisse umgekehrt: Nun überwog die Freude mit 31 zu 26 Prozent, die Hälfte der Bevölkerung blieb noch immer unentschieden oder desinteressiert. In den darauffolgenden Jahrzehnten, verstärkt seit den achtziger Jahren, stieg – von kurzfristigen tagespolitisch bedingten Schwankungen abgesehen – langsam aber kontinuierlich der Anteil derjenigen an, die sagten, beim Anblick der Bundesflagge freuten sie sich. Heute sagen das rund zwei Drittel der Deutschen in Ost und West, nur noch ein Viertel widerspricht ausdrücklich (vgl. Schaubild 3). Auch wenn für die Zeit vor 1947 keine verlässlichen Daten vorliegen, ist es nicht übertrieben anzunehmen, dass man lange, wahrscheinlich rund ein Jahrhundert, in der Geschichte zurückgehen muss, um eine Zeit zu finden, in der die Deutschen eine so eindeutige und fröhliche Sympathie gegenüber ihren Nationalfarben empfanden.
Es lässt sich zeigen, dass diese Entwicklung symptomatisch für eine zunehmende Identifizierung der Deutschen nicht nur mit den Symbolen des Staates, sondern dem Gemeinwesen als Ganzes ist. Abseits der an der Oberfläche geführten Diskussionen um Politikverdrossenheit hat sich von der Öffentlichkeit fast unbemerkt eine Verankerung vieler demokratischer Prinzipien vollzogen: Die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen ist gewachsen, das bürgerliche Engagement ebenfalls. Man kann die Bedeutung des Umstandes, dass die Deutschen – zumindest im Westen – zum ersten Mal seit langer Zeit eine Phase von 60 Jahren in Frieden und Wohlstand erleben durften, wahrscheinlich kaum überschätzen. Ein Volk, das mit sich selbst im Reinen ist, ist nicht leicht zu erschüttern. Man kann annehmen, dass die Ruhe, mit der die Bevölkerung auf die schwere Wirtschaftskrise des Jahres 2009 reagierte, auch hierin begründet liegt. In früheren Jahrzehnten haben jedenfalls weit geringere Rezessionen wesentlich größere gesellschaftliche Turbulenzen ausgelöst. Der schottische Sozialforscher Richard Rose hat einmal gesagt, ein Volk benötige ein Jahrhundert, um die Folgen einer verheerenden Niederlage zu verarbeiten. Es sieht so aus, als habe er Recht, und die Deutschen haben inzwischen einen erheblichen Teil des Weges zurückgelegt. So könnte es sein, dass die berüchtigte Wankelmütigkeit der Deutschen, die schon Madame de Staël, Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche beobachteten, allmählich ein Ende findet.
Die Deutschen selbst schauen jedenfalls mit fröhlicher Zuversicht in die Zukunft. Auf die Frage „Wenn Sie an die Zukunft denken – glauben Sie, dass das Leben für die Menschen immer leichter oder immer schwerer wird?“ antworteten im März 2007 rund 66 Prozent, sie glaubten, das Leben werde immer leichter. «