Ein überfälliger Abschied
Als junge CDU-Politikerin und Mitglied der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nehme ich die Einladung der Berliner Republik gerne an, das Grundsatzpapier des Netzwerks Berlin kritisch zu kommentieren. Auch junge Unionspolitiker haben vor einigen Wochen ein Reformpapier präsentiert. Deutschland – generationengerecht! (www.cducsu.de/Themen/SoziologischeGruppen/Junge Gruppe) skizziert unsere Vorstellungen von Generationengerechtigkeit vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Ausgehend von einem Vergleich zwischen einem pessimistischen und optimistischen Szenario für das Jahr 2030 wollen wir zeigen, dass wir, die junge Generation, mit entscheiden, welche Konsequenzen die demografische Entwicklung für unser Leben haben wird, und vor allem: dass wir darüber heute durch unser Handeln oder Nichthandeln entscheiden.
So verschieden die Zielsetzung der beiden Positionspapiere – ein Beitrag zur parteiinternen Programmdebatte das eine, ein Plädoyer für ein generationengerechtes Deutschland das andere –, bei der Vermittlung der geforderten Veränderungen stoßen junge Unionsabgeordnete und junge Sozialdemokraten auf dieselbe Herausforderung: Wir müssen verständlich machen, dass das, was wir fordern, nicht einer rein ökonomischen Logik folgt, sondern Solidarität und soziale Gerechtigkeit unter veränderten Rahmenbedingungen sichert. Die Reformen, die notwendig sind, um unsere sozialen Sicherungssysteme demografiefest zu machen und Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Standortwettbewerb zu sichern, sind zweifellos mit schmerzhaften Veränderungen verbunden. Die Bereitschaft der Menschen, diese Reformen mit zu tragen, hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, die Konsequenzen für den Einzelnen als Beitrag zur künftigen Sicherung eines solidarischen Zusammenlebens zu vermitteln.
Allein guter Wille genügt nicht
Dass dies in den alten Kategorien von (Um-)Verteilungsgerechtigkeit und Gleichheit nicht mehr möglich ist, macht die besondere Schwierigkeit des Unterfangens aus. Um eines klarzustellen: Gerechtigkeit und Solidarität sind auch für junge Unionspolitiker Ziele, die ihre Berechtigung und ihre Gültigkeit nie verlieren. Es geht hier nicht um Werte und Prinzipien an sich, sondern um die Art und Weise ihrer Realisierbarkeit. Ob bestimmte Maßnahmen dazu beitragen, eine gerechtere und solidarische Gesellschaft zu schaffen, hängt leider nicht nur vom guten Willen ab, sondern vor allem von den Rahmenbedingungen. Und die haben sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nun einmal entscheidend geändert.
Die alte, vor allem sozialdemokratische und gewerkschaftliche Gerechtigkeitsrhetorik argumentiert mit Werten und Prinzipien, die man unter den gegebenen Rahmenbedingungen – globaler Wettbewerb, demografische Entwicklung, hohe Arbeitslosigkeit, um einige der wichtigsten zu nennen – nur noch als Mythen bezeichnen kann. „Gerechtigkeit durch Umverteilung“ ist so ein Mythos. „Weniger Markt bedeutet mehr Gerechtigkeit“ ist ein anderer. Solche Rechtfertigungen von staatlichem Interventionismus laufen auf ein Gerechtigkeitsverständnis hinaus, das im Kern auf Umverteilung beruht: Man nehme den Reichen („Großunternehmen“, „Besserverdienende“, „Aktienbesitzer“) und gebe den Armen („Arbeiter“, „Arbeitslose“, „allein erziehende Mütter“).
Und ewig droht der „soziale Kahlschlag“
Verführerisch ist diese Art der Argumentation noch immer, weil die Moral vordergründig auf ihrer Seite steht. Ins Leere läuft sie aber, weil sie die wechselseitige Abhängigkeit von Verteilung und Wachstum ignoriert. Die Art und Weise, wie verteilt wird, hat Einfluss darauf, was überhaupt verteilt werden kann. Das bedeutet: Bestimmte Ungleichheiten sind ökonomisch effizient und sozial gerecht – diejenigen nämlich, die zur Folge haben, dass auch die relativ Benachteiligten absolut gesehen besser dastehen. Ungleichverteilungen sind also nicht per se sozial ungerecht und Gleichverteilungen nicht per se sozial gerecht. Die ökonomischen Anreizwirkungen müssen in die Argumentation mit einbezogen werden. Wer es nicht bei einer Politik des Gutgemeinten belassen will, kommt nicht umhin, diesen Zusammenhang zu akzeptieren.
Das alles ist nicht neu. Und dennoch dominiert der Versuch, Markt und Gerechtigkeit, Wachstum und Solidarität, wirtschaftliche Effizienz und sozialen Zusammenhalt gegeneinander auszuspielen, immer noch die Reformdiskussion in Deutschland. Gerade die SPD-Linke und die Gewerkschaften schüren die Angst vor „sozialem Kahlschlag“, statt Reformvorschläge im Lichte eines differenzierteren Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit zu betrachten. Fakt ist: Der inflationäre Gebrauch des sozialdemokratischen Schlüsselbegriffs „Gerechtigkeit“ steht heute in krassem Gegensatz zur sozialen Wirklichkeit in Deutschland. Eine Gesellschaft mit weit über vier Millionen Arbeitslosen ist eine zutiefst ungerechte Gesellschaft, und eine Gerechtigkeitsrhetorik, die einer wachstums- und beschäftigungsfeindlichen Politik die Weihen besonderer Moralität zu verleihen sucht, ist nicht nur unehrlich, sondern blockiert Reformen.
Aufklärung statt Robin Hood
Viel zu viele politische Maßnahmen wurden in den letzten Jahren mit dem Hinweis begründet, ihre Umsetzung diene prinzipiell der „sozialen Gerechtigkeit“, ohne dass die Rahmenbedingungen berücksichtigt wurden, von denen der Erfolg oder Misserfolg dieser Maßnahmen abhängt. Bei den als sozial gerecht gepriesenen Beschlüssen handelte es sich wahlweise um die Abschaffung des demografischen Faktors in der Rentenversicherung, um die Beibehaltung des Kündigungsschutzes oder um eine Finanzspritze für angeschlagene Unternehmen – alles Maßnahmen, die den mit vollmundigen Gerechtigkeitsparolen geschürten Erwartungen nicht standhalten können. Was aber noch viel schlimmer ist: Die Menschen wurden über diese Art der Rhetorik permanent im Gefühl bestärkt, im Falle von beschäftigungs- und wachstumsfördernden Reformen auf der Verliererseite zu stehen. Zustimmung zu mutigen Reformen erreicht man so natürlich nicht. Immer noch ist eine überkommene Gerechtigkeitsrhetorik – vor der übrigens auch CDU/CSU-Politiker nicht gefeit sind – eine der Ursachen dafür, dass Reformen in Deutschland so schwer vermittelbar sind.
Was wir brauchen, ist deshalb mehr denn je vor allem Aufklärung. Institutionalisierte Solidarität außerhalb von Markt und Wettbewerb ist ein Mythos. Wer platt und nach Robin-Hood-Manier für „Umverteilung von oben nach unten“ plädiert, ohne die ökonomischen Anreizwirkungen zu berücksichtigen, ist entweder blauäugig oder nutzt die weit verbreitete Empfänglichkeit für solche Neidpolemik für eigene Interessen. Der sozialen Gerechtigkeit tun die Hüter der staatlichen Umverteilungsmaschinerie jedenfalls keinen Gefallen, im Gegenteil. Denn die fatalen Wirkungen einer – absichtlich oder unabsichtlich – falsch verstandenen Solidarität treffen uns alle, und am härtesten genau diejenigen, die doch eigentlich geschützt werden sollen: die Schwächsten der Gesellschaft. Wer es ernst meint mit Reformen, muss mit den alten Mythen aufräumen.
Der längst überfällige Abschied vom falschen Gegensatz zwischen Wachstum und Solidarität, wie das sozialdemokratische Netzwerk ihn nun programmatisch einläutet, kann der Reformfähigkeit unseres Landes nur nützen. Nicht nur die SPD, unsere Gesellschaft insgesamt braucht eine differenziertere Einstellung zur Frage der sozialen Gerechtigkeit. Insofern begrüße ich auch als CDU-Politikerin die Initiative junger SPD-Abgeordneter zur programmatischen Neuausrichtung der Sozialdemokratie. Ob notwendige Reformen, auch diejenigen, die wir jungen CDU-Abgeordneten in unserem Papier Deutschland – generationengerecht! fordern, in die Tat umgesetzt werden können, wird wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, den scheinbaren Gegensatz zwischen Wirtschaftswachstum und Solidarität, zwischen Markt und Gerechtigkeit aufzulösen.
Die Junge Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich in Deutschland – generationengerecht! unter anderem für die Einführung von Gesundheitsprämien zur künftigen Finanzierung unserer Krankenversicherung ausgesprochen – ein Vorschlag, der von vornherein unter dem Generalverdacht sozialer Ungerechtigkeit stand. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut veranschaulichen, wie die alten Gerechtigkeitskategorien die Diskussion dominieren, und wie schwer es vor diesem Hintergrund ist, Verständnis für strukturelle Veränderungen zu schaffen.
Dass in Zukunft Chef und Sekretärin denselben Preis für ihre Krankenversicherung zahlen sollen, gilt vielen als der Ausstieg aus der gesellschaftlichen Solidarität. Einheitliche Gesundheitsprämien scheinen auf den ersten Blick wie eine Entlastung der Besserverdienenden auf Kosten der Geringverdiener. Denn Geringverdiener zahlen heute deutlich weniger als die geforderte Gesundheitsprämie, Besserverdiener hingegen deutlich mehr – sofern sie nicht privat versichert sind. Vordergründig ist das Urteil eindeutig: Die soziale Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke!
Ungerecht ist, keine Arbeit zu haben
In einem anderen Licht erscheint dieses Urteil vor dem Hintergrund der ökonomischen Zusammenhänge: Bei den gegenwärtigen Strukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung wird die demografische Entwicklung über die Lohnnebenkosten auf den Arbeitsmarkt durchschlagen. Nur die Einführung einkommensunabhängiger Gesundheitsprämien erlaubt eine vollständige Entkopplung von Krankenversicherungsbeiträgen und Lohnnebenkosten. Dies ist zunächst einmal ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches Argument. Eine sozialpolitische Argumentation jedoch, die diesen Zusammenhang außer Acht lässt und die Frage eines sozial gerechten Gesundheitssystems allein an den Krankenversicherungsbeiträgen des „kleinen Mannes“ festmacht, spielt Ökonomie und soziale Gerechtigkeit gegeneinander aus.
Wer in der hohen Arbeitslosigkeit eine der größten sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland erkennt, muss dem Modell Gesundheitsprämien gerade aus Gründen der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit den Vorzug geben. Das entscheidende sozialpolitische Argument für Gesundheitsprämien ist für die Junge Gruppe, dass allein Gesundheitsprämien, nicht aber die Bürgerversicherung, dazu beitragen, die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland in den Griff zu bekommen, weil nur sie den beschäftigungsfeindlichen Anstieg der Lohnnebenkosten dauerhaft verhindern. Natürlich sollen Besserverdienende für Einkommensschwache einen Teil der Kostenbelastung übernehmen. Beim sozialen Ausgleich über die Einkommenssteuer wären ja auch alle Steuerzahler mit ihren gesamten, der Einkommenssteuer unterliegenden Einkünften in die solidarische Finanzierung der Krankenversicherung einbezogen. Da höhere Einkommen höheren Steuersätzen unterliegen, wäre, wer mehr verdient, automatisch auch stärker beteiligt. Dennoch hält eine Mehrheit der Bürger einheitliche Gesundheitsprämien für sozial ungerecht und zieht eine nur vermeintlich solidarischere Bürgerversicherung vor.
Was die Union seit langem fordert
Eine der größten Herausforderungen für junge Politiker besteht aus meiner Sicht darin, für ein differenzierteres Gerechtigkeitsverständnis zu werben. Ob es um die Reform des Gesundheitssystems geht oder die Steuerreform, um das Rentensystem oder die Arbeitsmarktpolitik: Zustimmungsfähig sind Reformen nur dann, wenn sie als solidarisch empfunden werden. Eine falsch verstandene Solidarität kann notwendige Reformen dauerhaft blockieren – auf Kosten aller, vor allem auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft. Den Netzwerkern in der SPD kann ich deshalb nur wünschen, dass ihr Plädoyer für Prinzipien, die die Union seit langem fordert, in der eigenen Partei Gehör findet.