Eine andere Geschichte
Der Aufstieg Asiens ist längst in den Unternehmen zu spüren. Unter der Überschrift „Die weißen Versager“ berichtete die Zeit kürzlich über die Bedeutung asiatischer Zuwanderer für den Erfolg der amerikanischen Wirtschaft, allen voran im Hightech-Sektor. In San Francisco, dem Eldorado der digitalen Wirtschaft, haben heute bereits rund 40 Prozent der Einwohner asiatische Wurzeln. In wenigen Jahren werden sie die Mehrheit bilden. Schon jetzt sind sie im Hinblick auf Bildungsgrad und Einkommen ganz oben angekommen: 66.000 Dollar verdienen Asiaten in den Vereinigten Staaten durchschnittlich im Jahr. Damit liegen sie knapp 30 Prozent über dem Durchschnitt der Bevölkerung. Darüber hinaus besitzt rund die Hälfte von ihnen einen Hochschulabschluss – das sind gut 20 Prozent mehr als der Rest des Landes.
Die Gründe hierfür sind Gegenstand intensiver Diskussionen. Amy Chua und Jed Rubenfeld von der Yale University führen in ihrem Buch Alle Menschen sind gleich – erfolgreich nicht den Erfolg junger asiatischer Zuwanderer in den Vereinigten Staaten vor allem auf drei Bedingungen zurück: Erstens hätten sie das Gefühl, einer besonderen Kultur anzugehören und damit Teil einer großen Geschichte zu sein. Zweitens spiele eine Verunsicherung aufgrund der anfänglich erfahrenen Ablehnung eine wichtige Rolle. Drittens würde diese Unsicherheit mittels harter Arbeit in beruflichen Erfolg, finanziellen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung transformiert. Alle drei Faktoren hätten dazu beigetragen, dass heute nicht nur die großen Hightech-Unternehmen (jeder dritte Mitarbeiter von Microsoft hat indische Wurzeln), sondern auch die besten Schulen des Landes fest in asiatischer Hand sind. Wohlgemerkt stecke diese Entwicklung noch im Anfangsstadium.
Europa verpasst den Anschluss
Gut für die Vereinigten Staaten: Das Land profitiert von dieser Dynamik sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich. Die Zuwanderung hochqualifizierter Asiaten wird mittlerweile wieder nach Kräften gefördert, etwa über freigiebige Arbeits- und Studienvisa oder mithilfe großzügiger Regelungen bei der Green-Card.
Schlecht für Europa: Der Kontinent droht, die Entwicklung zu verpassen. Die asiatischen Einwanderer gehen vorzugsweise an die Westküste der USA, in erster Linie nach Kalifornien. Von dort aus orientieren sie sich weiter westwärts in Richtung Asien, wo ihre Familien leben. Dorthin reisen sie, und dort investieren sie ihr Geld. Europa hingegen spielt im Koordinatensystem dieser jungen Elite, die in den nächsten Jahren auch in ihren einstigen Heimatländern an Einfluss gewinnen wird, kaum eine Rolle. Auch das gehört zum Gesamtbild, wenn derzeit vermehrt vom Wiederaufstieg Asiens gesprochen wird. Der indische Essayist Pankaj Mishra hat sich dem Thema aus kulturgeschichtlicher Perspektive angenommen. Sein Buch Aus den Ruinen des Empires wurde vor kurzem mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Zweifellos war das 19. Jahrhundert europäisch. Doch spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 hat Europa seine weltpolitische Bedeutung verloren. Stattdessen übernahmen andere Erdteile die Vorherrschaft – zunächst die USA, dann zunehmend die asiatischen Staaten (allen voran China und – mit einigem Abstand – Indien). Mishra geht der Frage nach, wie es dazu kam. Dabei wählt er nicht die westliche Perspektive, sondern nimmt einen dezidiert asiatischen Blickpunkt ein. Mishra erzählt das Wiedererstarken Asiens nicht in erster Linie als eine Geschichte der zunehmenden Schwäche des Westens, sondern sieht die Ursachen in den asiatischen Gesellschaften selbst. Trotz all des akademischen Trommelwirbels, der seit einigen Jahren um eine vermeintlich nicht mehr am Eurozentrismus klebende Globalgeschichte veranstaltet wird, stellt dieser Blickwinkel eine Ausnahme in der Geschichtsschreibung dar.
Im Anfang war eine Seeschlacht
Aus Mishras Sicht ist der Ausgangspunkt für den Wiederaufstieg Asiens die Seeschlacht von Tsushima im Mai 1905, die in der kollektiven Erinnerung des Westens heute kaum eine Rolle spielt. Der Kampf ereignete sich im Zuge des russisch-japanischen Krieges 1904/1905, der wiederum auch von westlichen Zeitgenossen genau verfolgt wurde. Mit dem Sieg der Japaner über die Russen, so der Autor, habe zum ersten Mal seit dem Mittelalter eine europäische Macht gegen ein außereuropäisches Land kapitulieren müssen. Der japanische Triumph sollte das russische Militär für Jahre schwächen. Dank moderner Telegraphenverbindungen war der Sieg eine weltweite Sensation. In dem Maße, wie die Meldung die westlichen Imperialisten schockierte, elektrisierte sie die Antiimperialisten des Ostens.
An dieser Stelle unternimmt Mishra einen geschickten Kunstgriff. Er verlässt die Bühne der Weltgeschichte und taucht ein in die Länder und Reiche Asiens, die sich zu dieser Zeit bereits in einer Phase des gesellschaftlichen und politischen Wandels befanden. Dabei heftet sich der Autor an die Fersen von drei hierzulande mehr oder weniger bekannten Denkern und politischen Agitatoren: Es handelt sich um den in Persien geborenen Muslim Jamal al-Afghani (1838 – 1897), der vor allem in Ägypten und im Osmanischen Reich wirkte und sich dort für einen panislamischen Nationalismus einsetzte; um den chinesischen Gelehrten und Journalisten Ling Qichao (1873 – 1929), der sich aus dem japanischen Exil heraus für Reformen in China einsetzte; und schließlich um den auch im Westen bekannten indischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861 – 1941), der unermüdlich für soziale und kulturelle Reformen in seiner Heimat eintrat und damit zu einem wichtigen Vordenker der „bengalischen Renaissance“ avancierte. Alle drei waren vom Aufklärungsprozess des 18. Jahrhunderts beeinflusst, der sich nicht alleine auf Europa beschränkte. Wenn auch mitunter religiös oder spirituell motiviert, beförderten diese drei Figuren einen Prozess der Säkularisierung. Der bisherige Rahmen der Religion reichte für ihre politischen Ziele nicht länger aus. Detlev Claussen spricht in seinem Nachwort treffend von „unbewusster Säkularisierung“.
Der Westen hat den Osten unterschätzt
Bereits damals fand zwischen beiden Welten ein reger Austausch statt. So unternahm Ling Qichao lange Reisen nach Europa, Kanada und Australien; in den Vereinigten Staaten beschäftigte er sich mit dem Wesen der Demokratie sowie der gesellschaftlichen Ungleichheit, die er auf die politische Kurzsichtigkeit des Systems zurückführte. Seine Schlussfolgerung lautete, dass eine Demokratie niemals durch Zwang und Revolution, sondern nur langsam und von unten nach oben etabliert werden könne.
Ähnlich verhielt es sich in Bezug auf wirtschaftliche Zusammenhänge, neue Technologien oder die Institutionen moderner Staatlichkeit. Der Osten orientierte sich nur dort am Westen, wo es für ihn sinnvoll erschien. Ansonsten schlug er eigene Wege ein.
Laut Mishra hat der Westen den Osten viel zu lange unterschätzt. In den Vereinigten Staaten scheint man diesen Fehler mittlerweile erkannt zu haben. Die Regierung Obama hat die strategische Abkehr von Europa vorgenommen und konzentriert sich seither vor allem auf Asien und die Pazifikregion. Gleichzeitig scheint die Faszination nicht abzureißen, die die Vereinigten Staaten für junge Asiaten ausüben. Der Strom an qualifizierten und motivierten Zuwanderern wird sich auch in den kommenden Jahren weiter fortsetzen. Profitieren werden davon beide Seiten.
Bleibt die Frage: Welche Rolle spielt eigentlich Europa bei diesen modernen Wanderungsbewegungen? Fest steht: Das europäische Modell des Sozialstaats, dessen vermeintliche Attraktivität unsere Politikern gern betonen, vermag diese Menschen nicht anzulocken. Sie suchen keine Absicherung des Status quo, sondern die Chance, in ihrem Leben etwas zu erreichen. Dieses Aufstiegsversprechen sehen sie nicht in Europa, sondern im Austausch zwischen Asien und den Vereinigten Staaten.
Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires: Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt: Fischer Verlag 2013, 441 Seiten, 26,99 Euro