Eine Lanze für Europa!

Warum der alte Kontinent eine gemeinsame Charta der Grundrechte braucht

Es geht nicht mehr um leere Worte, sondern um eine mutige Tat, um eine Gründungstat. Frankreich hat gehandelt, und die Folgen seines Handelns können gewaltig sein. Wir hoffen, daß sie es sein werden. Frankreich hat in erster Linie im Interesse des Friedens gehandelt. Damit der Frieden eine echte Chance erhält, muß es zunächst ein Europa geben." Robert Schumann stellt in Paris seine Vision einer "Europäischen Föderation" vor. Damit läutet er eine neue Epoche in der europäischen Geschichte ein: Integration anstelle des Prinzips der balance of powers. Das war vor 50 Jahren.

Europa ist zum Ernstfall geworden: Politische Union, Europäischer Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Nicht zuletzt die Erweiterungspläne der EU um die Länder Mittelosteuropas machen deutlich, wie eng der alte Kontinent schon zusammengewachsen ist.

Die grundlegende Umgestaltung der politischen und ökonomischen Strukturen kennzeichnet die neue Lage in Europa. Dies wirft die Frage nach der Sicherung der Grundrechte auf, die davon berührt werden. Um der neuen Qualität verstärkter europäischer Integration Rechnung zu tragen, sind die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitgliedstaaten auf ihren Gipfeltreffen in Köln und Tampere 1999 übereingekommen, einen Grundrechtskonvent mit der Erarbeitung einer Grundrechtscharta für die EU zu beauftragen, um die überragende Bedeutung der Bürgerrechte und ihre Tragweite für die Unionsbürger sichtbar zu machen.

Eine Grundrechtscharta für Europa

Die vom Europäischen Rat festgelegte Zielsetzung dieses Gremiums besteht in der Vorlage eines Charta-Entwurfs rechtzeitig vor der Ende 2000 unter französischem Vorsitz stattfindenden Ratstagung in Nizza. Der Rat wird auf der Grundlage des ihm vorgelegten Entwurfs dann dem Europäischen Parlament und der Kommission vorschlagen, gemeinsam eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union feierlich zu proklamieren.

Die Zeit drängt also - der Europäische Grundrechtskonvent, bestehend aus 61 Delegierten der Mitgliedsländer, hat im Dezember 1999 seine Arbeit aufgenommen. Zum Vorsitzenden wurde Alt-Bundespräsident Roman Herzog gewählt. Ob es zu einem befriedigenden Ergebnis kommen würde, wußte Herzog zunächst selbst noch nicht so recht, denn die Vorstellungen der Gegner und Befürworter einer solchen Charta klaffen weit auseinander. Einen "Kuddelmuddel" nannte er den Konvent kurz nach seiner Einsetzung.

Der Prozeß der Erarbeitung der Grundrechtscharta stellt eine große Chance für eine ernsthafte Stärkung der Bürgerrechte und der Demokratie in Europa dar. So sollen nach Auffassung des Rates Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie Verfahrensgrundrechte in die Charta aufgenommen werden. Angelehnt an die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie an die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gibt es hier kaum Konfliktpunkte. Schwieriger stellen sich die Verhandlungen bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (wsk-Rechte) dar, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind. Der Konvent betritt mit seiner Arbeit teilweise absolutes Neuland, um Orientierung auch in neuen Konfliktsituationen zu bieten. Die sogenannten "Modernen Grundrechte" bieten genug Zündstoff für schwierige Debatten, geht es dabei doch um so brisante Themen wie Gentechnik, Biotechnologie, Rechte zukünftiger Generationen, Daten- oder Umweltschutz.

Die Mannschaftsaufstellung

Herzog sitzt nun einem Gremium vor, das eine Aufgabe hat, die von manchem schon als weitgehend erledigt angesehen wird. Nimmt man all das zusammen, was auf europäischer Ebene in den letzten fünf Jahrzehnten bereits zu Grund- und Menschenrechten in Konventionen, Erklärungen, Chartas oder in den EU-/EG-Verträgen selbst formuliert und beschlossen wurde, stellt sich der Auftrag des Konvents eher als redaktionelle Such- und Sammelarbeit dar. Nun ist aber bereits dies angesichts der heterogenen Zusammensetzung aus 15 Vertretern der Regierungschefs, dem EU-Kommissar Vittorino, 16 Abgeordneten des Europäischen Parlaments und je zwei Abgeordneten der mitgliedstaatlichen Parlamente eine gewaltige Herausforderung. Extra-Anhörungen sollten die Vorstellungen von Verbänden und EU-Beitrittskandidaten bündeln. Per Internet konnte sich zudem jeder europäische Bürger an der Diskussion beteiligen.

Wahrlich keine leichte Aufgabe. Um so sinnvoller erscheint es, daß dieses aufwendige Projekt vom Rat an ein Gremium aus Weisen übertragen wurde - out-sourcing. Bereits jetzt wird dieses Modell der europäischen Zusammenarbeit als herausragend bezeichnet und als denkbare Variante bei zukünftigen Projekten gehandelt.

Gegner und Befürworter

Die Idee ist schön: Man schaffe einen Katalog mit ein paar Dutzend europäischen Grundnormen, schreibe ihn in den EU-Vertrag und ermögliche zudem den Bürgerinnen und Bürgern ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof. Gegner gibt es dennoch nicht wenige: die euroskeptische Linke aus Skandinavien, Rechtspopulisten aus Frankreich und die britischen Tories ohnehin - geht deren Vision von Europa doch nicht wesentlich über eine Freihandelszone hinaus.

Die Konfliktpunkte sind bekannt: Welche Rechte sollen in eine Charta aufgenommen werden? Nur elementare Freiheits- und Abwehrrechte? Oder auch soziale Grundrechte? Soll die Charta rechtsverbindlichen Charakter haben, also den Verträgen über die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften vorangestellt werden? Die Brisanz dieser Fragen steckt im Detail - geht es doch um Kernfragen der Zukunft der Union. So sehen die Gegner in der Charta ein überflüssiges Dokument, das nur das regelt, was ohnehin in den Verträgen oder den demokratischen Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert sei. Es werden Veränderungen angemeldet und Bedenken geäußert - ja, es bestehen Vorbehalte gegen ein sich vertiefendes Europa.

Roman Herzog hat es nicht einfach. Er muß vermitteln zwischen euphorischen Maximalisten in Brüssel und zögerlichen Minimalisten in den europäischen Hauptstädten von Athen bis Stockholm. Ein erster Entwurf liegt jetzt vor.

Es gibt gute Gründe für eine gemeinsame Grundrechtscharta

In demokratischen Staaten bestimmt die Verfassung, welche Organe die Legislative bilden, also an der Gesetzgebung beteiligt sind, und welche Organe Exekutive sind, also die Gesetze ausführen. Die EU ist kein Staat und hat keine Verfassung. Hier schreiben die völkerrechtlichen Verträge (EU-Vertrag, Vertrag zur Gründung der EG, EGKS-Vertrag, EURATOM-Vertrag) vor, welche Organe das Recht haben, Gesetze zu erlassen, die in der ganzen Union rechtskräftig werden.

Nun verhält es sich aber so, daß in der EU zunehmend Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse nach Brüssel verlagert werden. Das ist vor dem Hintergrund eines zunehmend zusammenwachsenden Europas nicht überraschend. Problematisch wird es dann, wenn die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten in der Brüsseler Bürokratie unübersichtlich und nicht mehr klar voneinander abzugrenzen sind. Hier fehlt ein Regelwerk, das den Anforderungen der heutigen und insbesondere auch der künftigen, erweiterten EU gerecht wird. Eine Grundrechtscharta könnte dies leisten.

Dazu gehört allerdings, daß die in ihr enthaltenen Rechte auch von jeder Europäerin und jedem Europäer einklagbar sind. Leider soll diese Frage, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die EU-Verträge aufgenommen wird, erst nach der feierlichen Proklamation im Dezember in Nizza geprüft werden. Die Charta muß in das Fundament der Europäischen Union integriert werden, wenn sie nicht an der Idee der Väter eines gemeinschaftlichen Europas vorbeigehen soll. Alles andere wäre ein schwerer Rückschlag für den europäischen Einigungsprozeß und ein Glaubwürdigkeitsverlust mit nicht absehbaren Folgen.


Zu den wichtigsten Argumenten für die Charta zählen Transparenz, verstärkte Integration und die Stiftung von Identität. Transparenz ist ein vielbenutztes Schlagwort. Die Charta wird helfen, Rechtsklarheit zu schaffen und die Kompetenzzuweisung in der EU einfacher und verständlicher zu machen. Sie muß zum Ziel haben, Verständnishürden abzubauen und den Europäern ein Dokument zu bieten, aus dem eindeutig ihre Rechte und Pflichten gegenüber den Institutionen der EU hervorgehen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Europäisierung in allen Lebensbereichen muß endlich die Lücke zwischen Bürgern und Union geschlossen werden.

Verstärkte Integration ist der zweite wichtige Aspekt. So regeln zwar bereits die EG-/EU-Verträge Legitimität und Einbindung der EU-Institutionen und -Organe. In Fragen der Kompetenz und Verantwortlichkeit zwischen Kommunen, Ländern, Mitgliedstaaten und Brüssel ist allerdings eine klarere Abgrenzung geboten.

Europäische Identität: Nur ein Europa, das nicht als undurchsichtiges und übergroßes Gebilde begriffen wird, hat eine Chance, von den Menschen akzeptiert und getragen zu werden. Europa ist eine Wertegemeinschaft, und das muß seinen Ausdruck in der Charta finden. So bilden gemeinsame Werte den Grundstein für eine Politische Union. Europa ist mehr als Wirtschaftsraum und freier Personenverkehr.

Nicht zuletzt hat die Charta eine Signalfunktion - nach innen wie nach außen. Andere Regionen der Welt wie Asien, Südamerika oder Afrika verfolgen den Prozeß in Europa mit Interesse und begreifen dieses Pilotprojekt mit seiner langen Phase des Friedens und der Stabilität als Erfolgsmodell mit Vorbildcharakter. Die Charta sendet zudem ein deutliches Signal an mögliche Beitrittskandidaten. Denn wer wie die EU die Einhaltung der Menschenrechte verlangt, wie z.B. von der Türkei, wirkt noch überzeugender,
wenn er diese in einer rechtsverbindlichen Charta verbürgt.

Institutionelle Reformen

Die Landkarte Europas befindet sich im Umbruch. Die Gemeinschaft wächst und läßt nationale Grenzen an Bedeutung verlieren. Dies zwingt die Mitgliedstaaten, die Institutionen der EU zu verändern. Die left overs, die "Überbleibsel" von Amsterdam (Mehrheitsentscheidung, Kommissionszusammensetzung und Stimmengewichtung im Rat) sind allerdings ein heißes Eisen - bedeuten sie in ihrer Konsequenz doch die teilweise Aufgabe staatlicher Autonomie zugunsten der EU und somit einen Machtverlust der Nationalstaaten. Nizza soll in diesen Fragen nun den Durchbruch bringen. Im Zentrum steht der mögliche Verzicht auf das Veto-Recht und der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Bedingung hierfür muß allerdings sein, daß die Politikfelder, für die die Union zuständig ist und in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit Recht setzt, klar definiert und die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eindeutig verbürgt sind.

Eine erfolgreiche Erweiterung der Europäischen Union kann nur dann gelingen, wenn die Spielregeln verstanden werden. Die Mehrheit der Menschen hat aber bereits jetzt Akzeptanzprobleme und fühlt Unbehagen - wie soll das erst in einer noch größeren Gemeinschaft werden?

"Zum ′Erwachsenwerden′ der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft gehört nicht nur eine Reform der Institutionen, sondern [...] auch eine Vollendung ihrer konstitutionellen Grundlagen durch eine Charta der Grundrechte", sagt Günter Hirsch, Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.

Die Europäische Union ist auf dem richtigen Weg. Mit der Grundrechtscharta kann die EU für die Bürgerinnen und Bürger transparenter und bürgernäher werden. Die Charta wird Europa als Wertegemeinschaft profilieren und den längst fälligen Schritt zu mehr Identitätsstiftung vollziehen. Zu sehr hat sich bisher der Eindruck einer rein wirtschaftlich, den Kopenhagener Kriterien verhafteten und aus pragmatischem Kalkül geschaffenen Union in den Köpfen verfestigt. Ein neuer Aufbruch ist das, was Europa jetzt braucht!

Robert Schumann hatte die Vision eines gemeinsamen, dem Frieden und der Freundschaft verpflichteten Europas. 50 Jahre später haben wir die Chance, ein Jahrhundert der Kriege und des Mißtrauens hinter uns zu lassen und diese Vision zu leben.

Erst kürzlich präsentierte der Privatmann Joschka Fischer in der Humboldt-Universität zu Berlin seine Vorstellungen von Europa: eine Verfassung für den alten Kontinent. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg - aber die EU-Grundrechtscharta wird ein Meilenstein im europäischen Verfassungsprozeß sein.

Der aktuelle Entwurf der "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" kann unter db.consilium.eu.int eingesehen werden.

zurück zur Ausgabe