Eine Million Unterschriften für einen zahnlosen Tiger?

zu Roger Liddle, Europa braucht ein neues Deutschland, Berliner Republik 4/2010

Genau eine Million Unterschriften werden die Bürgerinnen und Bürger in Europa künftig brauchen, um auf die Entscheidungen der Europäischen Union Einfluss nehmen zu können. Das verspricht zumindest der Vertrag von Lissabon, der das Instrument einer „Europäischen Bürgerinitiative“ enthält. Ihr Erfolg hängt im Wesentlichen davon ab, wie nutzerfreundlich sie wird: Bis Ende 2010 sollen das Europäische Parlament und der Ministerrat die Verfahrensregeln festlegen, mit deren Hilfe Unionsbürger die Europäische Kommission künftig auffordern können, einen Vorschlag zu unterbreiten, zu dem es ihrer Meinung nach eines Rechtsakts der Union bedarf. So wird sich recht bald zeigen, ob es dem Instrument der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) gelingt, die Lücke zwischen den Menschen in Europa und den EU-Institutionen zu schließen.

Auch sozialdemokratische Parteien in Europa haben bereits erkannt, dass die EBI ein vielversprechendes Instrument darstellt, für sich und ihre Anliegen zu werben. Mitte Mai gaben die Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Parteien in Deutschland und Österreich bekannt, die Bürgerinitiative erstmals nutzen zu wollen, um den Forderungen nach einer Finanzmarktregulierung und der europäischen Spekulationssteuer Nachdruck zu verleihen. Geplant ist eine europaweite Kampagne der Sozialdemokratischen Partei Europas, in der die Initiative mit Hilfe der Mitgliedsparteien in den Ländern publik gemacht wird.

In der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik betonte Roger Liddle die Rolle der deutschen Sozialdemokratie für den Aufbau eines „neuen europäischen Kapitalismusmodells“. Kann die Europäische Bürgerinitiative ein unterstützender Faktor sein, damit die SPD diese Rolle tatsächlich ausfüllt? Wird sie die Kooperation mit anderen sozialdemokratischen Parteien stärken und eine gemeinsame wirtschaftspolitische Vision in Europa befördern?

Die Voraussetzung dafür ist, dass es dem Ministerrat und dem Parlament in den kommenden Wochen und Monaten gelingt, eine nutzerfreundliche Verfahrensweise zu verabschieden. Hierfür sollten sich die verantwortlichen Sozialdemokraten im Parlament sowie im Rat einsetzen. Scheitert dies, wird die Enttäuschung groß sein, zumal es sich bei der EBI bereits um ein eingeschränktes Partizipationsrecht handelt. Im Gegensatz zu einem Referendum verfügen die Unionsbürger über keine unmittelbare Entscheidungsbefugnis gegenüber den Exekutiven der EU. Außerdem werden laut Artikel 11 des Vertrags nur Initiativen zugelassen, die einen Rechtsakt der Union zur Verwirklichung der Verträge betreffen und die im Vorschlagsrecht der Kommission liegen. Vertragsänderungen sind als Gegenstand der Bürgerinitiative zum Beispiel nicht vorgesehen.

Vor diesem Hintergrund gestaltet sich auch der Vorstoß von Sigmar Gabriel und seinem österreichischen Kollegen Werner Faymann als schwierig, die Finanztransaktionssteuer mithilfe der Bürgerinitiative zur Abstimmung zu stellen. Es handelt sich bei diesem Thema um eine politische Aufforderung an die Mitgliedsstaaten und nicht um einen Rechtsakt, der unmittelbar die Verwirklichung der Verträge betrifft. Zwar umfasst beides die Befugnisse der Europäischen Kommission, jedoch muss im aktuellen Verfahren zwischen Rat und Parlament überprüft werden, ob auch politische Aufforderungen als Bürgerinitiative eingereicht werden können. Eine große Kraftanstrengung könnte der Vorstoß auch im Hinblick auf den Zeitplan werden: Die Europäische Bürgerinitiative tritt frühestens Anfang 2011 in Kraft. Gut möglich, dass sich der Abstimmungsprozess sogar noch bis in den Sommer 2011 hinzieht. Frühestens dann könnte man mit der Kampagne zur Sammlung von einer Million Unterschriften beginnen. Man kann nur hoffen, dass bis dahin nicht wieder andere Themen auf der politischen Agenda stehen.

Kurzum: Auch wenn das Thema Finanztransaktionssteuer wohl eher ein Testballon ist, bietet die Europäische Bürgerinitiative eine Chance, die sozialdemokratische Zusammenarbeit in Europa zu stärken und eine soziale und nachhaltige Wirtschaftspolitik voranzubringen. Mehr denn je ist hier die Europakompetenz der Parteien gefordert, um im Vorfeld geeignete Themen zu ermitteln und europaweite Mobilisierungskampagnen zu starten. Hierfür braucht Europa pro-europäisch ausgerichtete Sozialdemokraten – in Deutschland, aber auch im übrigen Europa. «

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