Eine Partei schafft sich ab
Seit Jahren prophezeien Experten den Tod der Sozialdemokratie in Europa. Ob in Deutschland oder Spanien, Frankreich oder Schweden, Österreich oder in den Niederlanden – überall stecken linke Modernisierer entweder in tiefen Umfragelöchern oder sie erleiden historische Wahlschlappen. Die Sozialdemokratie hat sich zu Tode gesiegt; ihre Kernthemen sind längst Normalität geworden und im Alltag der europäischen Gesellschaften fest verankert. Vielen Bürgerinnen und Bürgern stellt sich die Frage, warum sie die sozialdemokratischen Parteien noch wählen sollen, wenn die meisten Konkurrenten ebenfalls sozialen Ausgleich einfordern und die globalisierte Marktwirtschaft zähmen wollen. Bildung für viele oder alle, mehr Chancen und Gerechtigkeit für Frauen, offene Gesellschaften, internationale Kooperation und Politik im Interesse der „kleinen Leute“ – die konzeptionellen Unterschiede zu anderen Parteien gehen in der Aktualitätsspirale einer haltungslosen Mediendemokratie als Nuancen unter.
Auf dem Weg in die Selbstzerstörung
So bleibt den europäischen Sozialdemokraten derzeit nur der trostlose Kampf gegen Konservative, die das Gewand der sozialen Fairness und der Modernisierung übergestreift haben – oder der Kampf gegen sich selbst. Im Ringen um das politische Dasein hat die britische Labour Party seit dem vergangenen Jahr den Weg der politischen Selbstdemontage eingeschlagen. Um wieder wählbar zu werden, muss die Partei rasch ein breiteres politisches Bündnis zwischen verschiedenen Strömungen der britischen Linken bilden. Das Festhalten an tradierten politischen Denkmustern und die bewusste Polarisierung von Parteibasis und Abgeordneten im Unterhaus unter Jeremy Corbyn werden dabei kaum zum Ziel führen.
Mit der Wiederwahl Corbyns zum Parteivorsitzenden wird die Partei weiterhin mehr gegen sich selbst als gegen den politischen Gegner opponieren. Dabei fing alles so schön an: Die Direktwahl des Parteivorsitzenden 2015 durch die Mitglieder war als ein partizipatorisches Element im sonst so trägen und elitären Politik-Alltag von Westminster eine willkommene Abwechslung. Nach dem Falkirk-Skandal 2013, bei dem aufgeflogen war, dass die größte Gewerkschaft des Landes die Abstimmung zur Kandidatennominierung für die Unterhauswahl in der schottischen Stadt Falkirk manipuliert hatte, hatte Labour in Sachen Demokratie einiges aufzuholen. Um das Vertrauen der Mitglieder zu stärken und einen Kompromiss mit den abweichenden Gewerkschaften zu finden, führte der damalige Vorsitzende und spätere Wahlverlierer Ed Miliband das „one member, one vote system“ ein. Seitdem zählt bei der Wahl zum Parteivorsitzenden die Stimme der Abgeordneten genauso viel wie die der Parteimitglieder, ja sogar Nicht-Mitglieder beziehungsweise Labour-Unterstützer haben nun das Recht auf Mitsprache.
Obwohl Ed Miliband von der Presse zu dieser urplötzlichen Demokratisierung getrieben worden war, stützte er seine Entscheidung auf ein Kalkül, das auf die Zeit von Tony Blair und Gordon Brown zurückging. Blair und Brown hatten sich beizeiten schon Gedanken darüber gemacht, wie sie möglichst viele moderate Kräfte an die Partei binden könnten, um einer Übernahme durch linke Traditionalisten vorzubeugen. Die Rechnung war einfach: Je mehr moderate Mitglieder die Partei hat, umso weniger würden die Radikalen bei wichtigen Gremienwahlen und bei der Selektion der Kandidaten in den Wahlkreisen ins Gewicht fallen. Eine Öffnung der Wahl des Parteivorsitzenden für alle Mitglieder erschien also ungefährlich, denn es war eigentlich zu erwarten, dass sich viele neue Mitglieder oder Unterstützer an der Wahl beteiligen würden.
Dass die Rechnung am Ende nicht aufging und mit Jeremy Corbyn dennoch ein Alt-Linker die Wahl gewann, lag nicht zuletzt am überhasteten Rücktritt von Ed Miliband. In der kurzen Zeit nach seiner Wahlniederlage im Frühsommer 2015 konnten sich die moderaten Kräfte nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Infolgedessen mussten die blassen Herausforderer Liz Kendall, Andy Burnham und Yvette Cooper eine herbe und überraschende Niederlage einstecken. Jeremy Corbyn ging als überragender Sieger aus der Wahl hervor.
Feindliche Übernahme per Mausklick
Ed Miliband hatte auch den Effekt der Mobilisierung über das Internet vollkommen unterschätzt. Ein bedeutender Anteil derer, die im Herbst 2015 und im September 2016 für Corbyn stimmten, ist jung, gut ausgebildet und wurde mithilfe sozialer Netzwerke mobilisiert. So haben sich in den zwei Tagen vor Ende der Anmeldefrist im Juli 2016 noch einmal mehr als 180 000 Labour-Unterstützer für die Wahl registriert. Zu diesem Zeitpunkt kann man nur darüber spekulieren, aber wahrscheinlich wird sich die überwiegende Mehrheit dieser neuen Unterstützer erneut für Jeremy Corbyn entschieden haben. Dass sich zwischen dem dogmatischen Revolutionär, der seine Politikkarriere bis zu seiner Wahl im vergangenen Herbst auf der Hinterbank verbrachte, und den überwiegend moderaten Abgeordneten in der Labour-Fraktion eine tiefe Kluft aufgetan hat, ist die logische Konsequenz aus dieser Konstellation. Denn ohne repräsentative Mitsprache der Parlamentarier bei der strategischen Ausrichtung der Partei sind Konflikte programmiert, zumal nach wie vor nur etwa zwei Dutzend der insgesamt 232 Abgeordneten ihren Parteivorsitzenden unterstützen.
Das unspektakuläre und zuweilen blasse Rennen zwischen Corbyn und Owen Smith um das oberste Parteiamt hat umso deutlicher gemacht, dass die Differenzen und das Misstrauen zwischen den zwei Antipoden innerhalb Labours bestehen bleiben werden. So kann und will die Parlamentsfraktion nicht mit Corbyn und seinen Anhängern, weil sie Angst hat, bei der nächsten Unterhauswahl das Vertrauen der Wähler komplett entzogen zu bekommen.
In aktuellen Umfragen der Institute YouGov und ICM liegt die Labour Party nach dem Brexit-Referendum mit 14 beziehungsweise 16 Prozentpunkten hinter den konservativen Tories. Das sind seit Corbyns Amtsantritt im September 2015 neue Tiefstwerte, die einen Nährboden für die Skepsis der Abgeordneten bilden. Viel tiefer kann die Partei eigentlich nicht sinken, doch auf der anderen Seite steht der Vorsitzende, dessen Legitimität auf einer Art Mitgliedergnadentum beruht. Jede Kritik an seiner Person und Politik wird von engen Verbündeten wie Diane Abbott oder John McDonnell öffentlich verurteilt und bei substanziellen Auseinandersetzungen von ihm selbst mit Verweis auf das Mandat der Mitglieder abgeschmettert.
Vorwärts in den Einparteienstaat?
Mit der Wiederwahl Corbyns zum Parteivorsitzenden wird es weiter an einer glaubwürdigen Opposition im Unterhaus fehlen. Viele der Stammwähler und mittlerweile sogar die liberale Zeitschrift Economist lamentieren, dass Großbritannien gerade in den unsicheren Post-Brexit-Zeiten eine starke Opposition als Korrektiv zu Premierministerin Theresa May und ihrem traumwandelnden Kabinett dringend nötig hat. Derzeit spielen die Tories aber mit Labour überwiegend Katz und Maus. Die politische Auseinandersetzung kommt einer Schachpartie gleich, bei der Labour von einer Schachposition in die nächste gerät, aber bewusst nicht matt gesetzt wird. Die Partei ist in entscheidenden Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr uneinig, eine programmatische Leitlinie fehlt gänzlich, und zu einer Spaltung der Partei ist es nur deshalb noch nicht gekommen, weil weit und breit niemand den Mut dazu hat, die Rebellion gegen den Rebellen an der Spitze anzuzetteln. Auch kommen mittlerweile nahezu alle profilierten Abgeordneten nicht mehr für einen Posten im Schattenkabinett infrage, weil sie es sich mit Jeremy Corbyn entweder verscherzt haben oder schon einmal zurückgetreten sind.
Corbyn und Europa? Daraus wird nichts
Hinzu kommt, dass die Partei die historische Gelegenheit und das Momentum verpasst hat, in Großbritannien eine proeuropäische Plattform zu etablieren. Nach dem Referendum traten zarte Ansätze einer zivilgesellschaftlichen Auflehnung gegen den Ausgang des Referendums ans Tageslicht, wenn auch nur in London. Tausende demonstrierten für eine EU mit dem Vereinigten Königreich; „Fromage Not Farage“ skandierten die Aktivisten auf den Straßen der Hauptstadt. Diese außerparlamentarische Opposition resignierte jedoch schnell, als klar wurde, dass mit Labour unter Jeremy Corbyn kein Sinneswandel zu erwarten war und somit eine breite politische Basis für eine mögliche Mission „Return to Europe“ fehlte. Zu unentschlossen und unglaubwürdig war Corbyns Bekenntnis zu Europa schon während der Kampagne vor dem Referendum gewesen. Nach der historischen Niederlage wollte die Fraktion seinen Rücktritt erzwingen, reihenweise traten die Minister aus seinem Schattenkabinett zurück. Doch es kam zur Wiederwahl und für Labour heißt es nun „zurück auf Los“.
Untreue Genossen werden aussortiert
Gestärkt von dem soliden Wahlergebnis von 62 Prozent der Mitgliederstimmen wird der Parteivorsitzende weiter daran arbeiten, seine innerparteiliche Machtbasis zu erweitern und wichtige Parteigremien und Posten strategisch zu besetzen. Das ist nicht ungewöhnlich, jedoch haben sich Rhetorik und Vorgehensweise in den Wochen vor der Wahl verschärft. Wurden zu Beginn des Jahres Kritiker noch einzeln kaltgestellt, so etwa der ehemalige EU-Schattenminister Pat McFadden, deuten zahlreiche Medienberichte darauf hin, dass untreue Abgeordnete ab sofort systematisch aussortiert werden sollen. Dabei könnten Mitglieder der Pro-Corbyn-Bewegung „Momentum“ lokale Treffen und Abstimmungen unterwandern und dafür sorgen, dass unbequeme Parlamentarier wie der Partei-Vize Tom Watson oder Peter Kyle, der Abgeordnete für Hove und Portslade, durch Unterstützer von Corbyn ersetzt werden.
Das Vorgehen würde an den Putsch von Danial Ilkhanipour gegen Niels Annen 2008 in Hamburg-Eimsbüttel erinnern, allerdings in einer anderen, weitaus größeren Dimension. Rhetorisch flankiert wurde diese interne Auslese von Len McClusky, dem Generalsekretär der größten britischen Gewerkschaft Unite. Der kündigte in einer Rede an, dass die Unterstützer des Corbyn-Herausforderers Owen Smith in ihren Wahlkreisen „zur Verantwortung gezogen werden“ sollen.
Dass solche Berichte die Stimmung bei Labour nicht aufhellen, wird niemanden verwundern. Auch schaffen der Parteichef und seine Unterstützer mit diesen Einschüchterungsmethoden natürlich nicht gerade ein gutes Klima für einen pluralistischen Diskurs. In einer Partei, die im harten Geschäft des absoluten Mehrheitswahlsystems nur Chancen auf einen Sieg hat, wenn sie wie in den siebziger Jahren unter Harold Wilson und in den 2000er Jahren unter Tony Blair mit einem übergreifenden Bündnis progressiver Kräfte gewinnen kann, ist dies eine ernüchternde Botschaft. Für ein solches Bündnis müsste Jeremy Corbyn über seinen Schatten springen und den Schulterschluss mit Blue Labour, den „Blairites“ und den pragmatischen pro-europäischen Kräften suchen.
Ganz den Mut verlieren sollte man bei dieser nüchternen Bilanz aber noch nicht. Einen zaghaften Versuch der Annäherung an die Labour-Abgeordneten in Westminister unternahm Corbyn vor seiner Wahl dann doch noch. Immerhin: Er kündigte an, dass er den Parlamentariern zumindest bei der Zusammensetzung des Schattenkabinetts ein Mitspracherecht einräumen wolle, im Gegenzug für deren Unterstützung seiner Politik, die sich gegen Sparmaßnahmen richtet. Mal sehen, ob er sein Wort hält.