Eine wachsende Entfremdung

Gedanken zum Zustand der transatlantischen Beziehungen

Die europäisch-amerikanischen Beziehungen sind an der Oberfläche stets volatil gewesen. Nähe und Fremdeln schienen einander abzuwechseln. Unterhalb dieser Oberfläche aber waren die transatlantischen Beziehungen über 40 Jahre fest grundiert - zum Teil in dem, was man gerne Werte nannte, zum wohl größeren Teil aber in der bipolaren Struktur des Ost-West-Konflikts. Diese binäre Konfliktstruktur ließ weder den USA noch den Westeuropäern eine wirkliche Alternative, da eine Allianz mit dem anscheinenden Systemgegner Sowjetunion nicht in Betracht kam.

Zudem waren die Spielräume für "Dritte Wege" sehr eng. Einige Angehörige der "Blockfreienbewegung" versuchten das, mit mäßigem Erfolg; die Ressourcenabhängigkeit von einer der beiden Blockseiten war zu stark. Der "Eurokommunismus" wies ebenfalls einen eigenen Weg, war aber letztlich nicht stark genug in den italienischen, französischen und spanischen Gesellschaften verankert und wurde von außen dämonisiert. Selbst wenn man dies alles außer Betracht lässt - für ein Land wie Deutschland kam nach dem Zweiten Weltkrieg ohnehin alles andere als eine fest in die Bündnissolidarität eingebettete Außenpolitik nicht in Betracht. Wie eng die Spielräume waren, zeigte sich etwa in Debatten über den Vietnamkrieg und in der Phase der deutschen Ostpolitik seit Ende der sechziger Jahre.

Nun aber ist der Ost-West-Konflikt implodiert. Eine Partnerseite hat sich aufgelöst, letztlich mehr durch innere Schwäche als durch direkten Druck von außen. Zudem ist durch die Folgen der Globalisierung das ganze westfälische Staatensystem im Wandel - in einem Wandel, der seine Schwächung bedeutet. Mit anderen Worten: Die Spielkarten der nun globalen Politik werden neu gemischt. Deswegen gibt es kaum noch "natürliche" Konstanten internationaler, globaler Politik. Viele Dinge sind im Fluss. Nüchterne Bestandsaufnahmen ohne normativen Überschwang sind ratsam.

Dabei fällt zunächst auf, dass die Gegensätze zwischen den Partnern des Kalten Krieges substantiell sind. Es handelt sich um weit mehr als eine Delle, die sich wieder ausbügeln lässt. Zwar überwiegen wohl noch insgesamt die Gemeinsamkeiten zwischen den alten Partnern des Kalten Krieges und nicht die Konfliktpunkte. Aber wesentlich ist, dass man nicht mehr automatisch von einer ?natürlichen" Interessennähe ausgehen kann.

Die gemeinsame Agenda des Ost-West-Konflikts ist abgearbeitet. Eine neue - gemeinsame - liegt (noch?) nicht vor. In Washington sind nicht wenige Stimmen vernehmbar, die besagen: "Business in Europe is done." Oder: "The time for Nato has come - and gone." Damit aber gibt es nun eine "natürliche" Spannung innerhalb der alten Allianz, da es auch "natürliche" Interessengegensätze gibt - neben noch immer gemeinsamen Interessen. Und es gibt auch unterschiedliche gesellschaftliche Befindlichkeiten; die politischen Kulturen (etwa die Bedeutung von Religion) sind in manchem recht verschieden.

Für die US-Regierung sind die europäischen Regierungen und erst recht die Gesellschaften schwer zu kalkulieren, da sie schwieriger oder auch gar nicht mehr zu "führen" sind. Die Kombination aus (noch spürbarer) wirtschaftlicher Stärke, eher geringer sozialer Dynamik und militärischer Schwäche irritiert. Abweichende Voten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und harte Dispute in der Welthandelsorganisation (WTO) sind - noch - ungewohnt. Für die (west)europäischen Regierungen und Gesellschaften wiederum sind die Vereinigten Staaten in ihrer jetzigen Verfasstheit und ihrem aktuellen Auftreten oft nicht Partner zur Problemlösung, sondern selbst ein zu lösendes Problem.

Hinzu kommt, dass die Nachkriegsgeneration, für die die transatlantischen Beziehungen etwas natürlich Gefundenes und Gepflegtes waren, beinahe abgetreten ist. Die junge Politikergeneration ist zwar kulturell stark, aber politisch weniger auf die USA orientiert. Ohnehin gibt es nur sehr wenige jüngere Abgeordnete, die sich überhaupt für globale und transnationale Fragen interessieren.

Zwar wird "Europa" in den USA sehr unterschiedlich aufgenommen. So wird oft ein erheblicher Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich gemacht. Aber für viele gilt: "Europa" steht für jene, die, wie es scheint, "in der Stunde der Not" nicht mit uns waren. Gewiss eine Wahrnehmung, die stärker für das Kernland gilt als für die Küstenstreifen. Doch diese Perzeption wirkt, auch wenn sie unzutreffend ist. Bundeskanzler Schröder hatte - für viele nicht recht nachvollziehbar - nach dem 11. September 2001 2bedingungslose" Solidarität ausgerufen. Sie musste dann faktisch revoziert werden, als klar wurde, dass Solidarität nicht bedingungslose Zustimmung und Unterstützung jedweder US-Politik heißen kann. George W. Bushs, vor allem aber Richard Cheneys und Donald Rumsfelds Irak-Fixiertheit führte absehbar in das Desaster, in dem wir uns alle, nicht nur die Iraker und die Amerikaner, befinden.

Jedenfalls ist die vorherrschende Attitüde in den Vereinigten Staaten gegenüber der EU (ausgenommen Großbritannien) die eines selbstgewissen Unverständnisses: "Wie können Regierungen, Medien, Gesellschaften, die sicherheitspolitisch so schwach sind wie die Europäer, so viel Lärm schlagen und uns kritisieren?" Das wirkt albern, oder zumindest wie unnütze Zeitvergeudung. Daraus folgt die Erwartung, dass die Europäer die Dinge - die realen Machtdifferentiale - so akzeptieren sollten, wie sie nun einmal sind. Dies geht einher mit dem Verdacht (besonders im Hinblick auf internationale Institutionen und Regime), die Europäer wollten nicht wirklich Konsultationen, sondern Veto-Optionen. Dafür benutzten sie die Vereinten Nationen. Keine Großmacht, so heißt es, würde so etwas akzeptieren. Es sei verständlich, dass die Europäer das versuchten; aber ebenso klar, dass die USA das ablehnten.

Für die Zeit nach dem Regimesturz war gerade kein Konzept zur Hand

Wenn aber Institutionen und Regime globaler Politik so krass folgenlos bleiben, dann ist es um so wichtiger, die dominanten Akteure einmal genauer zu betrachten. So ist es zum Beispiel sinnvoll zu prüfen, mit welcher Art von Hegemon wir es zu tun haben. Wenn es sich um einen freundlichen (benign/benevolent) Hegemon handelt, oder zumindest um einem rational hegemon, dann könnte diese Lage für eine gewisse Zeit akzeptabel sein. Es gab in der Geschichte Beispiele dafür, dass sich Hegemonialmächte an mittleren und längeren Zeithorizonten orientiert und umfassende, auch Klienten berücksichtigende encompassing interests ausgebildet haben. Allerdings: Dass die derzeitige Regierung der Vereinigten Staaten ein Beispiel dafür ist, wird man bezweifeln müssen.

Die Entscheidung zur Intervention im Irak folgte zwar einem dringenden Impuls bei zentralen Akteuren der Administration, aber nicht einem grand design oder einem großen Narrativ. Sie baute vielmehr auf den Teilagenden diverser Interessengruppen auf. Nüchterne, Kosten minimierende Machtmaximierer stehen neokonservativen Demokratieverbreitern verständnislos gegenüber - und umgekehrt. Moderate, wenn auch auf US-Interessen orientierte Institutionalisten (wie bei Bush sen. zu finden) bilden eine dritte Gruppe. Die Rivalitäten zwischen Außenministerium und Verteidigungsministerium sind hier nur ein kleines Beispiel. In den think tanks und den einschlägigen medialen Sprachrohren geht es richtig zur und um die rechte Sache. Und so ist es eben nicht erstaunlich, sondern nur konsequent, dass für die Zeit nach dem Regimesturz kein Aufbaukonzept zur Hand gewesen ist. Woher sollte es angesichts so unterschiedlicher Vorstellungen und Politikbilder auch kommen?

Aus europäischer Sicht ist daher der Befund vertretbar, wenn nicht sogar nahe liegend, dass die Vereinigten Staaten - und nicht nur die derzeitige Regierung - weder ein durchweg freundlicher noch ein rationaler Hegemon sind. Gesellschaftliche Bewegungen und staatliche Politik sind Ergebnisse vielfältiger Agenden und Dynamiken. Diese resultieren aus aktuellen Interessen und aus historisch-kulturellen Prägungen. Aber "hinter" ihnen verbirgt sich aller pro- wie anti-amerikanischen Rhetorik zum Trotz kein Masterplan. Dieser Befund sollte die europäische Politik anleiten.

Dies verweist auf einen anderen, für die Verortung und Gestaltung europäischer Politik wesentlichen Punkt: Die Differenzen innerhalb der Regierung Bush sind, wie schon angedeutet, sehr stark. Klassisch "realistische" Positionen stehen fundamental "idealistischen" Gruppen und Personen gegenüber. Fundamentalistisch religiöse, ökonomisch kalkulierende und wahlkampfgeprägte Motive und Argumentationen bilden eine schwer zu ordnende Melange. Nach den massiven Problemen in der Folge der Irak-Intervention stehen sich diese Positionen und Gruppierungen nun zunehmend feindselig gegenüber und weisen einander die Schuld zu.

Die Welt demokratisieren - komme, was da wolle

In gewisser Weise sind die Debatten zwischen Vizepräsident Richard Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wichtiger als die zwischen Rumsfeld und dem moderaten Dissidenten Außenminister Colin Powell. Die Leiterin des Nationalen Sicherheitsrates (NSC), Condoleezza Rice, spielt in diesem Parallelogramm keine entscheidende Rolle. Sie ist eher ein Ressourcenpool und eine stets präsente Interpretin für den Präsidenten. Der Apparat des Vizepräsidenten spielt faktisch die Rolle des klassischen NSC.

In der Substanz geht es den "Realisten" (Rumsfeld und Powell hier eher gemeinsam, wenn auch mit klaren Differenzen hinsichtlich der Rolle von internationalen Institutionen) darum, die Machtposition der Vereinigten Staaten zu erhalten und auszubauen. Das geschieht relativ ideologiefrei, wobei Powell sich mehr um internationale Absicherungen und Einbindungen bemüht. Das gemeinsame Selbstverständnis lautet: "Wir sind stark. Deswegen können und müssen wir unsere Interessen verfolgen." Das heißt aber auch: Skepsis gegenüber Überdehnungen und Gefährdungen der US-Position. Die Leitung des Verteidigungsministeriums kennt die familiären Folgen und gesellschaftlichen, auch wirtschaftlichen Probleme bei der Truppenrotation und auch die Fälle, in denen Einberufungen verweigert wurden. Sie weiß auch um die bedenklich überdehnten Teilbudgets für den Feldzug, dessen Ende immer weiter in die Ferne rückt. Sie weiß, dass die (längst kaltgestellten) Generäle Recht hatten, die vor bald zwei Jahren warnten, man werde auf Jahre mehrere Hunderttausend Soldaten benötigen; allein, sie sind nicht da.

Die neocons genannten "Idealisten" dagegen haben eine Mission. Sie wollen die Welt ?demokratisieren" - komme, was da wolle. Und sie nutzen 9/11, um diese Agenda voranzutreiben. Nach dem Irak wenden sich einige gedanklich als nächstes schon dem Iran zu. Diese Leute werden von den "Realisten" als "benevolent imperialists" wahrgenommen. Sie kümmern sich nicht groß um die fiskalischen sowie mentalen Kosten und Grenzen der Macht, sondern wollen die "bösen" Regionen der Welt nach amerikanischem Muster neu ordnen. Beide Gruppen haben wesentliche Unterschiede und wenige Gemeinsamkeiten. Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten. Beide haben kein Interesse an Institutionen. Beide verstehen sich auch darin, die Losungen von preeminence and preemption als Geschäftsgrundlage zu sehen. Das wesentliche verbindende Element ist jedoch der Präsident, ohne den beide Gruppen wesentlich schwächer wären. Beide sind nachdrücklich an seiner Wiederwahl interessiert; ohne ihn wären sie nicht mehr als Stimmen im Wald der Journale.

Nun zu den Unterschieden. Beide Gruppen unterscheiden sich zunächst in der Frage akzeptabler Verbündeter. Während die "Realisten" pragmatisch vorgehen (für Operationen out of area am besten die Nato einsetzen; falls das nicht geht: USA plus Nato-Verbündete; sonst Verbündete außerhalb der Nato oder die, die wollen; notfalls machen es die USA alleine) und dabei auch diktatorische und undemokratische Regime akzeptieren (Pakistan, Saudi Arabien, you name it), sind die neocons hier wählerisch. Sie möchten den Sturz Saddams gerne als Fanal für eine Neuordnung der ganzen Region sehen (und können schwer erklären, warum das derzeit erkennbare Fanal in eine ganz andere Richtung weist).

Die Vereinigten Staaten, eine revolutionäre Macht

Ein weiterer Gegensatz ergibt sich aus der Frage, welche Strategie jetzt im Irak angewandt werden soll. Neocons wollen vom Irak aus Demokratie verbreiten. Das setzt wahrscheinlich dauerhaftes, zeitlich nicht absehbares und anhaltend hohes amerikanisches Engagement voraus. Nun, da die Irakisierungsstrategie einstweilen gescheitert scheint - einerlei, was nach dem Juli 2004 weiter geschehen wird - gilt das umso mehr. "Realisten" halten das für gewagt. Was, wenn es zeitgleich zu auch nur kleineren kritischen Situationen an anderen Orten der Welt kommt? Haiti? Nordkorea? Oder gar eine ernsthafte Krise auftritt? Auf jeden Fall möchten sie die Truppen nach "Erledigung" des militärischen Auftrags rasch heimholen.

Auch im Außenministerium ist zu hören, die Vereinigten Staaten seien nun eine revolutionäre Macht. Damit wird dem verändernden Impuls, den die neocons vertreten, erhebliches Gewicht zugemessen. Aber er bleibt nicht unwidersprochen. Es stimmt ja, was Außenminister Powell seinem Präsidenten sagte, als ihn George W. Bush (verspätet) über die Kriegsentscheidung unterrichtete: "When you break it, you own it" - frei übersetzt: "Wenn Sie reingehen, haben Sie das Land am Hals." Nun fehlt es an Ressourcen und an langem Atem, um dies ungeachtet der Wahlen zu akzeptieren und über Jahre abzuarbeiten.

Die europäische Politik war mit der in der Form letztlich entschiedenen, aber in ihren Quellen und Wirkungen diffusen US-Politik im Mittleren (und übrigens auch im Nahen) Osten überfordert. Aus europäischer Perspektive gab und gibt es eine lange Liste einseitiger amerikanischer Schritte, die für problematisch, gewagt oder unerfreulich gehalten werden: Die Kündigung des ABM-Vertrags und die Ablehnung des Landminen-Banns, die Behinderung des Kyoto-Protokolls zum Klimaschutz, die Ablehnung (und partielle Sabotage) des Internationalen Strafgerichtshofs, die innenpolitisch motivierte Einführung von Stahlschutzzöllen gegen entsprechende WTO-Regelungen, einige für Ausländer problematische Passagen des Patriot Act, die Irak-Politik und die Verschärfungen der Visa-Bestimmungen sind nur die prominentesten Beispiele einer Politik, die weiß, dass sie einstweilen ungestraft relativ ungebunden verfahren kann. Aber so wie die inneramerikanischen Gegensätze nicht automatisch den Europäern zugute kommen, so wird aus dem europäischen Lamento über unilaterale Spielzüge noch keine konsistente alternative Politik. Europäische Interessen und Positionen werden jenseits des Atlantik nur dann registriert und erst recht nur dann ernst genommen, wenn sie "stark" sind und so zur Geltung gebracht werden, dass sie als schmerzlich empfunden werden. Das ist bei Handelsfragen teilweise der Fall; bei Sicherheitsfragen fast gar nicht. Europäer werden in Washington, aber auch vom sprichwörtlichen Joe Public on Main Street zumeist als schwach angesehen, als beeinfluss- und formbar. Das bringt zwangsläufig den Gedanken an die "Koalition der Willigen" auf - mit Regierungen, die willfährig bereitstehen, um US-Interessen zu gewährleisten.

Es geht, so Robert Kagan beharrlich, im Grunde um zwei konträre Haltungen zur globalen Sicherheitspolitik. Zum einen die europäische, die in der Tat politischer ist und sich Krieg - auch nach den Erlebnissen auf dem Balkan in den neunziger Jahren - kaum noch vorzustellen vermag. Zum anderen die amerikanische, die Gewalt als legitimes und einsetzbares Mittel der Politik betrachtet. Angesichts dieser und anderer fundamentaler Gegensätze erscheint das Reden vom - oder Hoffen auf den - als Wertegemeinschaft geschlossen agierenden Westen wie ein "Mythos" (Kagan). Die alten Gewissheiten sind erodiert, die alten Standbeine tragen nicht mehr.

Die amerikanische Irak-Politik ist in einer schwierigen Situation. Sie muss zwischen den Erfordernissen vor Ort und den heraufziehenden Schatten des Wahlkampfs vermitteln. Der Einfluss der spin doctors des Präsidenten (Karl Rove, Karen Hughes) verstärkt sich spürbar - in beinahe allen Bereichen der Politik. Weder ein Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Irak noch eine Stärkung der vorhandenen Kontingente sind unter Wahlkampf-Kalkulationen möglich. Ein Rückzug würde alle bisher gemachten Anstrengungen, vor allem auch die lange unterschätzten Opfer, entwerten und darüber hinaus bei allen islamischen und sonstigen antisäkularen Fundamentalisten als Triumph empfunden. Das kann auch nicht im europäischen Interesse sein.

Eine Verstärkung der US-Kontingente aber wäre, wenn überhaupt, technisch nur begrenzt möglich und würde politisch als Niederlage gewertet. Die jetzt gewählte Strategie der Stärkung der irakischen Selbstverwaltung (auch ohne Verfassung) und einer intensivierten Anti-Terror-Kampagne scheint in absehbarer Zeit nicht aufzugehen. Auch die Festnahme von Saddam Hussein hat die amerikanische Malaise nicht geändert: Der Widerstand ist kaum zentral koordiniert und daher nicht einfach auszuschalten. Potentiell schließen sich gar die einander stets skeptisch bis feindlich gegenüberstehenden sunnitischen und schiitischen Gruppen im Irak eher zusammen. Das alles hält die Frage nach dem Sinn der amerikanischen Intervention auf der Tagesordnung - zumal der vorgebliche Hauptgrund, die Massenvernichtungswaffen, ebenso eine Schimäre waren wie Saddams vermeintliche Zusammenarbeit mit Al-Qaida.

Der Kampf gegen den Terror steht auf der Kippe

Angesichts der neuen Indigenisierungs-Strategie kamen für Europäer weitere Sorgen auf. Wie wir aus Osteuropa (Ex-UdSSR, Ex-Jugoslawien) und auch aus anderen Weltregionen wissen, ist die Kombination von schwacher Staatlichkeit und schwachen Institutionen, der Öffnung von Zugriffen auf Eigentumsrechte, von konkurrierenden Elitengruppen und kulturellen sowie ethnischen cleavages potentiell hochgefährlich. Ohne eine starke, von außen garantierte Klammer kann dieser Cocktail explodieren. Diese Risiken sind auch amerikanischen Experten klar. Die Regierung Bush ist aber so in ihrer fixen Irak-Idee gefangen, dass sie keine Handlungsspielräume sieht, um alternative Strategien auszuloten. Und selbst von diesen gibt es verzweifelt wenige. Die Europäer dagegen wie auch andere Regierungen, die zum Teil militärische Kontingente in den Irak entsandt haben, finden es immer weniger zumutbar, dort präsent zu sein. Offiziell haben sie sich erstaunlicherweise dazu herabgelassen, ein Waffenstillstandsangebot Osama bin Ladens auszuschlagen (und ihn damit als Partner akzeptiert). Faktisch aber ist es innenpolitisch kaum mehr vermittelbar, dort präsent zu sein. Der "Kampf gegen den Terror", den George W. Bush unsinnigerweise in den Irak getragen hat, steht auf der Kippe.

Die Belastungen der europäisch-amerikanischen und der deutsch-amerikanischen Beziehungen bleiben nicht nur auf die - hohe - Politik beschränkt. Erste gesellschaftliche Auswirkungen - etwa beim Studierendenaustausch - sind zu beobachten. Bewerberzahlen gehen zurück. Visa-Probleme von Wissenschaftlern (in eine Richtung) nehmen zu. Die Folgen einer gesellschaftlichen Distanzierung wären schwerwiegend. Hier muss entgegengewirkt werden. Eine stark beunruhigende Entwicklung ist mit den wirtschaftlichen Tendenzen in den Vereinigten Staaten verbunden. Zwar zieht das Wachstum an, Investitionen und Konsum nehmen zu. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist noch nicht ganz klar. Das Kernproblem aber ist eine beispiellose Verschuldung. Mit den Worten Paul Krugmans: "Nothing in our national experience prepared us for the spectacle of a government launching a war, increasing farm subsidies and establishing an expensive new Medicare entitlement - and not only failing to come up with a plan to pay for all this spending in the face of budget deficits, but cutting taxes at the same time." (Looting the Future, in: New York Times vom 5.12.2003). Das Haushaltsdefizit kann die amerikanische Weltmacht-Politik im Inneren und nach außen unterminieren - vielleicht rascher und wirkungsvoller als eine bislang nicht vorhandene gemeinsame europäische Politik.

Warum Europa etwas unternehmen muss

Was folgt aus all dem für europäische Politik, vor allem für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beziehungsweise die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik? Auf jeden Fall muss sich Europa um mehr Kohärenz und Stärke bemühen. Anderenfalls ist weder eine funktionierende Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten auf neuer Grundlage denkbar noch eine Art von Gegenbalance (was auf absehbare Zeit ohnehin illusorisch bleibt). Aber selbst das Gewinnen von geringen Handlungsoptionen erfordert schwierige und schmerzhafte Abwägungen und Prioritätensetzungen, auch bei den nationalen Haushalten.

Verstärkte Investitionen in Bildung und Wissenschaft, neue Anreizstrukturen für private Elemente in der Gesundheitspolitik und in der Altersversorgung, die Finanzierung der EU-Erweiterung und die Konsolidierung öffentlicher Haushalte, zumindest auf einem mit dem Stabilitätspakt kongruenten Niveau, sind zusammen kaum zu haben. Zusätzliche Investitionen in eine gemeinsame Sicherheitspolitik mit einer gemeinsamen Rüstungskomponente würden bereits vorhandene Zielkonflikte dramatisch verschärfen.

Wenn aber Europa angesichts eines nicht sehr rationalen Hegemons ein bestimmtes inter- und transnationales Vetopotential für aus europäischer Sicht zentrale Fragen globaler Politik anstrebt, muss es etwas unternehmen. Wenn dies rüstungspolitisch und finanziell zunächst nicht machbar ist, gibt es vielleicht politische Antworten. Die darunter vielleicht wichtigste kann die Aufnahme der Türkei in die EU sein. Dadurch würde die mit einer neuen Verfassung ausgestattete Gemeinschaft nicht nur endgültig zu einem global player. Sie könnte zudem zeigen, dass politischer Islam und säkulare Moderne, (oder Institutionen bildende Postmoderne) durchaus kompatibel sind.


Während eines fünfwöchigen Aufenthalts in den Vereinigten Staaten, in Washington (November 2003) und New York (Anfang Dezember 2003) sowie während weiterer sechs Wochen in Stanford (Januar und Februar 2004) habe ich in über 30 Treffen und Gesprächen die Rahmenbedingungen und Perspektiven der transatlantischen Beziehungen im Allgemeinen und der deutsch-amerikanischen Dimension im Besonderen ausgelotet. Die Ergebnisse der vom Auswärtigen Amt finanzierten Reise stelle ich hiermit vor. Das Papier spiegelt nur meine eigenen Eindrücke wider. Zitate sind nicht gekennzeichnet und geben stellvertretend paradigmatische Positionen wieder.

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