Einmal Demokratie und zurück

Warum wir nicht die Republik ändern müssen, um mehr Freude am politischen System zu haben

Dass der Demokratie Demokraten fehlen, ist nicht das Problem unserer Republik. Wir haben mehr als 200.000 ehrenamtliche Volksvertreter in 16.000 Gemeindeparlamenten, 426 Kreistagen und 117 großstädtischen Ratsversammlungen. Dazu 3000 Berufspolitiker in Landtagen und Bundestag, Europaparlament, Bundes- und Landesregierungen. SPD, CDU, CSU, FDP, Grüne und PDS kommen zusammengerechnet auf etwa zwei Millionen zahlende Parteimitglieder. Diese wählen in ihren Ortsvereinen, Kreis-, Bezirks-, Landes- und Bundesverbänden und in ihren Arbeitsgemeinschaften gut 300.000 ehrenamtliche Funktionäre - gemeinsam mit den Mandatsträgern der aktive Kern der Parteiendemokratie.


Nicht genug mit Staat und Parteien, die repräsentative Demokratie durchzieht unsere ganze Gesellschaft: die Schulen mit ihren Schülervertretungen und Schulkonferenzen, die Hochschulen mit ihrer verschrobenen Gremienanarchie, die Personalräte des öffentlichen Dienstes, die Betriebe mit 200.000 nach den Regeln des Betriebsverfassungsgesetzes gewählten Betriebsräten, die selbstverwalteten Kammern, Renten- und Krankenversicherungen. Dazu all die Vereine, Verbände, Kirchen und Gewerkschaften, deren zig Millionen Mitglieder regelmäßig ihre Turn- und Elferräte, Gemeindevorstände und Synoden, Tarifkommissionen und Ortskartellvorsitzenden wählen.


60 Millionen Wahlberechtigte geben nicht etwa einmal alle vier Jahre, sondern vier oder fünfmal, im Schnitt also einmal jährlich, ihre Stimme ab - bei Kommunal- und Bürgermeisterwahlen, bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen. Zwischen 50 und 80 Prozent machen mit. Gelegentlich gibt es auf Kommunal- oder Landesebene auch ein Bürgerbegehren oder einen Volksentscheid.


Dennoch gilt es nach alter deutscher Überlieferung als sehr schwer, sich hierzulande öffentlich zu engagieren. Alles verkarstet und verkastet, vernagelt und verhext! Parteien streiten nur. Politiker vertreten nicht das Volk. Nie geht es um die Sache, sondern immer nur um Macht. Ein schmutziges Geschäft. Man sollte es anderen überlassen.


Widersprüchlich: Die deutschen sind millionenfach mitten drin, in ihren Vereinen und Gremien, sie sind voll dabei, wenn gewählt oder abgestimmt wird. Aber sie genießen es, sich auf eine meckernde Abseitsposition zurückzuziehen, für nichts mitverantwortlich zu sein, dem ganzen System gegenüberzustehen, kleiner Mann zu spielen - wir hier unten, ihr da oben ... Und mancher Politikverdrossene droht in Gedanken oder ausdrücklich immer noch dunkel mit der großen Geschichte: Wir können auch anders!


Politikverdruss und Politikerverachtung grassieren überall in der demokratischen Welt, jederzeit. Schon Benjamin Franklin klagte vor mehr als 200 Jahren: "Es gibt keine Unehrenhaftigkeit, die ansonsten anständige Leute leichter und häufiger begehen, als die Beleidigung der Regierung." Und Platon gab vor über 2000 Jahren zu bedenken: "Diejenigen, die zu klug sind, sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst." Die populäre Missgunst auf den Punkt brachte Winston Churchill, der sarkastisch einräumte, die Demokratie sei zweifellos die schlechteste Regierungsform - außer allen anderen, die schon ausprobiert worden sind.

In Deutschland hat der antipolitische Affekt allerdings eine nationale Sondertradition. Den Deutschen steckt der Totalitarismus nicht in den Genen, aber er bildet im Westen wie im Osten ein naheliegendes Muster, auf das gerade in Krisenzeiten leicht zurückgegriffen werden kann.


Die drei Wurzeln unserer problematischen Sondertradition liegen erstens im Scheitern der bürgerlich-demokratischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Revolutionen (1789, 1830, 1848) brachten keine Republik, stattdessen Restauration der Adelsmacht, Rückzug der deutschen Bourgeoisie auf "Kulturnation", "Gelehrtenrepublik" und "Innerlichkeit". Das Gegensatzpaar der Epoche: bürgerliche Moral versus adlige Machtpolitik. Nation und Demokratie fielen in Deutschland nicht zusammen. So wurde der Nationalbegriff anders, völkisch, aufgeladen, die deutsche Republik kam 1918 spät, zu spät.


Zweitens arrangierte sich das nationale Bürgertum mit dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat, der immerhin Deutschland mit Feuer und Schwert geeint hatte, und entwickelte im Kaiserreich einen antipluralistischen, parteienfeindlichen Untertanengeist, orientiert an den Normen der so erfolgreichen kriegerisch-administrativen adligen Berufsgruppen.


Drittens schließlich ging die erste deutsche, die Weimarer Republik zugrunde an einem Mangel an Loyalität und einem Übermaß an gelernter Denunziation von Parlamentarismus ("Schwatzbude") und "volksfremder" Parteilichkeit.


Vor dem Hintergrund dieser fatalen Geschichte ist es erschütternd zu sehen, welchen geringen Stellenwert noch heute die demokratische politische Bildung, die Erziehung zur Demokratie in unseren Schulen und Hochschulen hat.


Studierende der Sozialwissenschaften, die sich auf Jobs beim Bundestag beworben haben, sind mehrheitlich nicht in der Lage, die Anzahl der deutschen Länder (16), die Namen aller sechs Schröder-Vorgänger (Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl) und den Sinn des "konstruktiven Misstrauensvotums" im Grundgesetz (Abwahl des Bundeskanzlers nur durch Wahl eines neuen) zu nennen.


Auf einem Jugendforum der SPD-Bundestagsfraktion geben fünfzig knapp volljährige, wahlberechtigte Schüler und Auszubildende zwei Stunden lang jedes Uraltressentiment und Medienklischee gegen die Parteipolitik, die eben "das Volk" nicht so recht vertritt, zum besten - und merken erst, als sie am Ende selbst zwei Gruppen-Sprecher für die Diskussion mit dem Bundeskanzler bestimmen sollen, dass Volkes Wille so einheitlich denn doch nicht ist, dass man gleich jeden beauftragen könnte. Es gibt Streit.


Zu Anfang eines Proseminars an der Uni habe ich die Politikstudenten einmal gebeten, dass jeder die Namen von fünfzehn nicht mehr lebenden bedeutenden Linken auf eine Karteikarte schreiben möge, egal ob Deutscher, Franzose oder Russe, Politiker oder Dichter, Syndikalist, Grüner oder Sozialdemokrat - wen sie eben für links hielten, eine kleine unrepräsentative Umfrage. Nur drei von 21 Nachwuchspolitologen konnten wie gefordert fünfzehn Größen nennen. (Die Hitliste führte dann Rosa Luxemburg vor Marx, Engels, den Liebknechts, Lenin und Bebel an.)

Was mit diesen zufälligen Testergebnissen zart angedeutet werden soll, ist nicht nett, aber nötig festzuhalten, wenn Besserung gewünscht wird: Die jungen Leute wissen zu wenig über ihr Land, ihre Gesellschaft, ihr politisches System. Sie lernen es nicht, nicht einmal in einschlägigen Studienfächern an der Uni. Kein modisches Methodenwissen (wie man einen Computer, der alles weiß, einschaltet) kann die solide Kenntnis des Verfassungsrahmens und einiger historischer Leitfiguren, die Vorstellung einer Chronologie und die Erfahrung demokratischen Lebens ersetzen. Wo all das fehlt, muss man sich nicht wundern, dass die Stichworte der Politverdruss-Berichterstattung und die alten Mythen des antipolitischen Hörensagens das Demokratiebild prägen.


Tatsächlich hört man von Jugendlichen oft, dass sie selbst irgendwie das Gefühl haben, zu wenig über Politik und Geschichte zu wissen. Dies Gefühl trügt nicht. Unsere Gesellschaft versagt bei der Vermittlung ihrer Spielregeln. Vielen Profis in Politik, Wissenschaft, Medien und Verwaltung fällt es schwer sich vorzustellen, was man alles nicht wissen kann. Aber Demokratie lernt man in Deutschland fast nur im kalten Wasser, wenn man sich selbst engagiert.


Besser wäre eine Schule, die Rede und Gegenrede einübt (und damit die Grundhaltung des Pluralismus), die Spaß an Rhetorik weckt (und damit das Selbstbewusstsein stärkt), die in Rollenspielen trainiert, eine Meinung überhaupt zu bilden (und was der Unterschied zwischen einer Information und einem Argument ist), die Spaß an der Debatte, Freude am regelhaften Streit vermittelt. Dazu das historische und aktuelle Zusammenhangswissen.


Zur Verteidigung und Festigung der Demokratie sind nicht Gesetzesänderungen und immer neue Sonderregelungen nötig. Die Demokratie muss sich nicht billig machen, sondern attraktiv. Das Leitbild unserer Republik ist nicht der aufgeregte Daueraktivist. Jeder kann mitmachen, viele tun es, aber keiner muss.


Unsere parlamentarische Demokratie, inzwischen über ein halbes Jahrhundert erfolgreich, darf gern mehr Selbstbewusstsein entwickeln. Sie verdient Respekt. Und, im Ernst, sie macht dann am meisten Freude, wenn man die Spielregeln kennt. Jeder sollte sie, spielerisch, in der Schule lernen.

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