Einwanderungsland ohne Plan
Eigentlich gilt Deutschland als gut vermessen. Allein beim Statistischen Bundesamt sind 2.780 Mitarbeiter damit beschäftigt, Daten zu sammeln und aufzubereiten. Doch bei den Zukunftsthemen Einwanderung und Integration klafft in den deutschen Statistiken eine Lücke. Obwohl die Mehrzahl der Migranten hierzulande einen deutschen Pass besitzt, wurde bei der Datenerhebung bisher ausschließlich nach der Kategorie Staatsangehörigkeit differenziert. Erst der Mikrozensus 2005 ermittelte die überraschende Zahl, dass in Deutschland mehr als 15 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund haben.
Vielleicht sind also die Statistiker schuld daran, dass die öffentliche Integrationsdiskussion undifferenziert und zugleich abgehoben ist. Wer nicht weiß, worüber er genau spricht, muss abstrakt argumentieren. Da fechten die Feuilletonisten Grabenkämpfe aus entlang ideologisch aufgeladener Begriffe wie „Multikulturalismus“, „Assimilation“ und „deutsche Leitkultur“. Doch in der praktischen Frage, wie die Sprachförderung in den Schulen verbessert werden kann, ist Deutschland in den vergangenen Jahren kaum weiter gekommen.
Wird die Debatte dann einmal konkret, stehen die Probleme der Türken, der sozial schwachen Migranten, der angeblich integrationsunwilligen Einwanderer im Mittelpunkt, denen mit den Instrumenten der Sozialarbeit geholfen werden soll. Diese „Kreuzbergisierung“ der Integrationsdebatte wird der heterogenen Wirklichkeit von Zuwanderern aber keineswegs gerecht. Zu der Gruppe der Einwanderer gehören ehemalige Gastarbeiter und Spätaussiedler, Saisonarbeiter und ausländische Studierende, humanitäre Flüchtlinge und jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Außerdem verändern sich die Migrationsströme mit der Zeit. Kurzum: Integrationspolitik muss vielfältige Aufgaben lösen und darf nicht auf soziale Probleme reduziert werden.
Sonderprogramme und Pilotprojekte
Die deutsche Politik ist der strategischen Frage zu lange ausgewichen, wie Migranten besser integriert werden können – und zwar Neuzuwanderer ebenso wie diejenigen, die seit Jahren hier leben. Weil jahrzehntelang das Mantra galt, Deutschland sei kein Einwanderungsland, hat der Staat auf die Herausforderung nur punktuell reagiert: Die politische Verantwortung wurde in die Welt der Sonderprogramme und Pilotprojekte abgeschoben. So ist eine unübersichtliche Szene aus kleinen Initiativen und Integrationsmaßnahmen, eine regelrechte „Integrationsindustrie“ entstanden. Von dieser projektbezogenen Basisarbeit gehen zwar durchaus integrationspolitische Impulse aus, aber die strukturellen Probleme existieren weiter. Daran werden vermutlich auch die Integrationsministerien nichts ändern, die Nordrhein-Westfalen und Berlin jetzt eingerichtet haben – so sehr diese das Politikfeld auch stärken mögen. Denn als Querschnittsaufgabe betrifft das Thema zahlreiche Fachressorts gleichermaßen und erfordert an vielen Stellen institutionelle Reformen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeitsmarktpolitik. Seit Jahren fordern Ökonomen eine gesteuerte Zuwanderung nach Deutschland. Auch der aktuelle Migrationsbericht der OECD kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland zunehmend auf qualifiziertes Personal aus dem Ausland angewiesen sei, weil die Zahl der Erwerbstätigen bei uns stärker sinke als in den übrigen OECD-Ländern. Darüber hinaus müsse Deutschland die bereits hier lebenden Einwanderer besser in den Arbeitsmarkt integrieren – nicht nur aus sozialpolitischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen. Doch eine kohärente Arbeitsmarktstrategie in Bezug auf Einwanderer hat Deutschland bislang nicht entwickelt. Im Gegenteil: Der Zugang zu Beschäftigung wird vielen Migranten unmöglich gemacht.
So existieren nach wie vor zahlreiche rechtliche Hürden, die viele Einwanderer daran hindern, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Auch das novellierte Zuwanderungsgesetz hat diesen Zustand nicht grundsätzlich verbessert. Beispielsweise darf ein Maschinenbauingenieur, der aus Lateinamerika stammt und in Deutschland studiert hat, hierzulande nicht automatisch arbeiten. Nach seinem Studium hat er ein Jahr Zeit, eine Anstellung zu erlangen. Einen Job bekommt er aber nur, wenn weder ein deutscher Kandidat noch ein Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedslandes zur Verfügung steht. Doch sogar zwischen EU-Bürgern wird unterschieden: Wer aus den neuen Mitgliedsländern kommt, unterliegt der beschränkten Freizügigkeit und darf nur mit Sondergenehmigung in Deutschland arbeiten. Auch Einwanderer, die ihrer Familie nach Deutschland folgen („Familienzusammenführung“), können hier nicht ohne Weiteres arbeiten. Ohne deutschen Pass sind sie an den Aufenthaltsstatus des Ehepartners gebunden. Hat dieser keine Arbeitserlaubnis, gilt das auch für die neu zugewanderte Person.
Wo der bosnische Bäcker nicht viel gilt
Noch frustrierender als die aufenthaltsrechtlichen Barrieren sind die strukturellen Hemmnisse beim Zugang zum Arbeitsmarkt sowie der ignorante Umgang mit den beruflichen Qualifikationen vieler Einwanderer. Nicht selten scheitert die Arbeitsuche daran, dass die in der Heimat erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüsse nicht anerkannt werden oder die Anerkennung mit enormem bürokratischen und finanziellen Aufwand verbunden ist. Zudem werden die ausländischen Qualifikationen häufig abgewertet, wobei sich die Regelungen je nach Einwanderergruppe auch noch unterscheiden. Unübersichtliche Zuständigkeiten, fehlende Ansprechpartner sowie die starke Lobby der Berufsverbände gerade in den klassischen Handwerksberufen verhindern die Anerkennung eines bosnischen Bäckers oder eines türkischen Fleischers.
Hoch qualifiziert – und arbeitslos
Natürlich unterscheiden sich Berufsausbildungen in anderen Ländern inhaltlich und qualitativ von denen in Deutschland. Doch häufig fehlen den Einwanderern für die Berufsausübung nur bestimmte Teile der Ausbildung. Einer Lehrerin aus der ehemaligen Sowjetunion oder einer Krankenschwester aus Nigeria wäre am besten geholfen, wenn die Arbeitsagenturen oder Job-Center kompetente Beratungsstellen hätten, die sich mit den Qualifikationen und Fähigkeiten der Betroffenen konstruktiv auseinandersetzen und notwendige Anpassungs- oder Ergänzungsqualifizierungen vermitteln würden. Ein solch standardisiertes System der Berufsberatung und Nachqualifizierung existiert jedoch nicht. Die Folge: Entweder müssen die Betroffenen ihre Ausbildung ganz von vorne beginnen – oder sie sind gezwungen, eine ungelernte Tätigkeit anzunehmen.
Kein Wunder also, dass die Autoren der aktuellen OECD-Studie unter hochqualifizierten Migranten in Deutschland eine weit höhere Arbeitslosigkeit konstatieren als in den meisten anderen Ländern der OECD. Während die Arbeitslosenquote unter deutschen Akademikern im Jahr 2005 bei 5,9 Prozent lag, war sie unter ausländischen Akademikern mit 12,5 Prozent ungefähr doppelt so hoch. Bei den Spätaussiedlern sieht es noch schlechter aus: In dieser Gruppe liegt der Anteil arbeitsloser Akademiker sogar höher als bei Aussiedlern ohne Berufsabschluss.
Diese Befunde widersprechen dem weit verbreiteten Deutungsmuster, wonach die hohe Arbeitslosigkeit unter Einwanderern ausschließlich auf deren unterdurchschnittliches Qualifikationsniveau zurückgehe. Diese Erklärung ist auch deshalb unvollständig, weil das Bildungs- und Qualifikationsniveau zwischen unterschiedlichen Einwanderergruppen stark variiert. So hat eine in den neunziger Jahren durchgeführte Arbeitskräfteerhebung der EU ergeben, dass rund 62 Prozent der Einwanderer aus Gastarbeiterländern keinen oder nur einen niedrigen Bildungsabschluss hatten, während dies nur auf 22 Prozent der Einwanderer anderer Gruppen zutraf. Auch weitere empirische Studien weisen darauf hin, dass die neu zugewanderte ausländische Bevölkerung im Durchschnitt überproportional gut qualifiziert ist. So hatten im Jahr 2005 rund 9,3 Prozent der zugewanderten Ausländer einen akademischen Abschluss, aber nur 7,5 Prozent aller Deutschen.
Sprachkurse allein genügen nicht
Diese Tatsache darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch immer fast drei Viertel aller in Deutschland lebenden Migranten keine berufliche Qualifikation besitzen. Hier ist die berufliche Aus- und Weiterbildung gefragt. Doch an den staatlich geförderten Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit nehmen zu wenige Migranten teil. Im Jahr 2003 hatten nur neun Prozent aller Teilnehmer einen Migrationshintergrund, womit diese Bevölkerungsgruppe – im Vergleich mit ihrer Arbeitslosenquote – deutlich unterrepräsentiert war. Viele Migranten erhalten keinen Zugang zu den Maßnahmen, weil sie an den Altersobergrenzen oder anderen „vermittlungshemmenden Faktoren“ wie unzureichenden Sprachkenntnissen scheitern.
Die wenigen Teilnehmer mit Migrationshintergrund an der beruflichen Weiterbildung belegen vor allem berufsbezogene Deutschkurse. Dabei gilt es als erwiesen, dass Sprachkurse allein noch keinen positiven Effekt auf die Arbeitsmarktintegration von Einwanderern haben. Erst in Kombination mit einer guten beruflichen Qualifikation und möglichst frühem Kontakt mit dem Arbeitgeber führen sie zum Erfolg. In Ländern wie Schweden hat man das längst erkannt. Hier wurden Anreize für Unternehmen geschaffen, um Einwanderer einzustellen. Eine gute Möglichkeit sind Probearbeitsplätze, die im Gegensatz zu Praktika häufig zu einer Anstellung führen.
Im öffentlichen Leben fehlen die Einwanderer
Auch die im Zuge der Agenda 2010 geschaffenen arbeitsmarktpolitischen Förderinstrumente, wie das Fallmanagement, die fachspezifische Berufsberatung oder die individuelle Karriereplanung, sind nicht hinreichend auf die individuellen Bedürfnisse der Einwanderer zugeschnitten. So landen viele arbeitslose Migranten entweder in Kurzzeitmaßnahmen der Jobcenter oder, unabhängig von ihren fachlichen Kompetenzen, in niedrigschwelligen Integrationsprojekten. Viele dieser Aktivitäten haben eine geringe Erfolgsquote bei der Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Regelrechte Maßnahmekarrieren entstehen. Für viele Einwanderer endet der berufliche Weg hier. Andere nehmen eine Arbeit an, die weit unter ihrem Qualifikationsniveau liegt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Auf lokaler Ebene gibt es durchaus erfolgreiche Projekte, die die Bildungs- und Beschäftigungschancen von gering qualifizierten Einwanderern verbessern und viel zur Integration vor Ort beitragen. Häufig verbinden diese Angebote eine fachliche Qualifizierung mit sozialpädagogischer Betreuung, Unterricht in Fachdeutsch sowie Hilfe bei Bewerbungen und bei der Arbeitsuche. Doch allen Einzelerfolgen zum Trotz können sie eine flächendeckende, professionelle Berufsberatung oder Berufsqualifizierung gerade für die besser qualifizierten Migranten nicht ersetzen.
Ob Jobcenter, Arbeitsagenturen, berufliche Interessenvertretungen oder Berufsverbände – alle maßgeblichen Akteure müssen die speziellen Belange von Einwanderern stärker berücksichtigen, ihre Mitarbeiter fortbilden und, nicht zuletzt, ihrerseits Einwanderer beschäftigen. Solche strukturellen Anpassungen werden allerdings nur dann wirklich zum Erfolg führen, wenn der gesellschaftliche Nährboden dafür existiert. Und dazu gehört die Bereitschaft der gesamten Gesellschaft, Einwanderer als einen selbstverständlichen Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu akzeptieren.
Der Staat muss diesen Prozess aktiv fördern – und selbst eine Vorbildfunktion übernehmen. Denn die faktisch vorhandene Vielfalt spiegelt sich in Deutschland nicht im öffentlichen Leben wider: Schaut man sich in den staatlichen Institutionen um, findet man nur wenige Menschen aus Einwandererfamilien. Im Öffentlichen Dienst zum Beispiel beträgt der Anteil von Migranten schätzungsweise gerade einmal 3,4 Prozent, bei den Auszubildenden liegt er sogar noch niedriger. Es ist kaum zu glauben, dass eine aktive Personalpolitik zur Erhöhung des Anteils der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in den staatlichen Institutionen noch immer tabuisiert wird.
Auch hier zeigt sich: Gute Statistiken sind die Voraussetzung für zielgerichtete integrationspolitische Maßnahmen. Der Berliner Senat hat das verstanden. Als erste Landesregierung führte er ein Integrationsmonitoring ein, bei dem festgelegte Ziele anhand messbarer Indikatoren regelmäßig überprüft werden. Macht dieses Steuerungsinstrument in Deutschland Schule, könnte ein föderaler Wettbewerb um die beste Integrationspolitik entstehen. Die deutschen Länder sollten daran ein elementares Interesse haben. Regionen, die kulturelle Vielfalt positiv nutzen, profitieren von einer höheren Produktivität, stärkerem Wachstum und mehr Innovationen.